Inflation und Tarifpolitik in Zeiten des Krieges

Eingestellt, 21.2.23

21.02.2023

Die Inflation in Deutschland hat im Jahr 2022 Werte erreicht, wie sie die Bundesrepublik noch nicht erlebt hatte. Nach Preissteigerungen von jahresdurchschnittlich 7,9 Prozent in 2022 und einem Höhepunkt von 10,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat im Oktober sind in den Jahren 2023 und 2024 allmählich sinkende Inflationsraten zu erwarten. Die Prognosen der Bundesregierung und diverser Institute lauten auf jahresdurchschnittliche Preissteigerungen von etwa sechs Prozent 2023 und drei Prozent 2024 – wenn nichts Unvorhergesehenes passiert.

Dabei sind die Haushalte unterschiedlich stark von den Preissteigerungen betroffen. Das IMK in der Hans-Böckler-Stiftung ermittelt in seinem monatlich erscheinenden Inflationsmonitor1 die spezifischen Inflationsraten für verschiedene Haushaltstypen. Für Alleinlebende mit relativ hohen Einkommen verteuerte sich ihre Lebenshaltung um etwa sechseinhalb Prozent, für Familien mit mehreren Kindern und geringen Einkommen dagegen um knapp neun Prozent. Der Grund dafür ist, dass zwei Drittel der Preissteigerungen auf höhere Kosten für Haushaltsenergie, Nahrungsmittel und Kraftstoffe zurückgehen. Diese Güter des Grundbedarfs machen bei Haushalten mit niedrigeren Einkommen und Familien einen besonders hohen Anteil an den Lebenshaltungskosten aus. Im Einzelnen ist die Betroffenheit von der Teuerung daher noch erheblich höher, etwa bei Haushalten in schlecht gedämmten Wohnungen mit hohen Heizkosten oder bei Pendlern oder Haushalten in ländlichen Gegenden, die weite Strecken mit dem Auto zurücklegen müssen.

Die Ursachen der Preissteigerungen liegen vor allem in den höheren Preisen für importierte Energieträger, Nahrungsmittel und andere Rohstoffe, die sich dann stufenweise auch auf die Preise weiterverarbeiteter Produkte übertragen. Die Preissteigerungen setzten schon 2021 mit dem Wiederaufschwung des Welthandels und Engpässen nach dem Auslaufen pandemiebedingter Einschränkungen ein. Sie beschleunigten sich dann insbesondere in Europa enorm mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und den anschließenden massiven Wirtschaftssanktionen der USA und der EU. Auf dieser Basis führte Spekulation auf den entsprechenden Terminmärkten zu ex-tremen Preissprüngen, am heftigsten bei Erdgas in Europa, wo sich die Preise gegenüber 2021 phasenweise verzehnfachten. Mittlerweile sind die Preise wieder gesunken, aber durch den Wegfall preisgünstigen Pipelinegases aus Russland werden die Gaspreise hierzulande dauerhaft doppelt so teuer sein wie bis 2021. Auch elektrischer Strom wird dauerhaft deutlich teurer sein als bisher.

Dabei haben die EU-Länder den Weltmarkt für Flüssiggas leergekauft und insbesondere arme Länder in Süd- und Südostasien sowie Afrika in massive Versorgungskrisen gestürzt.2 Auch Nahrungsmittel- und Düngemittelimporte aus der Ukraine, Russland und Belarus wurden durch den Krieg in der Ukraine und den westlichen Wirtschaftskrieg stark eingeschränkt und verteuert. Es entspricht auch ihren unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen, dass die Länder des globalen Südens sich fast ausnahmslos nicht an der westlichen Sanktionspolitik beteiligen. Ohne diese Sanktionen wäre der Rest der Welt vom Krieg Russlands gegen die Ukraine wirtschaftlich kaum mehr betroffen, als er es von den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, im Nahen Osten oder in Afghanistan war. Oxfam weist darauf hin, dass sich in den letzten Jahren zum ersten Mal seit 25 Jahren nicht nur Ungleichheit und extremer Reichtum weltweit vergrößert haben, sondern auch extreme Armut wieder zugenommen hat.3

Auch in Deutschland haben zunächst die Pandemie und dann die Inflation sowie die zunehmende Knappheit an bezahlbaren Wohnungen in den Städten die sozialen Spaltungen und Probleme vergrößert. Besonders Mütter fühlen sich finanziell und insgesamt zunehmend belastet.4 Die Realeinkommen der Lohnabhängigen konnten 2020 und 2021 auch durch den Einsatz von Kurzarbeit zur Vermeidung steigender Arbeitslosigkeit gesichert werden. 2022 kam es infolge der starken Preissteigerungen dann aber zu heftigen Reallohneinbußen von durchschnittlich dreieinhalb Prozent. Die Tariflöhne lagen preisbereinigt sogar fast fünf Prozent niedriger als noch 2021. Dies resultiert daher, dass die in 2022 geltenden Tarifverträge überwiegend in den Vorjahren in Pandemiezeiten und bei niedrigen Inflationsraten und -erwartungen abgeschlossen worden waren.

In den Tarifrunden der letzten Zeit und den kommenden steht daher das Ziel der Reallohnsicherung, also des Ausgleichs der Inflation durch entsprechende tarifliche Entgeltsteigerungen, im Mittelpunkt. Steigerungen der Arbeitsproduktivität, die in höhere Reallöhne umzusetzen wären, sind in 2023 aufgrund der schwachen Wirtschaftsentwicklung ohnehin nicht zu erwarten. Aber auch die Reallohnsicherung wird kaum zu erreichen sein, und sicher werden die bereits eingetretenen Verluste nicht ausgeglichen werden können. Die Gewerkschaften haben daher im Jahr 2022 Druck gemacht, dass Entlastungsmaßnahmen des Staates die Kaufkraftverluste mindern. Dabei ist auch einiges erreicht worden, was aber nur eine Milderung der Verluste bedeutet.5 Der Ausgleich der kalten Progression und die Erhöhung des Kindergeldes durch das „Inflationsausgleichsgesetz“ sowie der höhere Regelsatz der Grundsicherung sind zudem nicht als besondere „Entlastungsmaßnahmen“ zu betrachten, sondern überwiegend „normaler“ Ausgleich der Inflation.

Die wichtigsten Entlastungsmaßnahmen mit Wirkung im Jahr 2023 sind die Gas- und die Strompreisbremse. Dadurch wird bis April 2024 ein Grundbedarf an Strom und Gas subventioniert auf einen Preis, der knapp doppelt so hoch wie der in 2021 liegt. Dadurch werden sich für viele Haushalte die Gas- und Strompreise „nur“ verdoppeln statt sich zu verdreifachen oder zu vervierfachen. Zu beachten ist, dass sich die Gas- und die Strompreisbremse in einer Senkung der Inflationsrate auswirken und auch bei den Prognosen für 2023 und 2024 schon einkalkuliert sind. Sie können also nicht, wie es die Arbeitgeber teilweise tun, als eine Maßnahme betrachtet werden, durch die sich ein Teil der mit Blick auf diese Inflationsraten geforderten Lohnsteigerungen erledigen würde.

Die Befreiung von „Inflationsprämien“ von bis zu 3.000 Euro pro Person von Steuern und Sozialbeiträgen ist eine weitere wichtige Entlastungsmaßnahme. Sie führt allerdings zu erheblichen Einnahmeverlusten der Sozialversicherung und ist daher durchaus zwiespältig zu bewerten. In den Tarifabschlüssen für die Chemie- und für die Metallindustrie im Herbst 2022 wurden diese Prämien genutzt, um die Nettorealeinkommen 2023 und 2024 zu stabilisieren. Aber auch einschließlich dieser Zahlungen liegen die Entgelte dann preisbereinigt deutlich unter denen von 2019. Die „Inflationsprämien“ sind zudem – ebenso wie die in den letzten Jahren vereinbarten Coronaprämien und sonstigen Einmalzahlungen – nicht tabellenwirksam, das heißt sie erhöhen nicht die Ausgangsbasis für künftige Tariferhöhungen. Diese fallen dann effektiv, wenn man ehrlich bezogen auf das gesamte Jahresentgelt rechnet, niedriger aus als die beim nächsten Mal vereinbarte Erhöhung. Und so wie die Zahlung der abgabenfreien Prämie dazu führt, dass sich die Nettoentwicklung etwas besser darstellt als Brutto, ist es dann in dem Folgejahr ohne Prämie umgekehrt. Die Abgabenbefreiung dieser Prämienzahlungen ist also durchaus ein vergiftetes Geschenk. Ihr Zweck seitens der Bundesregierung war, höhere tabellenwirksame Lohnsteigerungen zu vermeiden, und das wird auch erreicht.

Ziel der Regierung im Bündnis mit den Kapitalverbänden ist die Verhinderung einer angeblich drohenden „Lohn-Preis-Spirale“. Dass die bisherige Inflation damit nichts zu tun hat, kann angesichts der Faktenlage niemand ernsthaft bezweifeln. Aber klar ist, dass höhere Löhne, auch wenn sie nur die Reaktion auf höhere Preise sind, die Kosten der Unternehmen erhöhen und dass diese versuchen, die höheren Kosten wiederum in höhere Preise zu überwälzen. Höhere Lohnzuwächse könnten daher den absehbaren Rückgang der Preissteigerungsraten, weil die Energie- und Rohstoffpreise nicht weiter steigen, etwas abschwächen bzw. verzögern. Es bleibt aber dabei, dass es die Unternehmen sind, die die Preise festsetzen und dabei großen Wert darauf legen, eine möglichst hohe Gewinnmarge zu realisieren. Wie weit ihnen das gelingt, hängt von den ökonomischen Bedingungen und den Kräfteverhältnissen in den Lohnauseinandersetzungen ab. Es geht um einen Kampf darum, wer welchen Teil der Lasten der höheren Importpreise letztlich zu tragen hat, Lohnarbeit oder Kapital.

Tatsächlich gibt es Unternehmen und Wirtschaftsbereiche, die Gewinner der aktuellen Krisen sind. Neben der Rüstungsindustrie und den Mineralöl- und Gaskonzernen, die allerdings im Ausland sitzen, sind es Stromproduzenten, Paketdienste, aber nach einer Untersuchung des IFO-Instituts auch Landwirtschaft, Bau und Einzelhandel, die „die allgemeinen Preissteigerungstendenzen auch dazu genutzt zu haben, ihre Gewinne deutlich auszuweiten“.6 Dieser Befund kann allerdings nicht verallgemeinert werden. Die meisten Unternehmen, kleine und mittlere, aber auch viele größere, leiden selbst unter den höheren Kosten für Energie, Rohstoffe und Vorleistungen. Gesamtwirtschaftlich sind nach Abzug der Preissteigerungen nicht nur die Löhne, sondern auch Gewinne und Vermögenseinkommen gesunken – nachdem sie 2021 kräftig gestiegen waren.

Die absehbar dauerhaft höheren Energiepreise setzen weltmarktorientierte Unternehmen unter Druck, und die massiven Subventionen durch Bidens „Inflation Reduction Act“ machen Investitionen in den USA zusätzlich attraktiver gegenüber solchen in Deutschland. Das setzt auch die In-dustriegewerkschaften unter Druck, die sich zunehmend intensiv für verstärkte Subventionen der hiesigen Industrie einsetzen. Es droht ein Subventionswettlauf, von dem vor allem die Konzerne profitieren, und der die Finanzspielräume für sozialstaatliche Ausgaben zusätzlich einengt. Dass die privaten Haushalte dauerhaft mit staatlichen Geldern gegen steigende Energiekosten abgeschirmt werden, ist dagegen nicht zu erwarten. Nach einer hoffentlich baldigen Beendigung des Krieges in der Ukraine zu Handelsbeziehungen in beiderseitigem Interesse auch mit Russland zurückzukehren könnte die Lage entspannen.

Aktuell setzt die Tarifrunde bei der Post-AG neue Maßstäbe. Hier fordern die Beschäftigten 15 Prozent höhere Entgelte bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Und das ist nicht nur angesichts der Preissteigerungen und der geringen Löhne und hohen Belastung der meisten Postbeschäftigten berechtigt, ein hoher Abschluss ist auch machbar, da die Post-AG als Pandemiegewinner in den letzten Jahren weiterhin enorm hohe Gewinne erzielt. Und der gewerkschaftliche Organisationsgrad und damit die Durchsetzungsfähigkeit sind hoch. Ein guter Abschluss würde auch die größte und wichtigste Tarifrunde dieses Jahres, die im öffentlichen Dienst der Kommunen und des Bundes, beflügeln. Hier lautet die Forderung 10,5 Prozent mehr Geld, mindestens aber 500 Euro im Monat – was für große Teile der Beschäftigten deutlich mehr als 10,5 Prozent wären.

Diese Tarifauseinandersetzung wird sehr schwierig, ein Arbeitskampf, der erste Erzwingungsstreik im öffentlichen Dienst seit langer Zeit, ist nicht unwahrscheinlich. In vielen Bereichen ist die Motivation und Kampfbereitschaft der Beschäftigten sehr hoch. Positiv ist anzuführen, dass mit der hohen Inflation auch die Steuereinnahmen des Staates erheblich stärker wachsen als das zuvor prognostiziert worden war. Doch die weiterhin schwierige Finanzlage vieler Kommunen, die über das 100-Milliarden-Euro-„Sondervermö-gen“ zunehmend hinausgehenden Anforderungen für die Aufrüstung der Bundeswehr, die ideologische Festlegung auf die Einhaltung der Schuldenbremse ab 2023 und die Verweigerung der Bundesregierung und der Bundestagsmehrheit gegen eine erhöhte Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen lassen harten Widerstand gegen angemessene Entgelterhöhungen erwarten. Gut möglich, dass der Frühling 2023 heißer wird als es der Herbst 2022 gewesen ist.

1 https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008517.

2 Vgl. https://www.german-foreign-policy.com/
news/detail/9120 und die interessante Auswertung einer kleinen Anfrage zur Gasversorgungslage an die Bundesregierung: https://christian-leye.de/2023/01/26/energiepo
litik-der-bundesregierung-ist-wie-topfschlagen
-beim-kindergeburtstag/.

3 Vgl. https://www.oxfam.de/ueber-uns/publika
tionen/oxfams-bericht-sozialer-ungleichheit-umsteuern-soziale-gerechtigkeit.

4 Vgl. https://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_
2023_01_25.pdf.

5 Vgl. eine Übersicht der Maßnahmen im IMK-Report Nr. 179, Januar 2023, S. 14: https://www.imk-boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-008508.

6 https://www.ifo.de/publikationen/2022/auf
satz-zeitschrift/gewinninflation-und-infla
tionsgewinner.