Machttheoretische Zugeständnisse

von Christian Stache zu Søren Mau
März 2022

Søren Mau: Stummer Zwang. Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus, Dietz, Berlin, 2021, 360 S., 29,90 Euro

Das aus der Dissertation des dänischen Philosophen Søren Mau entstandene Buch, das 2021 zuerst auf Dänisch und Deutsch publiziert wurde und im Laufe dieses Jahres auf Englisch erscheinen wird, ist vor allem eine Autokorrektur des strukturalistischen und zirkulationstheoretischen Marxismus in der Linie der sog. „Neuen Marx-Lektüre“. Der Autor beansprucht nichts Geringeres, als eine Theorie der ökonomischen Macht in kapitalistischen Gesellschaften in ihrem idealen Durchschnitt auf Basis des marxschen Kapital und verdichtet in Marxens Konzept des „stummen Zwangs“ zu entfalten. Mau will damit eine Frage beantworten, die mit der jüngsten Rückkehr des Klassenbegriffs in den marxistischen Mehrheitsdiskurs wieder ins Zentrum der Theoriediskussion gerückt ist und bis dato insbesondere eine Schwäche werttheoretischer Kapital-Interpretationen darstellt: Inwiefern und wie wird Herrschaft in der kapitalistischen Ökonomie ausgeübt?

Die Argumentation wird konzis vorgetragen. Die Arbeit ist stilistisch beeindruckend geschrieben sowie mit reichlich Quellen auf dem Stand der wissenschaftlichen Forschung ausgestattet. Es werden zahlreiche aktuelle Debatten berücksichtigt, in denen sich der Autor positioniert. Er diskutiert überwiegend treffend die Rolle weiblicher Reproduktionsarbeit und von Rassismus in der Kapitalismusanalyse oder, weniger überzeugend, Foucaults mystifizierende Machttheorie mit Bezug zu ökonomischen Machtformen. Marxologie auf hohem Abstraktionsniveau geht Hand in Hand mit konkreten Modellen (Landwirtschaft, Logistik und Überschussbevölkerung), anhand derer die Theorie veranschaulicht und weiterentwickelt wird. Handwerklich gibt es insgesamt wenig Anlass für Kritik.

In der Sache liegen die Dinge anders. Gegen Maus Theorie ökonomischer Macht sind auf allen drei Entwicklungsschritten seiner Argumentation – „Bedingungen“, „Beziehungen“ und „Dynamik“ ökonomischer Macht –, die zugleich Abschnitte des Buchs darstellen, Einwände unumgänglich. Grund dazu geben nicht nur seine Behauptungen über Marx und dessen Werkentwicklung, Maus bei aller berechtigten Kritik abschätziger Umgang mit dem traditionellen Marxismus, wie es für die neue Orthodoxie der „Wertformtheorie“ (74) üblich ist, oder seine Thesen zur sozialen Ontologie ökonomischer Macht, die er im ersten Abschnitt des Buchs entwickelt.

Die zentralen Probleme betreffen vor allem Maus Kernargument, das er im zweiten Teil darlegt. Dem Autor zufolge charakterisiere eine unpersönliche Herrschaft des Kapitals die kapitalistische Produktionsweise. Sie entspringe den zwei „Hauptquellen der ökonomischen Macht des Kapitals“ (31) und ihrem Zusammenwirken.

Die erste Quelle sind Mau zufolge die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Bei ihnen handele es sich um die sozialen Beziehungen, „durch die ‚die Bedingungen der Möglichkeit des gesellschaftlichen Lebens‘ strukturiert werden“ (145), d.h. um die „transzendentale Klassenherrschaft“ (128) der Kapitalisten über die Proletarier. Diese Relation ist, so der Autor, politischer Natur und als „umfassendere“ (133) Form der Herrschaft „dem Ausbeutungsverhältnis vorausgesetzt“ (133). Das Proletariat wird hier „nicht durch die Arbeit definiert, sondern durch die radikale Spaltung zwischen dem Leben und seinen Bedingungen“ (134).

Die zweite Hauptquelle der ökonomischen Macht des Kapitals gehe aus der Zirkulation hervor, in der horizontale Beziehungen sowohl zwischen den Kapitalen als auch zwischen den Proletariern bestünden. Durch nachträgliche Vergesellschaftung der Arbeitsprodukte voneinander unabhängiger Privatproduzenten (Wert) entstünde, so Mau, „ein quasi-autonomes System von realen Abstraktionen (…), die sich mittels einer unpersönlichen und abstrakten Form der Herrschaft allen aufzwingen“ (187), „unabhängig von ihrem Klassenstatus“ (179). Die Konkurrenz als entwickelte Form des Werts sorge schließlich dafür, dass „sich die Marktteilnehmer gegenseitig ‚die Herrschaft des Kapitals‘ durch ‚wechselseitige[n] Zwang‘ auferlegen“ (220).

Aus dem Zusammenspiel von Klassenherrschaft und Herrschaft des Marktes ergeben sich Mau zufolge noch weitere, dynamische Formen der ökonomischen Macht, die er im dritten Abschnitt des Buchs zunächst als Machteffekte behandelt. Der Autor versucht aber anhand der kapitalistischen Umgestaltung des Arbeitsprozesses, des Naturverhältnisses, der Geographie sowie der Produktion einer relativen Überschussbevölkerung und von Krisen zu zeigen, wie diese Prozesse sich zu neuen Quellen der Macht entwickeln, weil sie zu Voraussetzungen neuer Produktionsprozesse auf erweiterter Stufenleiter werden.

Die beiden Hauptquellen der Macht wirken, das ist für Maus Ansatz entscheidend, nicht direkt auf die Menschen, sondern auf die „materiellen Bedingungen ihrer Reproduktion“ (138). Diese würden so verändert, dass die Menschen zu kapitalkonformen Handlungen genötigt werden. Insofern sei es auch unangebracht, Macht als „eine unmittelbare Beziehung zwischen zwei sozialen Akteuren“ (138) zu interpretieren. Die Trennung der Menschen von ihren natürlichen Reproduktionsbedingungen durch die Eigentumsverhältnisse erlaube es dem Kapital, „sich als Vermittler zwischen ihnen einzuschalten“ (136) und führe zur Marktabhängigkeit der Menschen für die eigene Reproduktion. Die Macht des Kapitals in der Zirkulation wiederum bewirke mittels Wert und Konkurrenz, dass die Menschen die Verwertung des Werts durch ihr individuelles Handeln zum Modus Operandi der sozialen Reproduktion machen und diesem auch nicht entgehen können.

Zwei Weiterentwicklungen zeichnen Maus Ansatz gegenüber anderen Formen strukturalistischer und zirkulationsmarxistischer Zugänge aus und machen ihn zu einer Korrektur letzterer. Erstens kritisiert er ausdrücklich Weltanschauungen, denen zufolge das Kapital eine Art säkularisiertes Weltgeistsubjekt sei. Ebenso distanziert er sich von auf die Fetischformen zentrierten Lesarten des Kapital. Zweitens betrachtet Mau die Klassenherrschaft, wie sie aus den Eigentumsverhältnissen entspringt, als eine relativ selbständige Basis ökonomischer Macht.

Gleichwohl geht diese zweite Korrektur mit einer doppelten Verkürzung einher. Einerseits interpretiert Mau die Eigentumsverhältnisse ausschließlich als vorausgesetzte Struktur, nicht auch als etwas, das durch das alltägliche Handeln der Kapitalistenklasse reproduziert wird. Zweitens reduziert er die Klassenbeziehungen auf ein politisches Machtverhältnis. Hier, wie in der gesamten Darstellung, wird Macht der Ausbeutung vorgelagert, ohne zu erklären, warum dem so sein sollte, woher Macht ohne Reichtum eigentlich kommen soll, wieso Macht „an sich“ erstrebenswert ist usw. Das Streben der Einzelkapitalisten sowie der Kapitalisten als Klasse nach Profit und damit nach der Aufrechterhaltung der Eigentumsverhältnisse erscheint hier nur als oktroyierter Imperativ der Verhältnisse.

Dies korreliert mit Maus zirkulationistischem Verständnis von Kapital und der vermeintlichen Herrschaft der Wertformen über alle Menschen. Mau bestimmt nämlich Kapital als „eine soziale Logik“ (47), als „Wert in Bewegung“ (53). Mit anderen Worten: Das Kapital wird hier auf Höhe des vierten Kapitels des Kapital verstanden, als Ergebnis der Zirkulation allein. Nun ist es nicht gänzlich falsch, wie Mau es macht, das Kapital als „emergente Eigenschaft“ (53), also als eine vergegenständlichte soziale Beziehung zu beschreiben, die als gesellschaftliche Struktur allen Marktteilnehmern gegenübertritt. Gleichwohl lässt sich das Kapital erstens nicht darauf reduzieren. Das Kapitalverhältnis ist erst am Ende der drei Kapital-Bände als über den Markt vermitteltes soziales Klassenverhältnis gänzlich entwickelt. Mau schließt aber die aus dem Produktionsverhältnis und dem Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion resultierenden Bestimmungen des Kapitals aus. Zweitens impliziert dieses über Sachen vermittelte Verhältnis zwischen Personen weder, dass die Klassen gleichermaßen dem Markt ausgeliefert sind, noch, dass eine „Logik“ oder Dinge über Arbeiter herrschen. Denn auch diese Dinge sind ohne ihre Träger, d.h. die Kapitalisten, und deren Beziehungen zueinander und zur Arbeiterklasse nichts.