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Vorsicht mit den „Modernisierern"/Alle Buchbesprechungen

von Johannes Schulten zu Frank Deppe
Dezember 2012

Vorsicht mit den „Modernisierern“

Frank Deppe, Gewerkschaften in der Großen Transformation, Von den 1970er Jahren bis heute. Eine Einführung, PapyRossa Verlag, Köln 2012, 148 S., 11,90 Euro

„Das Problem des spanischen Arbeitsmarkts ist, dass er so verriegelt ist. Diejenigen, die seit Langem drin sind, waren bisher geschützt, die anderen kommen nicht hinein.“ Dieses Zitat stammt nicht etwa von Angela Merkel oder Mariano Rajoy. Berthold Huber, Vorsitzender von Europas größter Gewerkschaft, der IG Metall, forderte am 15. September in der Süddeutschen Zeitung die Spanier zu mehr Reformen auf. Gewerkschaftslinke, die angesichts solcher Aussagen Unbehagen verspüren, könnten es sich einfach machen und Huber entgegenhalten, dass „Flexibilisierung“ noch nie geholfen habe und dies mit einem Verweis auf den deutschen Arbeitsmarkt nach der Agenda 2010 unterstreichen. Huber würde vermutlich denselben Vergleich anstrengen und hätte damit auch irgendwie recht: Trotz der Zunahme von Leiharbeit, Mini-Jobs etc. dürfte kaum ein Beschäftigter hierzulande mit dem Kollegen in irgendeinem anderen EU-Land tauschen wollen.

Die Situation ist einigermaßen paradox. Beinahe wöchentlich versuchen Gewerkschaften in Spanien, Portugal oder Griechenland die nächste Attacke auf den Lebensstandard ihrer Mitglieder mit Streiks oder Demonstrationen abzuwehren. Ihre deutschen Schwesterorganisationen profilieren sich derweil relativ erfolgreich als Krisenlöser – und machen sogar Reformvorschläge für andere Länder. Doch das Unbehagen vieler Linker mit dieser Situation hat seine Berechtigung. Diese Erkenntnis jedenfalls stellt sich nach der Lektüre des vom Marburger Politikwissenschaftler Frank Deppe verfassten Bändchens „Gewerkschaften in der Großen Transformation: Von den 1970er Jahren bis heute“ ein. Denn auch Deppe traut dem jüngsten Bedeutungsgewinn der deutschen Gewerkschaften nicht so recht über den Weg: „Gleichzeitig ist die Anerkennung der Gewerkschaften durch den Staat und das Kapital immer auch daran gebunden, dass diese auf systemoppositionellen Widerstand sowie auf soziale und politische Militanz verzichten und dabei radikale Kräfte in den eigenen Reihen domestizieren.“ (94) Die Erfolge in der Krise, heißt es weiter, seien überwiegend abhängig vom Erfolg des deutschen Exportmodells. Gerät dieses in den Sog der Krise, stehen IG Metall und andere Gewerkschaften ohne Hosen da.

Auch über diese gesunde Skepsis gegenüber aller „Auf-Augenhöhe-Politik“ hinaus kann Deppes kleine Gewerkschaftsgeschichte durchweg überzeugen: Der Autor gibt nicht nur einen kurzweiligen und pointierten Überblick über die Erfolge und Fehler der deutschen Gewerkschaften der vergangenen 30 Jahre. Er stellt diese immer in den Kontext der Erfahrungen in Ländern wie Frankreich, Italien und Großbritannien.

Der Band gliedert sich in drei Hauptkapitel: „Gewerkschaften in der Welt“ mit einer globalen Übersicht und theoretischen und historischen Exkursen zur Gewerkschafts- und Kapitalismus-Geschichte; „Gewerkschaften in Deutschland“ – hier geht es um den Umbau der bundesdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft, um die „Große Krise“ und die Reaktionen der Gewerkschaften; „Gewerkschaften in Europa“ – Themen sind die marktradikale Dynamisierung der EU-Integration, Euro-Krise und deutsche Hegemonie und das Verhältnis von Austeritätspolitik und Gewerkschaften. De facto wird die ganze Palette aktueller gewerkschaftspolitischer Themen auf dem Niveau der heutigen Internationalisierung des Kapitalismus abgehandelt.

Hintergrund für diese Entwicklung bildet, wie im Titel mit der von Karl Polanyi entliehenen „großen Transformation“ angedeutet, der Epochenwechsel vom fordistischen zum neoliberalen Kapitalismus im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Anders als in Frankreich oder England werden dessen Folgen für die Arbeitsbeziehungen in Deutschland jedoch erst in den 1990er Jahren virulent. Solche welthistorischen Entwicklungen lässt der Autor jedoch nicht als Entschuldigung für das Versagen Einzelner gelten: Mitgliederrückgang, geringe Lohnzuwächse, die sich besonders außerhalb der exportorientierten Industrien bemerkbar machen, Erosion des Tarifsystems und Zunahme von Leiharbeit sind für Deppe auch immer Folgen falscher Strategien und Fehlentscheidungen von Gewerkschaftskadern bzw. ihren Beratern. Dabei legt er ein besonderes Augenmerk auf die Rolle der Hans-Böckler-Stiftung sowie des „Hattinger Forums“, eine Art gewerkschaftlicher Think-Tank. Über den 1990 veröffentlichten Bericht „Jenseits der Beschlusslage“ heißt es: „Darin wird die notwendige Modernisierung der Gewerkschaften als Abschied vom Traditionalismus der sozialistischen Kapitalismuskritik und der Klassenkampforientierung, damit auch als Antwort auf die sozialökonomischen und kulturellen Umbrüche in der Arbeitswelt wie in den sozialen Beziehungen seit den 70er Jahren begründet.“ (68) Für Deppe gilt: Die Öffnung für neue Probleme ist essenziell, aber bitte dabei nicht die Klassenfrage aus den Augen verlieren.

Vor allem jüngere Leser und Leserinnen dürften ihre Freude an den Porträts und Anekdoten zu manchem leitenden IG-Metall- oder DGB-Funktionär haben, die Deppe wohl auch gespeist aus reichlich persönlicher Erfahrung in den Fußnoten genüsslich ausbreitet. So erfährt man, dass Walter Riester, bevor er als Arbeitsminister im ersten Kabinett Schröder seinen Teil zur Privatisierung des Rentensystems beitrug, während seiner Zeit im IG-Metall-Bezirk Stuttgart von der Springer-Presse als „U-Boot der Kommunisten“ diffamiert wurde. Oder dass ein Betriebsrat bei VW in Wolfsburg „über einen administrativen und wissenschaftlichen Apparat“ verfügt, „den hauptamtliche Gewerkschafter mit Respekt (manchmal auch mit Neid) zur Kenntnis nehmen“ (60).

Zudem bildet das Buch einen dankenswerten Kontrast zur im vergangenen Jahr erschienenen kleinen Gewerkschaftsgeschichte von Walter Müller-Jentsch. Der Bochumer Industriesoziologe, der wie Deppe aus der linken Gewerkschaftsforschung kommt, interpretiert die letzten 50 Jahre als eine gegenseitige, produktive Beeinflussung von Kapital und Arbeit hin zum gemeinsamen Konsens über die soziale Marktwirtschaft. Doch dieses voneinander „Beeinflussen“ beruhte weniger auf Einsicht, sondern war vielfach mit teils harter Disziplinierung der Linken innerhalb der Gewerkschaften verbunden. Etwa im Falle der Kampagne gegen die „kommunistische Unterwanderung“ durch die „Marburger Gewerkschaftsgeschichte“ von 1978, an deren Erstellung auch Deppe beteiligt war.

Für die nun hier vorliegende kleine Gewerkschaftsgeschichte bleibt zu hoffen, dass sie Eingang in den Kanon gewerkschaftlicher Bildungslektüre findet. Bei den Leserinnen und Lesern dürfte dann eine gewisse Skepsis geweckt werden, wenn das nächste Mal die Rede ist von notwendiger „Modernisierung“ der Gewerkschaften – oder vom „verriegelten“ spanischen Arbeitsmarkt.

Johannes Schulten

Marx und Marxismus

Eric Hobsbawm, Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus, Carl Hanser Verlag, München 2012, 448 S., 27,90 Euro

Am 1. Oktober 2012 ist Eric Hobsbawm 95-jährig verstorben. Die meisten Nachrufe waren eher oberflächlich und knapp gehalten und konnten nicht annähernd den Facetten- und Gedankenreichtum dieses Mannes erahnen lassen. Manche Autoren und Rezensenten schreiben, als ob sie sich noch mitten im Kalten Krieg befänden. Nicht wenige scheinen noch nicht realisiert zu haben, dass das Interesse an Marx und marxistischer Theorie seit etwa der Jahrhundertwende deutlich zugenommen hat.

Wenige Wochen vor seinem Tod erschien vorliegendes Werk, das – um zwei Kapital erweitert – 2011 bereits in London publiziert worden war. Wie der Untertitel andeutet, geht es um Beiträge aus der Zeit zwischen 1956 und 2009, die sich einerseits (Teil 1) mit der Entwicklung der Marxschen Theorie und andererseits (Teil 2) mit den historischen Wirkungen des Marxismus in verschiedenen Zeitabschnitten befassen.

Die im Teil 1 versammelten Arbeiten reichen thematisch vom Verhältnis von Marx und Engels zum vormarxschen Sozialismus, ihrem Verständnis von Politik, der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des „Kommunistischen Manifests“ und der „Grundrisse“ sowie der internationalen Editionsgeschichte des Gesamtwerks von Marx und Engels, welche nur aus den Wechselwirkungen mit den historischen und politischen Bedingungen, die in den jeweiligen Publikationsorten herrschten, zu verstehen ist. Neben zahlreichen interessanten Details und Zusammenhängen, die Hobsbawm aufdeckt und erläutert, scheint insbesondere die Nachzeichnung der historischen Veränderungen der Marx/Engelsschen Analysen und Thesen im Laufe von 40 bzw. 50 Jahren aufschlussreich, da dadurch gezeigt wird, dass keineswegs ein kompaktes homogenes Werk, sondern zahlreiche Zweideutigkeiten, Veränderungen der Auffassungen bis hin zu entgegengesetzten Meinungen zu bestimmten Problemen (sei es aus theoretischen, sei es aus historischen Veränderungen) allesamt anzutreffen sind. Die Frage, wie Marx und Engels – neben der Analyse der (ökonomischen) Rahmenbedingungen von Politik – diese selbst theoretisch zu konzipieren suchten, wird von Hobsbawm dahin gehend beantwortet, dass unter anderem institutionelle, rechtliche und lebensweltliche Dimensionen gesellschaftlicher Wirklichkeit weitgehend ausgeblendet blieben, obwohl diese für die politische Aktivität, die Organisierung der Arbeiterklasse, die Übernahme der politischen Macht usw. unbestreitbar eine wesentliche Rolle spielen. Diese für die Vermittlung von ökonomischen Grundstrukturen (und den daraus folgenden Zwängen) mit der für das jeweilige politische Handeln zentralen „Zwischendimension“ wird von Hobsbawm als von Marx und Engels nur „lückenhaft“ bearbeitet identifiziert. Andererseits sei aber mit der Zurückhaltung von Marx und Engels bezüglich konkreter Revolutionsprognosen und nachrevolutionärer Zustandsbeschreibungen eine gewisse Offenheit und eine Absage an einen „ahistorischen Voluntarismus“ einhergegangen.

Im Beitrag über das „Kommunistische Manifest“, der 1998 anlässlich des 150. Jahrestags seiner Veröffentlichung verfasst wurde, zeigt Hobsbawm Entstehungsgeschichte, Verbreitung und Wirkungen dieser Schrift auf sowie in welchem Maße bestimmte Prognosen einen „visionären Weitblick“ und „Einsicht in die unvermeidliche historische Tendenz der kapitalistischen Entwicklung“ verraten, wie es wohl kein anderes historisches Dokument aus den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu leisten vermochte; was allerdings nicht ausschließt, dass es zugleich Passagen enthält, deren Voraussagen sich mehr den Hoffnungen und Wünschen der Verfasser verdankten als, dass sie sich zwingend aus der Analyse ergeben hätten.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den Wirkungen und Einflussmöglichkeiten des Marxismus vor allem in Europa in bestimmten Perioden. Während er im England des Viktorianischen Zeitalters auf Distanz und Ignoranz stieß, konnte er sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg in Kontinentaleuropa, besonders in Deutschland, Österreich, Italien, den Niederlanden, weniger in Frankreich (aber auch in Osteuropa und vor allem in Russland unter schwierigen Umständen) wachsender Beachtung erfreuen. Rezeption, Verbreitung, teilweise politische Wirksamkeit und sogar theoretische Weiterentwicklung waren hierin eingeschlossen. Darüber hinaus zeigt Hobsbawm, wie die Ausbreitung des Marxismus auf die Philosophie, auf bestimmte Wissenschaften (z.B. Ökonomie, Geschichte, Soziologie) wirkte und wie der Marxismus „Eingang in die allgemeine Kultur der Moderne“ (175), z.B. auch die Kunst jener Zeit fand. Dabei skizziert er, wie diese Diffusion des Marxismus in den verschiedenen europäischen Ländern vonstattenging. In den weiteren Kapiteln mit der gleichen Fragestellung bezüglich anderer Zeiträume (1929-1945; 1945-1983; 1983-2000) weitet er den Blick auf außereuropäische Länder aus. Diese Beiträge (außer dem letzten) stammen aus der Zeit Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre und waren Teil eines mehrbändigen italienischen Projekts über die „Geschichte des Marxismus“, weswegen sie in ihrem Bemühen, flächendeckend Auskunft zu geben, einen gewissen enzyklopädischen Charakter tragen.

Die vier hauptsächlich untersuchten Zeitabschnitte bilden im Prinzip die Abfolge: Aufstieg, Verbreitung und Konsolidierung, Höhepunkt und Niedergang in Bezug auf politischen Einfluss und intellektuelle Attraktivität des Marxismus ab; wobei vielfältige externe, allgemeine politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie theorieimmanente Dynamiken bzw. Defizite diese Wellenbewegung determinierten. Den Höhepunkt des Einflusses des Marxismus sieht Hobsbawm in den 1970er Jahren. Zwischen 1983 und 2000 konstatiert er einen „Rückzug des Marxismus“ sowohl im praktisch-politischen wie im Theoriebereich. Ausgelöst oder verstärkt durch die Schwäche und dann den Zusammenbruch des „Realsozialismus“, durch sozialstrukturelle Veränderungen, die Globalisierung und Liberalisierung, eine theoretische Hinwendung zu postmodernen/poststrukturellen Denkmustern, die teilweise auch als Antwort auf Defizite in der Weiterentwicklung der marxistischen Theorie anzusehen seien. Ob ein sich um die Jahrhundertwende andeutendes „Comeback“ des Marxismus eine durchschlagende Wirkung entfalten kann, lässt er offen.

Aus dieser Systematik fallen die beiden – sehr lesenswerten – Analysen über Antonio Gramsci etwas heraus, doch werden die Kernelemente von Gramscis Werk und dessen Wirkung (vor allem in den 1970er und 1980er Jahren) in den Kontext linker Theoriekultur eingebettet. Vor dem Hintergrund der zuvor bezeichneten „Lücken“ im Werk von Marx und Engels sieht er „Gramscis Hauptbeitrag zum Marxismus darin, als einer der ersten eine Theorie der marxistischen Politik vorgelegt zu haben“ (289).

Auch in seinem letzten Buch präsentiert sich Hobsbawm als äußerst informativer, anspruchsvoller und dennoch gut lesbarer Autor.

Jede Lektüre ist ein stilles Gespräch zwischen Leser und Autor. Es stimmt traurig, dass von nun an kein weiterer Austausch über neue Themen und Probleme mit einem Autor stattfinden kann, der uns über Jahrzehnte hinweg begleitet hat.

Dieter Boris

Gott aus der Hölle geholt

Domenico Losurdo, Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. Mit einem Essay von Luciano Canfora. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer, PapyRossa Verlag, Köln 2012, 451 S., 22,90 Euro

Losurdos jetzt in deutscher Übersetzung vorliegendes Buch erschien 2008 auf Italienisch. Es ist keine Stalinbiographie und auch keine systematische Analyse der als „Stalinismus“ benannten Phänomene sowjetischer Herrschaft, sondern zuvörderst eine Auseinandersetzung mit dem „Schwarzbuch des Kommunismus“. Der Autor zerpflückt und widerlegt einige der ungeheuerlichen Verfälschungen und Erfindungen, von denen dieses Schwarzbuch nur so strotzt. Dabei macht er ausgiebig Gebrauch vom Prinzip „tu quoque“ (du auch): Alle dem Kommunismus von seinen Gegnern unterstellten Verbrechen weist er auch den kapitalistischen Hauptmächten in den Kolonialkriegen und anhand ihrer Kriegführung im Ersten und Zweiten Weltkrieg nach. So entsteht im Gegenzug partiell ein Schwarzbuch der Verbrechen des Kapitalismus. Die Crux dieser Destruktion liegt allerdings darin, dass Losurdo glaubt, eine Ehrenrettung des Kommunismus sei nur möglich, wenn die heute vorherrschende schwarze Legende von Stalin als einem Zwillingsmonster Hitlers erneut durch eine weiße, also eine Heldenlegende, substituiert wird, die nun Stalin wieder als einen umsichtigen Realpolitiker in jeder Phase und auf jedem Felde der Gesellschaftspolitik präsentiert. Das Buch enthält mehrere Stränge, die partiell divergieren. Die Rekonstruktion der Genese und Funktionsweise der schwarzen Legende erfolgt en détail erst in der zweiten Hälfte des Buches, wobei Losurdo sich von psychopathologischen und moralistischen Varianten absetzt. Zuvor versucht er, den widersprüchlichen Verlauf der Ära Stalins zu umreißen und Ursprünge des „Stalinismus“ in der Geschichte Russlands zu benennen. Ein paralleler, nahezu selbständiger Strang ist eine Polemik gegen Trotzki; es hat den Anschein, als sehe Losurdo sich in der Pflicht, alle von der Stalinfraktion gegen Trotzki geführten Kämpfe noch einmal literarisch durchzufechten.

Um die schwarze Legende zu destruieren, ist der Autor gezwungen, sich auf die sowjetische und die internationale Geschichte einzulassen. Obgleich er die Genese dieser Legende als Umpolung eines zuvor positiven Stalinbildes historisch rekonstruieren will, geht er an die sowjetische Geschichte höchst einseitig heran. Er lässt sich nicht ernsthaft auf diese Geschichte ein: Losurdos entscheidender Mangel besteht im Verschweigen erforschter und bekannter Sachverhalte, die seiner Interpretation widersprechen, in zweiter Linie kommen eigene Erfindungen hinzu. Hier kann nur auf einige wesentliche Sachverhalte verwiesen werden.

„Barbarossa“: Die Niederlagen im Jahre 1941: Losurdo lobt Stalin wegen seiner Realpolitik. Davon macht er keine Ausnahme, selbst nicht, wo Stalins Politik geradezu surrealistisch war und zu Verbrechen oder Katastrophen führte. So bescheinigt der Autor Stalin eine „umsichtige militärische Führung“ auch nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22.6.1941. Stalins folgenreiches Misstrauen in die Meldungen eigener Kundschafter wie Richard Sorge, deutscher kommunistischer Überläufer oder Winston Churchills über den Zeitpunkt des Überfalls rechtfertigt der Autor: Die Rote Armee sei richtig und ausreichend auf diesen Aggressionskrieg vorbereitet und entsprechend den Erfordernissen mobilisiert worden. Die Enthauptung der Roten Armee 1937 und deren langfristige Folgen für die Handlungsfähigkeit des unerfahrenen, furchtsamen, unselbständigen Kommandeursbestandes kommen nicht vor. Da mit Tuchatschewskis Ermordung auch dessen strategische militärische Orientierung abgebrochen worden war, erfolgte die Wiederaufnahme der Rüstungsorientierung auf Panzerwaffe und Bewegungskrieg nur partiell und viel zu spät. Die Verhinderung, ja Blockierung der erforderlichen Dislozierung und Mobilisierung der Truppen vor dem Überfall durch Gegenbefehle ignoriert Losurdo ebenso wie die Zerstörung der (nicht verlegten) Flugzeuge am Boden. Die widersinnigen Angriffsbefehle nach dem 22. Juni, die das Chaos der unmittelbar betroffenen Westfront potenzierten, sind, suggeriert Losurdo, Phantasien Chruschtschows. Dieser habe in seiner Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU „auf den spektakulären anfänglichen Siegen des Invasionsheeres“ „bestanden“. (31) Also gab es diese Siege nicht? Nicht Stalin, sondern General Pawlow und sein Stab wurden erschossen, als die Westfront im Chaos versunken war. Losurdo aber lobt die umsichtige und adäquate militärische Führung. Stalin habe die Rote Armee gut geführt und die war „recht gut“ vorbereitet“ (40). Die Niederlagen des Jahres 1941 wettzumachen kostete Millionen Sowjetsoldaten das Leben und erforderte die äußersten Anstrengungen des Volkes. Losurdo spricht von Desinformationskampagnen: Desinformation setzt informative Klarheit voraus, doch davon kann hier keine Rede sein, der Autor ignoriert einfach den Forschungsstand der Weltkriegsgeschichte.

Spekulationen als Realität: Bürgerkrieg: Losurdo nimmt die bisher beste Analyse der Politik des Stalinschen Massenterrors durch Wadim Rogowin1 zum Ansatz einer groben historischen Verfälschung. Stalin konnte seine autokratische Herrschaft erst durchsetzen, nachdem er den Bolschewismus als politische Bewegung vernichtet hatte. Stalins Herrschaft war eben keine Fortsetzung des Bolschewismus, auch keine amputierte oder verkrüppelte Variante. Vielmehr ersetzte der Stalinismus den Bolschewismus. Die Auseinandersetzung erfolgte nicht politisch, ideologisch oder gar theoretisch, sondern physisch: Die Leninsche Garde des Bolschewismus und die linke Opposition gegen Stalin wurden erschossen. Ein kleiner Teil nach den drei großen Schauprozessen, die meisten ohne öffentlichen Prozess.

Losurdo rechtfertigt dies, indem er den politischen Kampf der linken Opposition gegen Stalin zum potentiellen Bürgerkrieg erklärt. Die Begründung ist simpel: Jahrzehntelang im illegalen Kampf gegen das zarische Regime geschult, organisierten sich die Gegner Stalins selbstverständlich auch geheim. Außerdem hätten sie alle Lenins „Was tun?“ gelesen und beherzigten Lenins Ratschläge. Losurdo nimmt Spekulationen von Malaparte oder Ruth Fischer für Realitäten, wenn er den von ihm selbst als potentiell apostrophierten Bürgerkrieg unter der Hand zum realen erklärt und mit diesem Taschenspielertrick die Massenverbrechen der großen Tschistka rechtfertigt. (88) So fiktiv der angebliche Bürgerkrieg der Bolschewiki gegen Stalin war, so real war der Bürgerkrieg als Mordfeldzug von oben gegen den Bolschewismus und seine Träger, gegen Millionen zu „Volksfeinden“ erklärte Sowjetbürger und gegen Hunderttausende ausländische Kommunisten.

Horror: „Horror“ nennt Losurdo die Politik des Massenterrors und der Massenverbrechen. Und doch ist diese Kennzeichnung unzureichend, ja verharmlosend, weil sie zwar die zerstörerischen politisch-moralischen Folgen für die Menschen in der UdSSR der 1930er Jahre einräumt, nicht aber begreift, dass damit die nachrevolutionäre Gesellschaft in ihren Grundfesten verändert wurde. Die „Rekruten des Jahres 1937“ blieben schließlich bis zum Untergang der UdSSR an den Schaltstellen der Politik und verhinderten das Überleben der Sowjetmacht. Zur Jeshowschtschina und zur Welt des GULAG gibt Losurdo nur ein paar lapidare Bemerkungen am Rande. Stalins Rolle dabei wird nicht thematisiert. Signifikant sind zwei Aspekte seiner Stellungnahme:

1. Methodisch folgt Losurdo einem personalistischen Geschichtsverständnis. Alle Leistungen, alle Erfolge des Sowjetvolkes schreibt er Stalin gut, die Industrialisierung des rückständigen Landes ebenso wie den weltgeschichtlichen Sieg über die Naziaggressoren im Zweiten Weltkrieg. Geht es um die Schattenseiten, Mißerfolge und Verbrechen, lastet der Autor sie der Massengrausamkeit des Volkes an, in erster Linie den Bauern.

Seine These, die Grausamkeit gehe von den Massen aus, stützt Losurdo auf Orlando Figes Sozialgeschichte der russischen Revolution2, dessen Forschungen die verbreitete Auffassung von der weitgehend unblutigen Februarrevolution widerlegen. Zahlreiche Zitate aus Figes Buch bezeugen die anarchische Elementargewalt der bäuerlichen Revolution und deren historische Wurzeln, doch sie belegen nicht die These, die Grausamkeiten des Terrors der 1930er Jahre gingen von den Massen aus. Auch der faktisch permanente Ausnahmezustand stützt dies nicht. Ohne Zweifel richtig ist es, dass auch der Terror der Jeshowschtschina eine Massenbasis und Massenunterstützung hatte – und Massen von Nutznießern. Die Zahl der berüchtigten „Rekruten des Jahres 1937“ ist Legion. Dennoch bleibt unbestritten, dass Stalin die Listen der zu Erschießenden zu Zehntausenden persönlich abzeichnete und regionale bzw. örtliche Organe die Sollziffern für zu entlarvende und zu erschießende „Volksfeinde“ nicht selbst erstellten, sondern vorgegeben bekamen.

2. Zwar vermeidet es Losurdo, die in den Moskauer Schauprozessen erhobenen phantastischen Anklagen und Schuldbekenntnisse alter Bolschewiki – von Mordanschlägen, Terrorakten bis zu feindlicher Agententätigkeit –, die damals alle Welt verblüfften, zu erwähnen. Doch die gleichfalls stets zur Hand gewesenen Sabotagebeschuldigungen sind ihm schon mehr als wahrscheinlich. Und geradezu idyllisch zeichnet der Autor die Wirklichkeit des Lagersystems für die Jahre bis 1937. Man ist geneigt, sie nicht für mörderische Strafarbeitslager, sondern tendenziell für Erholungsheime zu halten, die Zivilisation in abgelegene Regionen brachten. Bis 1937 seien die Insassen als potentielle „Genossen“ behandelt worden. In Wirklichkeit waren sie zu „Volksfeinden“ erklärt und als solche verurteilt worden. „Volksfeinde“ aber galten den Funktionären des Gulag für schlimmer als die „sozial nahen“ Kriminellen, die faktisch diese Lager beherrschten.

Theoretiker und Praktiker der nationalen Frage: Losurdo lobt Stalin als marxistischen Theoretiker und demonstriert das an zwei Leistungen, mit denen sein Held geglänzt habe, an der nationalen Frage und der Sprachwissenschaft. Beschränken wir uns auf den ersten Punkt. Bekanntlich schrieb Stalin sein 1913 erschienenes Buch „Der Marxismus und die nationale Frage“ nach Instruktionen Lenins, die er bei einem Besuch in dessen Exilort Poronin eingeholt hatte. Wie wenig Stalin die 1913 niedergeschriebenen Positionen in der nationalen Frage wirklich vertrat, zeigte er als Volkskommissar für Nationalitätenfragen (seit 1917), in den nationalen Konflikten, die im Prozess der Gründung der Union auftraten, in der Ermordung der kompletten Führung der Kommunistischen Partei Polens 1936-1937, in den sog. nationalen Operationen seit 1937, die ganze Völkerschaften umsiedelten und die Führungen der kommunistischen Parteien dieser Völker umbrachten.

Als russifizierter Nichtrusse vertrat Stalin den großrussischen Chauvinismus radikaler als viele Großrussen. Von besonderer Pikanterie ist in dieser Hinsicht ein vergiftetes Lob Losurdos: Stalin habe im Sommer 1920, als sich die Rote Armee unter Tuchatschewski auf dem Vormarsch nach Warschau und ihre Südwestfront unter Jegorow und Stalin auf dem Wege nach Lwów befanden, „auf die großen Gefahren hingewiesen, die sich aus dem tiefen Eindringen in polnisches Territorium ergaben“. (61) Dies richtet sich gegen Lenin, der mit der Mehrheit des Politbüros den Vormarsch auf Warschau befürwortet hatte und eine künftige polnische Regierung vorbereiten ließ. Stalins Warnung entsprang nicht der Einsicht, dass ohne Revolution der polnischen Arbeiter und Bauern jeder Revolutionsexport widersinnig war, sondern Stalins Disziplinlosigkeit: Unter seinem Einfluss weigerte sich Jegorow, dem wiederholten Befehl Tuchatschewskis zum Anschluss an die Hauptkräfte der Roten Armee vor Warschau Folge zu leisten: Sie wollten lieber die ersten Befreier Lwóws sein als die zweiten in Warschau. Tuchatschewski hat bei seinen militärtheoretischen Vorlesungen nicht versäumt, die schlimme Niederlage von 1920 als Folge der Disziplinlosigkeit Stalins zu geißeln.

„Allumfassende Komparatistik“? Losurdo nennt seine Methode „allumfassende Komparatistik“. Er verweist in bezug auf mehrere Sachverhalte, so beim Antijudaismus, beim Massenterror, Umsiedlungen ganzer Völker, den Lagern u.a. auf gleiche oder ähnliche Erscheinungen in der kapitalistischen Welt, seien sie gleichzeitig mit der Stalin-Ära oder ihr vorausgegangen. Explizite, analytische Vergleiche unternimmt er jedoch in keinem einzigen Fall. Da er kein Etalon bestimmt, noch explizit vergleicht, bringt er es im besten Fall zu Analogien. Losurdo verfährt weder explizit komparativ noch allumfassend.

Für einen Historiker sind die historischen Tatsachen, in diesem Fall die Handlungen Stalins, Grundlage seiner Urteile. Für Losurdo sind die historischen Grundlagen der schwarzen Legende Stalins nicht dessen Verbrechen, sondern allein Chruschtschows Rede von 1956, mit der dieser „den Gott in die Hölle stürzte“. Indem er Chruschtschows Rede für unglaubwürdig erklärt, will Losurdo zugleich den XX. Parteitag der KPdSU zurücknehmen. Die analytische Schwäche von Chruschtschows Rede ist unbestritten, der Kult um die Person Stalin kann weder dessen politische Fehler noch seine Massenverbrechen zureichend erklären. Doch für keines der in dieser Rede benannten Verbrechen Stalins kann Losurdo behaupten, es habe sie nicht gegeben. Chruschtschow hat in dieser Rede kein einziges Verbrechen Stalins erfunden oder erlogen.

Der Autor bedient sich zahlreicher Zitate vorwiegend konservativer, antikommunistischer westlicher Politiker und Denker, um seine eigene Bewertung Stalins auszusprechen. Dabei sagt er nie, wann und warum z.B. Churchill als Ruhmredner Stalins auftrat und wann nicht. Fatal wird diese Zitierweise, wenn Losurdo mit den Zitaten unbesehen auch die Analyseraster und Bewertungsmuster revisionistischer Historiker wie z.B. Jörg Friedrich übernimmt. Noch fataler wird es, wenn er Goebbels zitiert. (40)

Zur deutschsprachigen Ausgabe: Die Liste der zu beklagenden historiographischen Mängel des Buches hat für den deutschen Leser noch einen besonderen Akzent. So unterstellt Losurdo, die „Endlösung der Judenfrage“ hätte erst nach dem Steckenbleiben des Unternehmens Barbarossa (273) begonnen, in Wirklichkeit begann sie mit dem Überfall. Hitler figuriert im Text als Führer, ohne Anführungsstriche (36, 233). Die Nürnberger Prozesse werden als Siegerjustiz denunziert, was sie zweifellos auch waren, aber nicht darin besteht ihre welthistorische Bedeutung. Hinsichtlich des Bombenkrieges der Alliierten gegen Deutschland übernimmt Losurdo umstandslos die Wertungen des Geschichtsrevisionisten Jörg Friedrich. Gleiches gilt für die Umsiedlung jener „Volksdeutschen“ aus den von der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges besetzten Ländern, deren Völker diese Deutschen wegen ihrer Rolle für die Okkupationsherrschaft nicht mehr ertragen wollten und sie verjagt haben. Sie figurieren bei Losurdo als Bezugspunkt für Stalins sog. nationale Operationen 1937.

Eine Rückkehr zur Heldenfigur Stalin taugt nicht für die beabsichtigte Ehrenrettung des Kommunismus.

Werner Röhr

Globaler Führungsanspruch

Zbigniew Brzezinski, Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power, Perseus Books, New York 2012, 208 S., 16,95 Euro

Der Klappentext bringt die Zielrichtung dieses jüngsten vom ehemaligen Sicherheitsberater des Präsidenten Jimmy Carter verfassten Buches treffen auf den Punkt: „Brzezinski liefert ein Konzept für Amerika mit dem Ziel, seine Stellung als globale Macht zu revitalisieren und ein friedliches 21. Jahrhundert zu gewährleisten.“ Impliziert wird damit, dass die USA zumindest im Begriff sind, ihren globalen Führungsanspruch zu verlieren. Dies suggerieren bereits die vier Leitfragen, die der Autor beantworten will:

(1) Was sind die Folgen der sich verändernden globalen Machtverteilung? Diese wird also bereits als gegeben hingenommen. (2) Warum schwindet die Attraktivität Amerikas, wie hat es die Chancen vertan, die sich aus dem friedlichen Ende des Kalten Krieges ergaben? (3) Was wären die geopolitischen Folgen, wenn Amerika seine Führungsrolle verlöre? (4) Die daraus folgende Politikempfehlung.

Hart geht der Autor mit den jüngsten Entwicklungen in den USA ins Gericht: die nicht mehr bezahlbare Verschuldung, die Verwundbarkeit des amerikanischen Finanzsystems, die immer krasser werdende Ungleichheit der Einkommensverteilung, das leistungsschwache Erziehungswesen, die zerfallende Infrastruktur, das schrumpfende wirtschaftliche Wach­s­­tum, die weit verbreitete Ignoranz der Amerikaner bezüglich des Rests der Welt,[1] und daraus folgend, dass die Amerikaner deshalb immer anfälliger werden für manichäische Demagogie. Diesem fast schon fatalen Befund stellt er verbleibende („residuale“) Stärken gegenüber, die zum Erhalt amerikanischer Größe beitragen können. Diese sind (noch immer) wirtschaftliche Stärke, innovative Potenziale, demographische Dynamik, wobei er vor allem auf die Immigration als zentrale Ursache für diese Stärken verweist: Die Immigrationsrate ist noch immer doppelt so hoch wie in den europäischen Kernländern – nicht zu vergessen: Brzezinski emigrierte selbst als Kind aus Polen. Ferner nennt er die geopolitische Lage des Kontinents, die direkte territoriale Bedrohungen ausschließt und die noch immer gültige Attraktivität der american values. Diese Trümpfe liefern „ein machtvolles Sprungbrett für die historische Erneuerung, deren Amerika so dringend bedarf“ (63).

Ausführlich geht er mit der amerikanischen Außenpolitik seit Ende der Bipolarität ins Gericht. Als erstes nennt er das Versagen der USA im israelisch-palästinensischen Konflikt seit 1967. Es folgt geradezu ein Sündenregister vor allem der Regierungen von George W. Bush: der Krieg in Afghanistan (2001), die Unterstützung für Ariel Sharon bei der Zerschlagung der PLO (2002) und der Krieg gegen den Irak (2003). Die Kriege in Afghanistan und gegen den Irak wurden die längsten in der amerikanischen Geschichte. Sie waren unsinnig und hätten vermieden werden sollen. Doch schlimm sind nicht nur die Kriege an sich: Die schwammige Definition von „Terrorismus“ fügte diesen Kriegen „eine rassistische und religiöse Dimension bei, die Amerikas demokratische Glaubwürdigkeit trübte“ (69).

Brzezinski scheint geradezu getrieben von einem möglicherweise abrupt bevorstehenden american decline: Das Zusammenfallen einer sich ausweitenden Wirtschafts- und Finanzkrise mit einem verstärkten weltweiten militärischen Engagement könnte schon in wenigen Jahren Amerikas Vorherrschaft beenden. Das negative Zusammenwirken der oben aufgelisteten Faktoren könnte zu erratischen innenpolitischen Entscheidungen führen und damit zugleich die Glaubwürdigkeit der USA auf internationaler Ebene unterminieren. Und selbst wenn die USA im Inneren sich erholen würden, könnten solche Erfolge in Frage gestellt werden durch weitere militärische Abenteuer – etwa in Iran oder Pakistan, durch die die absteigende Großmacht in militärische Auseinandersetzungen mit „einer wachsenden Zahl von (bisweilen selbst geschaffenen) Feinden“ verwickelt würde (74). So erinnert dieser Befund an Paul Kennedys damals viel beachtete Studie über den Aufstieg und Fall der großen Reiche.[2]

Nicht zufällig überschreibt er den dritten Teil seiner Studie „The World after America: By 2025, not Chinese but Chaotic.“ Wenn, und dieses „wenn“ wird dick unterstrichen, die USA ihre Führungsrolle einbüßen, wird es keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben: Es folgt eine Neben­einanderstellung verschiedener Allianz- und Konfliktszenarien, die sich alle um die großen asiatischen Mächte ranken: Indien, China, Russland, Japan und ihre Trabanten. Besondere Aufmerksamkeit widmet Brzezinski aber auch dem Nahen und Mittleren Osten und vor allem dem Verhältnis der USA zu Israel, das er keineswegs als unverbrüchlich sieht, denn diese Unterstützung leitete sich eher von moralischen Gefühlen als von realistischen Analysen ab. Auch die alt-neuen Partner auf der Arabischen Halbinsel[3] sieht er in der Folge der arabischen Revolten und der sich dort zuspitzenden inneren Konflikte als wenig stabil. Daraus folgert er: „Amerikas Abgleiten in internationale Impotenz … würde den Umfang internationaler terroristischer Aktivitäten nicht nennenswert beeinflussen“, denn das für ihn ohnehin schwammige Phänomen des Terrorismus beziehe sich in erster Linie auf innere Probleme der Staaten (100).

Dieses Buch ist eine absichtsvolle Politikempfehlung an die kommenden Administrationen im Weißen Haus: Da die (vor allem militärische) Hegemonie der USA zu Ende geht, werden die USA nur dann weiterhin eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielen können, wenn sie die einzige Chance nutzen, mit den verbleibenden Mitteln eine ausgleichende und versöhnende Politik zu betreiben. Voraussetzung dafür ist die Vertiefung der Beziehungen mit und zwischen den westlichen Staaten und die Einbeziehung Russlands in die westliche Hemisphäre. Auf solcher Grundlage könnten die USA in Asien, das indirekt als Kontinent der Zukunft erscheint, durch Ausgleich und Vermittlung Stabilität fördern. Doch eine solche Rolle und die daraus resultierende friedlichere Weltordnung hänge davon ab, dass die USA „sich selbst erneuern und weise als Förderer und Garant eines wieder belebten Westens“ handeln (192).

Brzezinski hat eine faszinierende Analyse und eine spannende Vision zumindest für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts vorgelegt. Dabei wäre es sicherlich falsch, seine Absage an das Militär als Instrument von Machtpolitik als die Verwandlung des Erfinders der Carter-Doktrin[4] in einen Pazifisten zu verstehen. Nein: Brzezinski bleibt im Kern seinem außenpolitischen Ansatz treu: Er ist und bleibt Realist, Macht ist also weiterhin seine zentrale Kategorie. Und er ist und bleibt Geopolitiker: Dies unterstreichen insbesondere seine Visionen für eine auf Kooperation, Respekt und Ausgleich basierende Weltordnung. Sein kluger Realismus kommt zu dem Ergebnis, dass der Abstieg der USA unvermeidlich ist. Also muss es darum gehen, mit den verbleibenden Mitteln einer soft power Einfluss zu behalten in einem Konzert der Mächte, das sich neu formiert und dessen Schwerpunkt sich geopolitisch verlagert. Gerade aus dieser „realistischen“ Sicht resultiert seine scharfe Kampfansage an die Vertreter jenes Project for a New American Century, die die Außenpolitik vor allem des zweiten Bush bestimmten und die in der rein militärischen Dominanz die einzige Garantie für die Sicherung der US-Hegemonie im 21. Jahrhundert sahen. Brzezinskis nüchterne Analyse verdient breite Rezeption – in der amerikanischen Politik-Beratung und weit darüber hinaus.

Werner Ruf

Die Kriege des globalen
Imperiums

Alain Joxe, Les Guerres de l’Empire Global, La Découverte, Paris 2012, 261 S. 21,- Euro

Alain Joxe, Direktor des interdisziplinären Zentrums für Friedensforschung und strategische Studien CIRPES in Paris ist Friedensforscher, eine in Frankreich kaum etablierte Disziplin. Nach hiesigen Maßstäben gehört er zweifellos zur Kritischen Friedensforschung, einer Richtung der Disziplin, die in den 70er und 80er Jahren die deutsche Friedensforschung prägte, inzwischen aber buchstäblich vom Aussterben bedroht ist.

Die vorliegende Arbeit kann verstanden werden als Fortsetzung der Studie „Das Imperium des Chaos“ (L’Empire du Chaos), die 2004 im selben Verlag erschien. Viele der dort formulierten Thesen werden nun zugespitzt und empirisch belegt. Joxe geht es dabei stets um den Blick auf globale Zusammenhänge wie „Euro-Krise und souveräne Schulden, Kriege oder Besetzungen, die sich verewigen wie in Afghanistan, im Irak, in Tschetschenien oder in Palästina, Einschränkungen der Grundfreiheiten im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung, Korruption der Eliten …“ (5). Er sieht innere Zusammenhänge zwischen den in dieser Form neuen Erscheinungen, die er versteht als eine Art faschistischer Diktatur. Diese zeichnet sich, so der Autor, dadurch aus, dass sie die Erfüllung eines (finanzkapitalistischen) oligarchischen, also antidemokratischen Traumes ist, der Politik ungreifbar und ihre Kontrolle durch das Volk unmöglich macht. Der grenzenlosen Bereicherung der Reichen entspricht die grenzenlose Verarmung der Armen. Es handelt sich um eine Form von Krieg, die sich von den gewalttätigen Eroberungen des Hitler-Faschismus dadurch unterscheidet, dass bei diesem neuen faschistischen System kein Kopf mehr sichtbar und eine für die Zustände verantwortliche Führung nicht mehr identifizierbar ist.

Gegliedert ist die Arbeit in drei Teile. Im ersten wird die zentrale These entwickelt und begründet, die lautet: Während allenthalben von Sicherheit gesprochen wird, breitet sich die globale (vor allem soziale) Unsicherheit aus, deren Dynamik einschließlich der dahinter stehenden Interessen untersucht werden soll. Der zweite Teil behandelt die militärischen und polizeilichen Strategien und deren Globalisierung unter Führung der USA. Dabei zeichnen sich, so der Autor, die amerikanischen Interventionen dadurch aus, dass sie kein klares politisches Ziel (mehr) verfolgen, weshalb sie zwangsläufig in Niederlagen enden müssen – ein Versagen, das der Nichtbeachtung der Clausewitz’schen Prämisse von der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln geschuldet sei und zwangsläufig zu einer Krise der Militärdoktrinen führen müsse. Im dritten Teil geht es schließlich um die Notwendigkeit einer „ethischen Erhebung und Empörung, die (beide) die Rückkehr zur Demokratie als Ziel und Mittel des Friedens … verlangen“ (11). Genau hier sieht Joxe dann die originäre Aufgabe Europas als einer Friedensmacht, die allein in der Lage sein könnte, die durch das spekulative Finanzkapital verursachten globalen Zerstörungen aufzuhalten und letztlich ihre Ursachen zu beseitigen. Hier scheint kurz eine links-gaullistischer Vision auf, deren Realitätsgehalt mehr als zweifelhaft sein dürfte: Das internationale Finanzkapital lässt sich wohl kaum nach Kontinenten sortieren, auch wenn militärisch die USA (noch) als dominante Militärmacht auftreten – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich die EU mit dem Lissabon-Vertrag auf die gleiche sicherheitspolitische Strategie einstellt, wie sie von den kritisierten USA (und der NATO) seit zwanzig Jahren verfolgt wird.

In der folgenden Analyse spielt diese These auch keine nennenswerte Rolle mehr. Die Welt steht, so Joxe, vor der paradoxen Situation, dass die neue globale Oligarchie den Sieg davongetragen hat – trotz aller militärischen Niederlagen. Daraus ergibt sich die Herausforderung an die gesamte Menschheit, zurück zu kehren zu einer globalen Errichtung einer Friedensordnung, die darin bestehen muss, der auf allen Ebenen weiter wachsenden Deregulierung ein Ende zu setzen. Es ist die den entfesselten Finanzmärkten innewohnende Gewalt, die eine dem Faschismus ähnliche Ordnung errichtet und den Planeten der kurzfristigen Profitrealisierung um jeden Preis unterwirft: Dank der Informatisierung der Finanzsphäre wie des Krieges kennen auch die sicherheitsbezogenen Taktiken und Strategien der Herrschenden nur momentane und punktuelle Ziele. In ihrer Wirkung führen sie zu Destabilisierung und Chaos, denn die herrschenden Klassen kennen nur kurzfristiges Profitdenken, ihr Handeln ist gerichtet auf unmittelbare Destruktion und Plünderung.

Demgegenüber verfolgen Friedensstrategien notwendigerweise langfristige Ziele. Sie können diese nur erreichen, wenn das herrschende Sicherheitsdenken gebrochen und durch langfristige Strategien ersetzt wird, die gegen die herrschenden Klassen gerichtet sein müssen. Das Problem dabei ist, so der Autor, dass das globale System der Plünderung und Ausbeutung dadurch gekennzeichnet ist, dass in seiner weltweiten Konstruktion kein Zentrum und keine Spitze zu erkennen ist. Die Unsichtbarkeit dieses Systems hat es ermöglicht, dass die Symbole oder Hülsen nationaler und teilweise demokratischer Souveränität erhalten bleiben können, während gleichzeitig die Souveränität – der Völker wie der Staaten – als Ausdruck der Demokratie zerstört wird: Politische Macht und Finanzmacht sind verschmolzen und zerstören gemeinsam die Substanz des demokratischen Staates.

Dieses Buch versteht sich bewusst als Ergänzung und theoretische Unterfütterung der Schrift „Empört Euch“ von Stéphane Hessel. Man mag bemängeln, dass von den herrschenden Klassen gesprochen wird, ohne dass diese erkennbar und greifbar gemacht werden. Aber genau hier liegt die Botschaft dieser Arbeit: Im Gegensatz zum klassischen Faschismus bleibt die Fratze des Systems unsichtbar. Daraus resultiert dann auch die notwendige Strategie: Die Völker müssen sich empören, ihre Souveränität zurück gewinnen, so wie dies von den Menschen zu Beginn der arabischen Revolten gefordert wurde. Denn: Die gewaltförmige Durchsetzung von Sicherheit im Interesse der Herrschenden geht zu Lasten der ökonomischen und sozialen Sicherheit der Menschen in einer sich mehr und mehr polarisierenden Welt. So stellt Joxe den von Militär und Politik seit zwanzig Jahren beschworenen „erweiterten Sicherheitsbegriff“, der von Ökologie bis Migration, von Terrorismus bis zur Bedrohung des Welthandels sämtliche Folgen der globalisierten Unordnung zu Sicherheitsgefährdungen erklärt, vom Kopf auf die Füße: Sicherheit für die Menschheit kann nur erreicht werden durch die Schaffung demokratischer Verhältnisse. Sie sind Voraussetzung für Menschenwürde, Sicherheit und Frieden zugleich.

Werner Ruf

Theater der Unterdrückten

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn, Das Theater der Unterdrückten in Afghanistan, ibidem-Verlag Stuttgart, 2011, 223 S., 19,90 Euro

Kunst und Kultur können Heilmittel, Friedensstifter aber auch Waffen für diejenigen sein, die in der Gesellschaft benachteiligt sind. Kunst und Kultur werden schon lange in der Psychotherapie als wirksame Heilmittel eingesetzt. Das von dem palästinensischen Wissenschaftler Edward Said und dem israelischen Dirigenten Daniel Barenboim ins Leben gerufene israelisch-palästinensische Orchester soll aufzeigen, dass selbst Angehörige verfeindeter Völker gut zusammenarbeiten können. Dass das Theater auch als „Waffe“ der Unterdrückten eingesetzt werden kann, zeigte sein Entdecker Augusto Boal in Brasilien in der 1960er Jahren unter der Militärdiktatur. Dort entstand auch „das Theater der Unterdrückten“ (TdU). Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn hat diese Idee nach Afghanistan gebracht, um die „Zivilgesellschaft“ zu stärken. Denn „ohne fest verankerte zivilgesellschaftliche Strukturen wird es wohl keinen Frieden am Hindukusch geben“. So das Vorwort bezüglich des persönlichen Erfahrungsberichtes von Joffre-Eichhorn über seine 2½ jährige Arbeit in Afghanistan. Joffre-Eichhorn ist aber bewusst, dass das TdU „kein Allheilmittel sein kann. Ganz im Gegenteil, es erzielt häufig keine messbaren Erfolge und ist im Endeffekt ein extrem qualitatives und damit subjektives Unterfangen, das deshalb auch die Gefahr der Selbstgerechtigkeit mit Bezug auf Erfolge mit sich bringt.“ (17) Joffre-Eichhorn ist im Auftrage des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) als Friedensfachkraft des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) nach Kabul gegangen und arbeitete auch mit anderen deutschen entwicklungspolitischen Organisationen, wie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und den Stiftungen der im Bundestag vertretenen bürgerlichen Parteien zusammen. Die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sieht Joffre-Eichhorn als ein Instrument des „Neokolonialismus“ und der Propaganda des freien Marktes, der „schon in den reichen Industriestaaten für stetig zunehmende Ungerechtigkeit und Armut sorgt“. (30) Außerdem kritisiert er die überhöhten Gehälter der Entwicklungshelfer, die „das entwicklungspolitische Söldnertum“ (212) begünstigen. Den DED möchte er am liebsten aufgelöst sehen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) verfolgt zahlreiche Projekte in Afghanistan, u.a. das Young Leaders Forum (YLF), und „importiert“ in diesem Rahmen junge Exil-Afghanen aus Europa nach Kabul, um sie als künftige politische Führungskräfte auszubilden (96ff.). Es ist auffällig, dass nicht nur bei diesem konkreten Projekt der EZ die Elite sowie privilegierte Afghanen unterstützt „und so bestimmte diskriminierende Gesellschaftsstrukturen noch verstärkt werden“ (97). Gerade die jetzige Elite Afghanistans mache nicht den Eindruck, „sich im geringsten für das Wohl des Volkes einzusetzen“ (ebd.).

Joffre-Eichhorn berichtet enthusiastisch über Tausende Stunden von TdU-Workshops mit Hunderten von Afghanen (210), die er meistens in Kabul aber auch an manch anderem Ort durchgeführt hat. Teilgenommen hätten in der Regel etwa 20 Personen, einschließlich Frauen, Menschen, die durch den 30-jährigen Krieg traumatisiert worden wären, darunter auch Frauen, die ihre Männer, Söhne und andere Angehörige im Krieg verloren hätten (102, 113, 125, 128). Die Foundation for Culture and Civil Society (FCCS), die zunächst von einem Niederländer geleitet wurde, sei eine afghanische Non Governmental Organization. Sie wurde hauptsächlich von dem Open Society Institute des US-ungarischen Megaspekulanten und selbst ernannten Philanthropen George Soros sowie dem DED finanziert (42). Joffre-Eichhorn wollte mit ihr einen TdU-Workshop durchführen. Dabei erfuhr er vom DED-Landesdirektor, dass sowohl beim DED als auch bei der FCCS nicht alles korrekt laufe, „selbst von Korruption wurde“ (43) gesprochen. Als Joffre-Eichhorn für seine Arbeit einen Assistenten benötigte, gab der afghanische Direktor von FCCS zu erkennen, ein Mitglied seiner Familie einzustellen (45).

Die Arbeit des TdU ist sicher sinnvoll. Aber dadurch wurden gerade einmal einige Hundert von fast 30 Mio. traumatisierten Menschen erreicht. Das ist weniger als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Da 80 Prozent der Afghanen am bzw. unter dem Existenzminimum leben müssen, bleibt die Frage, wer von diesen an solchen gut gemeinten Maßnahmen wie dem TdU teilnehmen kann, selbst wenn sie es denn wollten.

Joffre-Eichhorn berichtet über die zahlreichen internationalen Restaurants, die nur für Ausländer zugänglich seien, wo Alkohol in allen Varianten getrunken, überteuerte Speisen von der Haxe bis zum Scampi Risotto verspeist werden. Dabei benahmen sich die Gäste, wie sie es wohl von zu Hause gewöhnt seien. Nicht selten hätten sie natürlich „auch sexuelle Eroberungen getätigt“ (39f.). Bei 10 bis 15.000 US-Dollar Monatslohn können sich die ausländischen Berater so etwas auch leisten (41). Dies alles sei für afghanische Verhältnisse einfach „schamlos“ (40) und angesichts der katastrophalen Lage der Einheimischen auch verwerflich.

Das Buch ist sehr langatmig und detailverliebt geschrieben, von vielen Wiederholungen sowie manchen Fehlern gekennzeichnet. Es ist überwiegend vom Verfasser und seiner Arbeit die Rede, eine reine Selbstdarstellung also, für den Leser eher ermüdend und nur für den Autor selbst als Erinnerung von Interesse. Ein besseres Lektorat hätte dem Buch also gewiss nicht geschadet.

Matin Baraki

Max Stirner revisited

Henri Arvon, Max Stirner. An den Quellen des Existentialismus. Herausgegeben von Armin Geus. Aus dem Französischen von Gerhard H. Müller und mit einem Nachwort von Bernd Kast. Basilisken-Presse, Neuburg an der Donau 2012, 236 S., 36,- Euro

Es ist nicht nur ein Stirner-Buch und damit etwas durchaus Seltenes auf unserem überquellenden Büchermarkt. Es ist vor allem auch der Versuch, das gegenwärtige Stirner-Bild, so es ein solches in der modernen philosophischen Literatur überhaupt noch gibt, auf den Prüfstand zu nehmen, die diversen Irrtümer und Fehlinterpretationen dieses eigenwilligen Denkers durch seinen Freundes- und Feindeskreis seit seiner Wiederentdeckung durch John Henry Mackay in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorzuführen und kenntnisreich zu beseitigen. Und es ist – für den Marxisten in Theorie und Praxis in besonderem Maße – ein aufklärendes Buch über das Verhältnis von Marx und Engels zu Werk und Persönlichkeit Stirners. Hier räumt Arvon gründlich auf! Vor allem die Verstellung des Stirner-Werkes durch den späten Engels – insbesondere durch seine Schrift über Ludwig Feuerbach aus dem Jahre 1886, also nach Marxens Tod, der sich im Unterschied zu Engels tatsächlich im geistigen Kampfe mit dem Vermächtnis der Feuerbach-Kritik Stirners befunden hat – wird ausführlich und überzeugend dargestellt. Hier liegt ein Schwerpunkt vorliegender Abhandlung und damit auch fraglos das Interesse, das diese Schrift in der marxistischen Theoriediskussion im deutschsprachigen Raum finden wird.

Henri Arvon, geboren 1914 in Bayreuth, verstorben 1992 in Paris, Sohn des jüdischen Kaufmanns Julius Aptekmann, emigrierte bereits kurz nach Hitlers Machtergreifung nach Frankreich und beantragte zusammen mit seiner Einbürgerung den Wechsel seines Geburtsnamens in Henri Arvon. Während der deutschen Besetzung Frankreichs arbeitete er als Lehrer an der École militaire préparatoire des enfants de troupe in La Flèche und ab 1946 als Professor an der Prytanée national militaire daselbst, wo er 1951 seine Dissertation über Max Stirner abschloss, die 1954 – nach einer teilweisen Vorveröffentlichung 1951 – im Druck erschien. Zu Max Stirner führten ihn die „schmerzhaften Erfahrungen“ des „unmenschlichen Totalitarismus“ (11), es gilt aber als sicher, dass er bereits in der Gymnasialzeit mit Stirners Werk in Berührung kam. Die letzten zehn Jahre bis zur Emeritierung 1982 arbeitete Arvon an der Université Paris X. Seine Lehrbefugnis erstreckte sich auf die Sprachfächer Latein, Griechisch, Französisch und später Deutsch.

Der umfangreichste Teil seines erst so spät in die deutsche Sprache übertragenen Buches folgt den Gedankenwegen Stirners, insbesondere seine Stellung im Kreis der Linkshegelianer, was Arvon mit der facettenreichen Aufbereitung der linkshegelianischen Standpunkte verbindet, ihre Verknüpfung mit dem Werk Hegels und vor allem auch Ludwig Feuerbachs. Was hier vorliegt, ist eine Geistesgeschichte des Hegelschen Vermächtnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit auch eine solche des frühen Marxismus par excellence. Aber der Titel des Werkes Arvons verspricht ja noch viel mehr: einen Blick zu werfen auf die Vorbereiterrolle Stirners für das moderne existentialistische Denken. Doch hier bleibt es tatsächlich nur bei diesem einen Blick, der vor allem fokussiert ist auf das Werk von Sören Kierkegaard! Beide haben, so Arvon, die gleiche befreiende Wirkung vollbracht, indem sie den hohen Wert des „Ich“ und damit die „Grundursprünglichkeit jeden menschlichen Wesens“ (203) wieder in den Vordergrund gerückt haben. Der eine, Stirner, in atheistischer Sicht, der andere, Kierkegaard, im christlichen Sinne. Martin Buber und Otto Friedrich Bollnow haben gute einhundert Jahre nach Stirners frühem Tod die Vielfalt der Anknüpfungspunkte des Stirnerischen „Einzigen“ an das neuere existentialistische Denken hervorgehoben – weniger allerdings den Bezug zu Martin Heidegger. Den erwähnt erst Bernd Kast im Nachwort, wo er auf die existentielle Bedeutung des „Augenblicks“ eingeht – allerdings anknüpfend an Kierkegaard. Bei beiden sei erst dieser „Augenblick“ die „eigentliche Zeitlichkeit“ (219). Das allerdings hat Stirner ganz anders gesehen – der Augenblick war für ihn ein beliebiger, sich ständig wiederholender Zeitpunkt. Bricht dort die Existentialismus-Zuordnung auseinander? Also – noch viel Raum für fleißige Doktoranden!

Einige der Kastschen Bemerkungen bleiben noch insofern im Gedächtnis haften, weil nach Abschluss der Lektüre Arvons doch einige der dort vorgetragenen Einschätzungen zumindest gemischte Gefühle hinterlassen haben. Das betrifft in erster Linie die vermeintliche Klarheit der Ausführungen Stirners (nach Arvon sei Stirner der „erste lesbare deutsche Philosoph“, S. 208 noch einmal von Kast fragend hervorgehoben). Dabei hat man nicht nur die auch sprachlichen Kritiken im „St. Max“ in Erinnerung, sondern auch die zitierten Stirner-Texte und die Stirner-Charakteristika Arvons, deren Sinn sich einem durchaus nicht schon beim ersten Durchlesen erschließt. Das schwierige Französisch Arvons mag ein Grund dafür sein, dessen Eleganz der Übersetzer zweifellos bravourös gemeistert hat. Vielleicht aber verdeckt die Eleganz nicht selten die logische Stringenz des Textes. Manchmal liegt das ganz einfach an der Wortbedeutung von Einzigkeit und den vielfältigen Abwandlungen dieses Terminus in der deutschen Sprache. Nach Kast ist das auf Isolation und Vereinsamung zielende Missverständnis, das den Egoismus-Begriff über ein Jahrhundert lang begleitete und auch dafür Sorge trug, dass Stirner zunächst in eine Reihe mit dem Anarchismus von Bakunin und Kropotkin genannt wurde, durch die einfache Erklärung aus dem Weg geräumt, dass der Egoismus Stirners eben aus rein egoistischen Gründen den Verkehr mit den anderen suchen muss, ist doch sonst durch die drohende Isolation ein ganz wesentlicher Beweggrund des Stirnerschen Tathandelns, eben die Freude, verloren gegangen.

Blickt man auf das Erscheinungsdatum der diesem Buch zugrunde liegenden Arbeit Arvons, klärt sich die Frage, die man während der Lektüre nie ganz loswird: Wieso erschien dieses Buch Arvons in deutscher Sprache zu einer Zeit, für die das klassische existentialistische Denken zumindest in der Philosophie weitgehend entschwunden ist? Nun, Arvon legte bereits 1951 das Marx-Kapitel seiner Dissertation in der Sartreschen Zeitschrift Les Temps Modernes vor; 1954 erschien die Dissertation und erregte in der vom Marxismus und Existentialismus Sartres geprägten französischen philosophischen und literarischen Kultur eine gewisse Aufmerksamkeit. Nicht von ungefähr erfuhr die Herausarbeitung des Stirnerschen Einflusses auf Marx durch diese Schrift Arvons höchst unterschiedliche Reaktionen. Während nicht nur bei Engels, sondern in der gesamten nachfolgenden marxistischen Literatur von Stirners Einfluss auf Marx kaum oder gar nicht die Rede war, hebt Arvon besonders dieses Moment in der Stirnerschen Wirkungsgeschichte hervor und belegt es durch eine filigrane Feuerbach-Analyse. Insbesondere Marxens Feuerbach-Rezeption sei durch Stirners Kritik am Humanismus-Bild Feuerbachs erst möglich geworden. Die Feuerbach-Thesen verdanken sich, so Arvon, im wesentlichen eben dieser Stirner-Kritik an Feuerbach, sind mithin nicht allein Resultat der Marxschen rezeptiven Auseinandersetzung mit Feuerbach, die ja begeisterte Aufnahme und Kritik zugleich war.

An einigen Punkten der Arvonschen Schilderung der Gedankenkette von Hegel über Feuerbach und Stirner zu Marx möchte man gerne einhaken. Das betrifft vor allem Stirners Hegel-Kritik, die das für Marx so entscheidende Moment der sinnlichen, praktischen Tätigkeit nicht genügend hervorzuheben scheint, womit sie tendenziell in den Fehler des vormarxschen Materialismus zurückfällt, der ja, so Marxens Kritik, das wirkliche sinnlich-praktische Tätigsein des Menschen nicht kannte bzw. als philosophischen Einstieg in das Praxiskonzept des Marxismus nicht erreichte. Dieses Tätigkeitskonzept war allerdings auch nicht einfach aus Hegels Darlegungen abzuleiten. Hegel hatte in der „Phänomenologie des Geistes“ seine Aufgabe bestimmt als den Versuch, „das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wesen zu führen“ und das „allgemeine Individuum“, den selbstbewussten Geist in seiner Bildung zu betrachten (nach der Ausgabe von 1967, Akademie-Verlag Berlin, S. 26). Im Vergleich mit dem höherstehenden Geist war für Hegel das konkrete Individuum zu einem unscheinbaren Moment herabgesunken. Was vorher „die Sache selbst“ war, ist nur noch „eine Spur; ihre Gestalt ist eingehüllt und eine einfache Schattierung geworden“ (ebd., S. 26/27). Ganz offenkundig liegt hier der philosophische Einstiegspunkt für alle späteren Deutungen zutage; und sowohl Stirner als auch Marx – von Feuerbach ganz abgesehen – haben diese zur bloßen Spur gewordene reale Menschlichkeit in den Blick genommen. Soziale Befreiung musste aus dem philosophischen Disput (wohin die Junghegelianer das Problem transportiert hatten) in die Realität der sozialen Auseinandersetzungen gebracht werden. Marx griff den Ansatz des deutschen Idealismus, Hegels vor allem, auf. Die Kluft zwischen dem in der Geschichte tätigen Subjekt und dem idealen, reinen „Geistwesen“ musste geschlossen werden. Das Individuum, das in diesem seinen Tätigsein sein Gattungswesen produziert und reproduziert, wurde zum Subjekt der Geschichte. Für Marx bedeutete das den Durchbruch zu einer neuen Philosophie der Geschichte, wenngleich, wie vor allem sein Freund Roland Daniels vehement kritisierte, das wirkliche, physiologische Individuum allmählich wieder hinter dem neuen Geschichtssubjekt, der Klasse der Proletarier, verschwunden ist. Für Stirner war wohl auch Hegels Geistwesen Mensch eine pure Abstraktion, jedoch das egoistische Ich Stirners vermochte in keinem Punkte an das geschichtstätige Subjekt Marxens heranzukommen. Insofern blieb Hegel für Marx ein neuer Ausgangspunkt – wohl auch für Stirner, aber bei diesem im geradezu diametralen Sinne. Das Geistwesen Mensch im Hegelschen Sinne müsse, so Stirner, verdrängt werden! Für Marx aber war es Teil des „Zu-sich-selbst-Kommens“, und dies ermöglicht durch sinnlich-praktische Selbstverwirklichung. Und Tätigkeit war nichts individuell Abgeschlossenes. Für Stirner lag die Lösung des Problems auf einem kaum nachvollziehbaren anthropologischen Gleis: man müsse, um dem Reich des Geistes ein Ende zu bereiten, dem Fleisch die Stimme zurückgeben. „Wenn er sich in der Ganzheit fühlt, dann kann der Mensch zur Vernunft gelangen; er muß die Ohren weit öffnen für die Stimme der Seele und der des Körpers“ (Arvons Interpretation von Stirners Standpunkt in dieser Frage, S. 92). Und hier gab es keine Vermittlung zu Marx. Weder das pure Individuum, der pure Liberalismus noch die pure Geistigkeit führten zur materialistischen Geschichtsauffassung. Stirners kleinbürgerlicher Klassenstandpunkt habe – so zitiert Arvon Marxens Kritik nach intensivem Studium der „Deutschen Ideologie“ – Stirner daran gehindert, die wirtschaftlichen Revolutionen in ihrem historischen Kern zu verstehen.

Über die Rezeption Arvons in der französischen und deutschen Literatur gibt Kast eine gründliche Übersicht. Dabei vermerkt er vor allem den eher unwilligen Umgang in der marxistischen Literatur mit der Arvonschen Herausarbeitung des Stirnerschen Einflusses auf Marx und Engels, vor allem zwischen den Pariser Manuskripten von 1844 und der „Deutschen Ideologie“, aber auch mit Bezug auf ihr generelles Verhältnis. Marxens und Engels’ scharfe Polemik gegen „Sankt Max“ erkläre sich, so Arvon, vor allem aus der nun vollzogenen Abwendung der beiden von der rein philosophischen Kritik aus den Berliner Tagen. Doch neben der Anerkennung der gründlichen Analyse des Stirnerschen Werkes durch Arvon haben die französischen Marxisten die neuen Einsichten zur Ideengeschichte Stirner – Marx nicht akzeptiert bzw. ignoriert. Während Auguste Cornu die Sprengkraft der Arbeiten Arvons generell übergeht, bemüht sich Louis Althusser, seine Interpretationen aus „Pour Marx“ gegen Arvon abzusichern. Iring Fetcher jedoch hat bereits 1951 eine sachliche Zusammenfassung des bereits genannten Artikels von Arvon gegeben. Als ein bleibendes Ergebnis der Arvonschen Untersuchungen hat sich jedoch die auch von dem englischen Marxisten David McLellan hervorgehobene Ansicht gehalten, wonach die Feuerbachthesen wesentlich bereits von Stirner vorweggenommen worden sind. Arvons Stirner-Studien haben, soweit mir erinnerlich, in der DDR-Literatur keine Rolle gespielt.

Man lese dieses gehaltvolle Buch über einen umstrittenen Philosophen und seine vielfältige Wirkungsgeschichte nicht nur als eine biographische Studie – was es ja auch ist –, sondern als Lehrstück über die komplizierte und komplexe Geistesgeschichte einer heutzutage durchaus nicht unumstrittenen Philosophie. Doch wann gab es das jemals?

Reinhard Mocek

Europa am Scheideweg – Memo 2012

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2012. Europa am Scheideweg – Solidarische Integration oder deutsches Spardiktat, PapyRossa Verlag, Köln 2012, 264 S., 17,90 Euro

Das Memorandum 2012 ist reich an Fakten, Analysen, Argumenten und Vorschlägen. Den Autoren der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ist mit ihm wie schon in den Jahren zuvor ein großer Wurf geglückt. Doch ihr Buch löst Depressionen aus beim Leser. Zu deutlich ist der Kontrast zwischen der Einsicht in reale Zusammenhänge und der geringen Aussicht, diese zu ändern.

Bereits im Titel zeigen die Verfasser, worauf es ankommt, um die Euro(pa)-Krise zu meistern: solidarische Integration statt deutsches Sparpaket. Das Brüsseler und Berliner Spardiktat haben die Krise verschärft (164). „Als Reaktion auf verfehlte Sparziele erhöht die Troika (EZB, IWF, Europäische Kommission) nur die Dosis der falschen Medizin“ (165). Es zeigt sich, dass Lernfähigkeit und Einsicht keine Tugenden der Politik- und Wirtschaftselite sind.

Anders als noch im Memorandum 2011, in dem sie sich dem Sachverständigenrat der Bundesregierung anschlossen und einen Schuldenschnitt („Hair-Cut“) forderten (Memorandum 2011: 194ff.), verweisen die Autoren im aktuellen Werk auf die damit verbundenen Risiken. Sie gelangen zum Ergebnis, dass die Umschuldung ein Irrweg ist, ebenso wie die Sparpolitik oder die Absicht, bestimmte Länder aus der Eurozone hinauszudrängen. Es komme – da ist ihnen vorbehaltlos zuzustimmen – darauf an, die Ursachen der Krisen zu bekämpfen. Das sind in erster Linie die Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften. „Leistungsbilanzüberschüsse und steigende internationale Verschuldung sind zwei Seiten derselben Medaille.“ (61) Insofern ist es unlogisch, das Skalpell nur beim Schuldner anzusetzen. Folgerichtig dagegen, einen Ausgleichsmechanismus zu installieren, der auch die Überschussländer in die Pflicht nimmt. Etwa, indem diese die Löhne deutlich erhöhen, so die Binnennachfrage stärken und Produkten aus Defizitländern einen Absatzmarkt bieten. Genau das Gegenteil ist der Fall: Deutschland wird in diesem Jahr den weltweit größten Ausfuhrüberschuss erzielen. Das Plus in der Leistungsbilanz steigt nach Berechnungen des Münchner ifo-Instituts auf 210 Milliarden Dollar. Die Forderungen des einen Landes sind die Schulden der anderen Länder. Wächst das eine, dann zwingend auch das andere. „Das exportgetriebene neoklassische Wachstumsmodell, beruhend auf Lohndumping und niedrigen Gewinn- und Kapitalsteuern, ist eine Hauptursache der Eurokrise.“ (247ff.) „Letztlich muss die EU zu einer Ausgleichs- und Transferunion weiterentwickelt werden, in der die größten Überschussländer zwangsläufig die größten Financiers sein müssen.“ (170) Gebraucht wird eine solidarische Integration mit dem Ziel, den Entwicklungsrückstand der ökonomisch schwächeren Mittelmeerländer deutlich zu reduzieren (170). Ökonomische und soziale Standards müssen harmonisiert werden, um Außenhandelsungleichgewichte abzubauen. Die Vorschläge der Autoren (176ff.) reichen vom Aufbau neuer Industrien über die Modernisierung und Expansion vorhandener. Große integrierte Entwicklungs- und Investitionsprogramme, ökologischer Umbau und eine drastische Erhöhung der Regionalfonds sowie die Bildung schlagkräftiger öffentlicher Einrichtungen zur Förderung der Wirtschaft stehen auf der Tagesordnung. (180)

Der radikalste Schritt, um den Euro zu retten, bestünde darin, die Staatsfinanzen von den Kapitalmärkten zu entkoppeln. Die Zentralbank solle den Staat direkt finanzieren (172). Anders als in der EU ist dies in den USA, Japan und Großbritannien gängige Praxis. Sind aber neue Blasen und ein Preisanstieg nicht unvermeidlich, wenn die EZB das Bankensystem mit billigem Geld flutet? Die Memo-Autoren halten die Inflationsgefahren für gering. Dafür spricht, dass Preise am Markt gemacht werden und steigen, wenn Arbeitskräfte und Produktionsmittel knapp werden oder Oligopole und Monopole ihre ökonomische Macht ausspielen. Solange die wachsende Geldmenge nicht auf den Gütermärkten ankommt, ist das Inflationsrisiko klein. Doch ein Spiel mit dem Feuer bleibt es. Steigende Geldmengen bergen Inflationspotenzial. Und schwemmen sie keine Konsum- und Investitionsgütermärkte, so stauen sie sich auf den Finanzmärkten. Dort erhöhen sie das Spekulationskapital, keine trostreiche Aussicht.

„Ein zentraler Reformschritt wäre eine europäische Wirtschaftsregierung“, schreiben die Autoren. „Die Währungsunion muss Schritte in Richtung einer politischen Union unternehmen. Eine demokratisch legitimierte europäische Wirtschaftsregierung könnte künftige Krisen konjunkturpolitisch effektiver bekämpfen und zudem die Wettbewerbsfähigkeit Süd- und Osteuropas mit Hilfe einer stärkeren europäischen Regional-, Industrie- und Dienstleistungspolitik verbessern.“ (174)

Hellsichtig beschreiben die Autoren den Finanzsektor als „das Epizentrum“ für krisenhafte Entwicklungen. Ihnen ist zuzustimmen, dass die parasitären Wucherungen des Finanzsektors beseitigt werden müssen. Sie fordern die gesetzliche Beschränkung der Banken auf ihre ursprünglichen Kernaufgaben: den Zahlungsverkehr, das Einlagengeschäft und die Kreditgewährung (150). So könnte der Finanzsektor schrumpfen und gesunden.

Eine Hauptursache für die Verwerfungen des ökonomischen Systems und selbst eine Deformation ist die anhaltende Vertiefung der Verteilungsungleichheit. Die Autoren belegen dies anhand der neuesten Zahlen über Einkommen und Vermögen. Sie fordern, diese Entwicklung umzukehren. Ihre Vorschläge: Anhebung des Spitzensteuersatzes (117f.), Erhöhung des Körperschaftsteuersatzes von 15 auf 30 Prozent (118), die Ersetzung der Gewerbesteuer durch eine „einnahmenstabile und ergiebige Gemeindewirtschaftsteuer“ (120), die Beseitigung von ungerechtfertigten Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer, Änderungen bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer (122). Zur Eindämmung spekulativer Finanzgeschäfte wird eine Finanztransaktionsteuer gefordert. Rigoros bekämpft werden muss die Steuerhinterziehung. Die aktuellen Regelungen begünstigen diese. Eine einmalige Vermögensabgabe mit einer Laufzeit von zehn Jahren bei den Reichen erhoben, könnte 300 Milliarden Euro in die Kasse spülen. Die erst 1997 ausgesetzte Vermögensteuer sollte dauerhaft reaktiviert werden. Mit einem Steuersatz von 1 Prozent brächte sie Einnahmen von 20 Milliarden Euro (128f.).

Die Autoren rücken Zusammenhänge ins Lot, die Meinungsmacher höchst absichtsvoll falsch und einseitig darstellen. Dazu gehört die gelungene Kritik der Schuldenbremse (108-112). Die Schuldenbremse sei völlig ungeeignet, Löcher in Haushalten zu stopfen. „Massive Sparmaßnahmen würden ... erhebliche Nachfrage- und damit fiskalische Einnahmeverluste nach sich ziehen. Die in den Artikeln 109 und 115 des Grundgesetzes verankerten Ausnahmeregelungen von der Schuldenbremse würden permanent wirksam werden; die Ausnahme würde zur Regel.“ (67) Letztlich stiegen die staatlichen Defizitquoten wegen der Schuldenbremse gar. Die Autoren sehen sie deshalb gern ersetzt durch eine „Steuersenkungsbremse“ (113). Erklärungsbedürftig ist dies nicht, weiß man, dass allein die Körperschaftssteuer von 56 Prozent (1975-1990) auf 15 Prozent (2012) gesenkt wurde.

Die Verfasser räumen auf mit der Mär vom vermeintlichen Fachkräftemangel, mit der zugleich die Arbeitslosigkeit „wegdefiniert“ werde (82). Von einem umfassenden, allgemeinen Fachkräftemangel aufgrund fehlender vorgehaltener Qualifikation könne keine Rede sein. Die (beschönigende) Zahl der registrierten Arbeitslosen übersteige das (zu hoch ausgewiesene) gesamtwirtschaftliche Stellenangebot etwa um das Dreifache (84). Seit Jahren rät die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik zu einem öffentlichen Investitions-, Beschäftigungs- und Umbauprogramm (85) und fordert, die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich zu kürzen, zunächst auf 35 und perspektivisch auf 30 Wochenstunden.

Die Arbeitsgruppe fordert eine Rente, „die gewährleistet, im Alter ein menschenwürdiges Leben führen zu können, und den erreichten Lebensstandard sichert“ (259). Sie zeigt auch, wie das erreicht und die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 zurückgenommen werden kann. Grundsätzlich sind die Voraussetzungen dazu günstig. Die Autoren setzen in erster Linie auf die Verbesserung der Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse. Die ist aufgrund des Zusammenhangs zur Rente plausibel. Doch das Problem ist grundsätzlicher Art: Denn bei der Finanzierbarkeit der Rente und anderer sozialer Leistungen kommt es nicht auf die Relation zwischen Einzahlenden und Empfängern in irgendwelchen Finanzierungssystemen oder auf die zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen an. Entscheidend ist das Verhältnis zwischen der Höhe des verteilbaren Reichtums einer Gesellschaft und der Zahl ihrer Mitglieder. Das Volkseinkommen je Erwerbstätigen und pro Kopf der Bevölkerung steigt. Da aller Sozialaufwand immer nur aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt wird, ist kein Finanzierungsproblem zu erkennen.

Das Memorandum 2012 enthält ferner bemerkenswerte Analysen und Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik, Bildung, Pflegesicherung und zur bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung sowie einen aussagekräftigen, überschaubaren Tabellenanhang.

Klaus Müller

Feminismus

Gisela Notz, Feminismus. Papyrossa Verlag, Köln 2011, 131 S., 9,90 Euro

Einen grundlegenden Einblick in die Theorie und die Geschichte des Feminismus und der Frauenbewegung in Deutschland vermittelt das Buch Feminismus aus der Reihe Basiswissen des Papyrossa Verlags. Gisela Notz bietet der/dem Lesenden einen Abriss der historischen Entwicklung des Feminismus auf politischer, praktischer und theoretischer Ebene von seinen Anfängen im Mittelalter bis hin zur Wiedervereinigung. Wobei der Blick durch die Skizzierung der Frauenbewegungen in den USA und Frankreich vereinzelt über die Ländergrenzen hinausgeht.

Das Buch gibt zu Beginn einen kurzen theoretischen Überblick über die feministischen Strömungen und Theorieansätze. Notz stellt früh die Abgrenzung zwischen proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung heraus, die sich im Buch immer wieder finden lässt. Von den Anfängen erster feministischer Ansätze im Mittelalter über die Forderungen nach gleichen Rechten für Mann und Frau einer Olympe de Gouge in Zeiten der französischen Revolution zur ersten organisierten Frauenbewegung um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert und der zweiten feministischen Bewegung in den 1960er und 70er Jahren gibt Notz einen Überblick über die Entwicklung der Frauenbewegung bis in die Neuzeit. Ein Exkurs zu den feministischen Bestrebungen in der DDR komplettiert die Geschichte des Feminismus in Deutschland. In ihrer Abhandlung bleibt Notz jedoch nicht an dem ereignisreichen Datum der Wiedervereinigung stehen, sondern betrachtet in ihren letzten zwei Kapiteln „Wie ging es weiter?“ und „Was bleibt?“ die Aktualität des Feminismus in der heutigen Zeit. Wobei sie deutlich macht: Die feministischen Forderungen, unter anderem nach Chancengleichheit, Kinderbetreuungszentren und legaler Abtreibung, sind alle mindestens über 40 Jahre alt, und es stellt sich der Autorin die Frage, ob wir uns „mit der Betrachtungsweise der (US-amerikanischen) Frauenbewegung, dem sogenannten Konzept der langen Wellen, trösten sollten und darauf hoffen, dass der ersten und zweiten Welle bald eine dritte folgt, die sich der bis jetzt unerledigten Aufgaben annimmt?“ (124). Und mit der Antwort der Autorin endet der Gang durch die Geschichte: Es bedarf der erneuten Verbindung von feministischer Theorie und Praxis. Feministische Praxis besteht auch heute noch im Kampf und der Rechtfertigung feministischer Forderungen wie gleiche Löhne und Frauenschutzräume. Notz‘ Blick auf die Gesellschaft scheint hier optimistisch, wenn sie schreibt: „Obwohl in (fast) allen Organisationen Feministinnen zu finden und separate Frauenräume heute keiner Rechtfertigung mehr bedürfen, entpolitisieren sich die Frauenbewegungen.“ (117). Denn oft genug wird auch und gerade von Männern die Notwendigkeit beispielsweise von Frauenschutzräumen oder auch Quotierungen und anderen Gleichstellungsmaßnahmen in Frage gestellt.

Der Schwerpunkt dieses Buchs liegt klar auf der historischen Darstellung der Frauenbewegung, wodurch es der/dem Lesenden ermöglicht wird, die verschiedenen Strömungen aus einem historischen Kontext heraus zu begreifen. Die detaillierten Darstellungen über die Herausgeberinnen feministischer Zeitungen und Zeitschriften und die Zitate verschiedenster feministischer Persönlichkeiten führen jedoch stellenweise zu einem Verlust des roten Fadens. Dem Anspruch einer Einführung in den Feminismus auf Basis eines Theorieeinblicks, wie es der Titel vermuten lässt, wird das Buch nur bedingt gerecht. Treffender wäre wohl die Betitelung des Buches als „Die Geschichte des Feminismus“. Dennoch ist der historische Abriss interessant zu lesen, da er feministische Diskurse, Entwicklungen und Kämpfe anschaulich und nachvollziehbar beschreibt.

Was dem Buch leider fehlt, sind detaillierte Ausführungen zu queer-feministischer Theorie und Praxis, deren Ansätze bereits in den 1980er Jahren entwickelt wurden (siehe u.a. Judith Butler) und somit durchaus zur feministischen Historie gehören. Geschlechtsdekonstruktivistische Ansätze kommen in diesem Buch eben leider nur am Rande vor, obwohl sie inzwischen einen wichtigen und sehr aktuellen Theoriestrang bilden, der in einer Einführung zum Feminismus einen prominenteren Platz einnehmen sollte. Besonders in Bezug auf dieses Thema wären auch Ideenanstöße für eine bessere Verbindung von wissenschaftlichem und praktischem Feminismus wünschenswert gewesen. Diese bleiben jedoch leider aus.

Alles in allem ist das Taschenbuch vorrangig jenen zu empfehlen, die die Vorzüge tiefgehender historischer Darstellungen schätzen und eventuell schon ein gewisses Fundament an Basiswissen über Feminismus mitbringen. Auch Lesende mit einem fundierten Grundwissen werden aus diesem Einführungsband neue historische Erkenntnisse herausziehen können.

Lisa Müller, Mechthild Siegel,
Jennifer Weinel, Kerstin Wolter

Geschichte der Arbeiterbewegung

Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Nr. 41, März 2012, 48 S.; Nr. 42, September 2012, 64 S.; Sonderheft. 80 Jahre Berliner Verkehrsarbeiterstreik 3.-7. November 1932, 36. S.; Schutzgebühr zzgl. Versandkosten; Bezug: Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Finckensteinallee 63, 12205 Berlin

Für alle, die sich für die Geschichte der Arbeiterbewegung und ihre Quellen interessieren und auf diesem Gebiet forschen, sind die Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung (MFK) unverzichtbar. In einer Zeit, da die Wissenschaftsdisziplin „Geschichte der Arbeiterbewegung“ in Forschung, Lehre und in den Medien immer weniger Aufmerksamkeit erfährt, betrachtet es der Förderverein als seine Aufgabe, mit entsprechenden Beiträgen aussagekräftige und vielfältige Informationen zu offerieren und eine wissenschaftliche Einordnung neu erschlossenen Archivmaterials und wenig bekannter Bibliotheksbestände zu ermöglichen.

Beachtung verdient in H. 42 (S. 24-33) u.a. der „Findmittelbeitrag“ von Kurt Metschies, der u.a. einen ersten Eindruck vom Nachlass Jürgen Kuczynskis vermittelt. Die wertvolle Bibliothek, in der auch zahlreiche Bände aus dem Besitz seines Vaters Rene Robert Kuczynskis enthalten sind, sowie die Überlieferung vieler Manuskripte und Briefe werden künftig für die Erforschung der Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften im Allgemeinen wie der Geschichte und Wirtschaftswissenschaften im Besonderen, von großer Bedeutung sein.

Das vorliegende Heft richtet den Blick über die Grenzen Deutschlands hinweg. Prof. Jean Mortier (Paris) informiert über die von ihm gegründete Forschungsbibliothek „Bibliotheksfundus DDR – Neue Länder“ innerhalb der Zentralbibliothek der Universität Paris 8 (6f.). Ralf Hoffrogge macht mit einem von ihm mitbetreuen internationalen Online-Archiv „Workerscontrol.net“ bekannt (7f.).

Im Heft 41 wird mit dem Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien nach längerer Zeit wieder ein ausländisches Archiv vorgestellt. Aufmerksamkeit verdienen die Beiträge von Grit Ulrich und Heinz Deutschland zum Nachlass/Briefwechsel zwischen Käte und Hermann Duncker, der sich in der SAPMO B-Arch befindet und wesentliche Einblicke in die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Ende des 19. und über weite Strecken des 20. Jahrhunderts gestattet. Verwiesen sei ferner auf die faksimilierte Wiedergabe eines Briefes von Heinrich Brandler an Wolfgang Abendroth aus dem Jahre 1964, der sich im Archiv des Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam befindet, und der von Andreas Diers kommentiert wird. Dazu kommen Berichte über die 47. Linzer Konferenz der ITH (Ralf Hoffrogge) und die 42. IALHI-Tagung (Anja Kruke).

Hervorzuheben ist, dass der Förderkreis im Vorfeld der achtzigsten Wiederkehr der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland ein Sonderheft zum Berliner Verkehrsarbeiterstreik vom 3. Bis 7. November 1932 veröffentlichte. Henryk Skrypczak steuert zu diesem politisch in besonderer Weise instrumentalisierten Thema zwei quellengesättigte Studien bei, die die Behauptung vom Zusammenwirken von KPD und NSDAP während dieses Arbeitskampfes widerlegen. Die erste Arbeit stellt eine an ein Tagebuch erinnernde Montage dar, die chronologisch den Ablauf des Streiks „von unten“ schildert. Als zweiter Beitrag wird ein 1983 in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ unter dem Titel „’Revolutionäre’ Gewerkschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932“ publizierter Artikel abgedruckt, ergänzt um eine Einführung sowie biografische Notiz zum Autor aus von Rainer Zilkenat.

Siegfried Prokop

1 Vgl. Wadim Rogowin: 1937. Jahr des Terrors, Essen 1998; Die Partei der Hingerichteten, Essen 1999; Vor dem großen Terror. Stalins Neo-NÖP, Essen 2000; Weltrevolution und Weltkrieg, Essen 2002.

2 Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891-1924, 2 Aufl. Berlin 2011.

[1] Angemerkt sei hier, dass trotz der Tatsache, dass gerade der 2000ste US-Amerikaner in Afghanistan gefallen ist, laut verschiedener Umfragen 3/5 bis 2/3 der Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, dass die USA in Afghanistan Krieg führen. Matthias Rüb, Der vergessene Krieg, in: FAZ vom 23. Aug. 2012, S. 3.

[2] Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers: Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000. New York, 1987.

[3] Zu der diesen zugedachten Rolle in der Strategie der Obama-Administration siehe: Werner Ruf, Sinkender Stern der USA und arabische Konterrevolution, in: Z 90, März 2012, S. 107-115.

[4] Formuliert von Jimmy Carter am 23. Januar 1980. Sie erklärt, dass die USA jeder Bedrohung ihrer nationalen Interessen im Raum des Persischen Golfs mit Waffengewalt begegnen werden.