Buchbesprechungen

Im Vorgriff auf die MEGA

von Thomas Kuczynski zum Briefwechsel V. Adler – Fr. Engels
Juni 2012

Victor Adler – Friedrich Engels. Briefwechsel. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung. Dokumentation 1‑4/2009. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung Wien 2009, 147 S, 28,- Euro

Victor Adler / Friedrich Engels, Briefwechsel. Im Auftrag des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien, herausgegeben von Gerd Callesen und Wolfgang Maderthaner, Akademie Verlag, Berlin 2011. XXIII 267 S., 99,80 Euro.

Zu Zeiten des kalten Krieges wurden auch „im Westen“ zahlreiche Quelleneditionen zur Marx-Engels-Forschung publiziert, darin eingeschlossen die Briefwechsel von Führern der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung mit den beiden, so etwa von August Bebel, Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Paul und Laura Lafargue. Im Unterschied zu denen „im Osten“, die sich zumeist auf die Briefe der Altvorderen beschränkten, vermittelten diese Editionen einen wirklich lebendigen Eindruck von dem Meinungsaustausch zwischen den Genannten, ihren Diskussionen, auch persönlichen Animositäten und vorübergehenden Misshelligkeiten. Mit dem Zusammenbruch des real nicht mehr existierenden Sozialismus in Osteuropa entfiel die Konfrontation, und auch demzufolge wurde eine ganze Reihe laufender Editionsvorhaben abgebrochen.[1]

Im Grunde hätte der hier zu rezensierende Band in diese Reihe gehört. Seine Vorgeschichte reicht neunzig Jahre zurück; damals veröffentlichte der Sohn Victor Adlers, Friedrich Adler, das erste Heft der gesammelten Schriften seines Vaters.[2] Dreißig Jahre später, noch bevor er die Korrespondenz von Adler sen. mit führenden deutschen und österreichischen Sozialdemokraten vorlegte,[3] hatte er die Arbeit an einer Neuausgabe des Briefwechsels mit Engels abgeschlossen, die aber aus offenbar nicht mehr rekonstruierbaren Gründen unpubliziert blieb. Dies ist nun nachgeholt, und schon das allein ist ein Gewinn. Wenn nachfolgend nicht nur die im Akademie Verlag erschienene Buchausgabe (im Folgenden: AV), sondern auch deren broschierter Vorläufer (im Folgenden: VGA) rezensiert wird, so resultiert das daraus, dass beide Ausgaben ihre Vor- und Nachteile haben.

Da in der Marx-Engels-Gesamt­ausgabe (MEGA) die Korrespondenz von Marx und Engels einschließlich der an sie gerichteten Briefe vollständig ediert werden soll, kann die Frage nach dem Sinn eines solchen Vorgriffs gestellt werden. Dazu ist zweierlei festzuhalten. Erstens wurden die Arbeiten am Briefwechsel (Abteilung III) im vergangenen Jahrzehnt zugunsten der Edition der Abteilungen I und II weitgehend zurückgestellt; zwar steht zu hoffen, dass nach deren Fertigstellung[4] die Briefbände mit erhöhter Intensität bearbeitet werden, aber trotzdem wird es noch Jahre brauchen, ehe die letzten Bände dieser Abteilung publiziert sind. Zweitens umfasst der überlieferte Briefwechsel der beiden „Hofräte der Revolution“ (Adler an Engels am 25. 8. 1892) einen Zeitraum von über sieben Jahren (Dezember 1887 bis Juli 1895), wird also in der chronologisch angeordneten MEGA auf sieben (!) Bände verteilt erscheinen. Das Auseinanderreißen des Zusammenhangs der zwischen Adler und Engels gewechselten Briefe, das sich aus den Editionsprinzipien der MEGA mit Notwendigkeit ergibt, ist natürlich besonders hinderlich für jene, die einen Gesamteindruck über sie gewinnen möchten. Dieser unvermeidliche Missstand trifft übrigens ebenso auf die Briefwechsel mit anderen zu (nicht zuletzt auf den zwischen Marx und Engels selbst geführten), und schon von dieser Warte aus ist das Unternehmen interessant und nützlich.

Zu den in den Marx-Engels-Werken (MEW) edierten Engels-Briefen finden sich ergänzend ein Telegramm sowie ein Kartengruß; auf einem zweiten (in VGA nicht edierten) hat sich handschriftlich nur Louise Kautsky verewigt (vgl. in AV die Briefe 33, 35 und 60). Damit verglichen ist die Ausbeute bei den Adler-Briefen größer, denn Adler jun. standen nicht alle Briefe zur Verfügung und einige hat er aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nur mit (gekennzeichneten) Auslassungen publiziert. Vier Briefe sind erstmals veröffentlicht (Nr. 5, 45, 55 und 56) und sieben erstmals vollständig (Nr. 13, 24, 26, 42, 52, 54 und 58); hinzu kommen drei Telegramme (Nr. 8, 17 und 39) und eine Grußkarte (Nr. 43), ein Brief von Emma Adler an Engels (Nr. 41) und das Telegramm, in dem Louise Kautsky-Freyberger Adler von Engels’ Ableben unterrichtete (Nr. 72). Ein Verzeichnis der nicht überlieferten Briefe sowie annotierte Register der Personen und Periodika komplettieren die Ausgaben.

Im Unterschied zu einer historisch-kritischen Edition sind die Briefe von den Bearbeitern zwar mit den Kontext erläuternden Anmerkungen versehen, nicht aber mit Varianten- und Korrekturverzeichnissen belastet worden; insbesondere wurden die so genannten offensichtlichen Schreibversehen stillschweigend korrigiert. Das entspricht sicherlich dem beabsichtigten Zweck, den Briefwechsel als Ganzes wieder einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Jedoch hätten die Bearbeiter von Engels vorgenommene (nachträgliche) Ergänzungen, die Adler jun. als Fußnoten ediert hat, nicht einfach in die Brieftexte einmontieren sollen.[5] Bei den Briefen, die die Bearbeiter erstmals vollständig veröffentlicht haben, fehlt im jeweiligen Verweis auf die Edition von Adler jun. der Klammerhinweis (unvollständig).

Die beiden Publikationen unterscheiden sich ‑ abgesehen vom (relativ!) niedrigen Preis der im unhandlichen A4-Format gedruckten Broschüre des VGA und dem überaus hohen der schönen Leinenausgabe des AV – vor allem hinsichtlich des „Beiwerks“. VGA enthält die Vorworte von Adler jun. zur Erstausgabe und zur geplanten Neuausgabe von 1953 sowie aus Anlass der Maidemonstrationen in Wien an Engels gerichtete Briefe von Michael Schacherl und Wilhelm Ellenbogen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum auf diese, nur wenige Seiten umfassenden, Texte in AV verzichtet worden ist. Dagegen ist die Zahl der publizierten Reden und Aufsätze Adlers aus den Jahren 1887-1895 gegenüber VGA in AV beträchtlich erhöht; sie machen die Hälfte des (mithin falsch betitelten) Bandes aus. Zwar stehen sie in mehr oder minder engem Zusammenhang mit dem Briefwechsel, sind aber kaum mit den Erläuterungen versehen, die wesentlich sind für in der österreichischen Geschichte nicht so Bewanderte. In dieser Form kann die Sammlung daher nur das Verlangen nach einer neuen Ausgabe der Reden und Schriften von Adler sen. hervorrufen, etwa in der Art wie die von 1975 bis 1980 erschienene von Otto Bauer oder die von Karl Korsch, die hoffentlich recht bald abgeschlossen sein wird.

Thomas Kuczynski

Marxistische Historiker über Nation und Revolution

Wolfgang Küttler / Matthias Middell (Hg.), Nation und Revolution. Ernst Engelberg und Walter Markov zum 100. Geburtstag, Akademische Verlagsanstalt, Leipzig 2011, 229 S., 33 Euro

Der vorliegende Band ist aus einem Ende 2009 durchgeführten wissenschaftlichen Kolloquium der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Ehren der Historiker Ernst Engelberg (1909-2010) und Walter Markov (1909-1993) hervorgegangen, deren 100. Geburtstag in jenem Jahr begangen wurde (Engelberg lebte damals sogar noch, konnte aber an der Konferenz nicht mehr teilnehmen). Beide gehörten ohne Zweifel zu den herausragenden und international angesehenen Köpfen der Geschichtswissenschaft der DDR. „Beide … als Kommunisten und von der Marxschen Geschichtsauffassung ausgehend, beide geprägt von den Erfahrungen des Kampfes gegen das Nazi-Regime und im wissenschaftlichen Werk den antifaschistischen Traditionen verpflichtet, beide schließlich in ihrem jeweiligen Opus Magnum dem Genre der historischen Biographie verbunden – Ernst Engelberg mit einer zweibändigen Bismarck-Biographie, Walter Markov mit der Trilogie über den radikalen Revolutionär Jacques Roux.“(16).

Entsprechend den langjährigen Arbeitsschwerpunkten dieser Historiker wählten die Organisatoren der Konferenz die Begriffe „Revolution“ und „Nation“ als zentral zu diskutierende Kategorien aus, nicht zuletzt, um zu hinterfragen, welcher Stellenwert ihnen unter den heutigen Bedingungen der Entgrenzung und der Enttäuschung über revolutionäre Umbrüche zukommt.

Trotz dieses Versuchs der Bündelung und Konzentration sind – keineswegs zum Nachteil – recht unterschiedliche Beiträge im Band vereinigt. Beschäftigen sich die aus dem „Westen“ kommenden Historiker J. Kocka und H. J. Puhle, die gewisse Kontakte schon lange vor der „Wende“ mit der „Leipziger Schule“ gepflegt hatten, mit Veränderungstendenzen von Revolutionsprozessen, mit dem sich wandelnden Nationenbegriff (wobei Puhle zu Recht auf die gleichzeitig sich verändernde Staatlichkeit verweist), so sind zwei Artikel (von M. Sabrow und W. Eichhorn) der kritischen Diskussion der „Wendeereignisse“ von 1989/90 in Deutschland gewidmet. Hier wird deutlich, dass Begriffe wie „friedliche Revolution“ in mancherlei Hinsicht die komplexen Prozesse von damals sowie die späteren Implikationen des Anschlusses der DDR (Einbeziehung Deutschlands im Rahmen der NATO in – vorher ausgeschlossene – kriegerische Ereignisse) nicht treffen und relativiert werden müssen.

Es folgen Beiträge, die sich mit der Nationenwerdung in der Peripherie befassen: eine lange Abhandlung (65-110) von Michael Zeuske, die sich mit dem Fall Venezuelas befasst, sowie ein Beitrag von P. Sebald, der Togos Unabhängigkeit (1960) mit ihrer Vorgeschichte und ihren Folgen skizziert.

Die materialreiche Studie von Zeuske spannt den Bogen von der Conquista bis zur Gegenwart und zeigt die zeitlich späten und zudem gruppenspezifisch differierenden Auffassungen von Nation, welche nach der Unabhängigkeit ca. 1821 sich mit unterschiedlichen Lesarten des Wirkens von S. Bolívar vermischten.

Die übrigen Beiträge beschäftigen sich mit den Jubilaren. M. Middell hebt hervor, dass die komparative Erforschung von Revolutionen für Markov die Chance bot, „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (der relativ langen Dauer) mit Politikgeschichte (der kurzen Dauer) so zu verbinden, dass auch die Verankerung von Handlungskonzeptionen in der Kultur- und Mentalitätsgeschichte nicht ausgeblendet bleibt.“(124) Gegenüber deterministischen Revolutionsauffassungen habe er sich u.a. auch für „heroische Illusionen“ wichtiger Akteure interessiert, welche die Revolution voranzutreiben suchten. Sein „Held“ J. Roux, der den Babeufschen Traditionen der „Verschwörung der Gleichen“ nahe stand, war für Markov ein solcher Akteur. Mit der intensiven Beschäftigung mit außereuropäischen, antikolonialen Revolutionen habe Markov zur Relativierung des auch in der DDR-Geschichtswissenschaft nicht selten anzutreffenden Eurozentrismus und zur „Dekolonisierung des Revolutionsbegriffs“(145) beigetragen.

W. Küttler unterstreicht, dass das Werk von Engelberg stärker mit Nationenbildung aus linker Sicht, denn explizit mit Revolution befasst war, obwohl das gewissermaßen „funktionale Äquivalent“ einer „Revolution von unten“, die sog. „Revolution von oben“ (in ihrer ambivalenten, relativen Fortschrittlichkeit) mit seiner Nationalstaatsanalyse eng verwoben war. (Auf die damit ausgelöste Diskussion in der und über die DDR-Geschichtswissenschaft gehen die Beiträge von G. Iggers (193ff.) aus liberaler Sicht, daher sehr kritisch, von R. v. Thadden (207ff.) und von W. Schmidt (213ff.) detaillierter ein.) Engelbergs Beitrag zur – in den 70er und 80er Jahren erfolgten – wesentlichen „Ausweitung der Akzeptanz des Erbes deutscher Geschichte in den komplizierten Wechselwirkungen von Fortschritt und Rückschlägen“ (166) wird von ihm ebenso hervorgehoben wie die insbesondere in der monumentalen Bismarck-Biographie eindrucksvoll demonstrierte „Zusammenführung sozialgeschichtlicher Analyse und biographischer Methode“. (170)

Der Beitrag M. Keßlers beschäftigt sich mit den autobiographischen Zeugnissen Walter Markovs, wobei die vielfältigen Facetten und Phasen seines Lebens („Wieviele Leben lebt ein Mensch?“, so der Titel seiner aus dem Nachlass herausgegebenen Autobiographie von 2003) sensibel nachgezeichnet werden: Neben seiner imponierenden Sprachkompetenz (Markov beherrschte über 10 Sprachen), seinem frühen wissenschaftlichen Werk und seinem politischen antifaschistischen Kampf, den 11 Jahren Zuchthaus bei den Nazis und der wechselvollen akademischen Karriere in der neu entstandenen DDR an der Leipziger Universität (1951 als „Titoist“ aus der SED ausgeschlossen), sind seine wissenschaftliche Kreativität und Gradlinigkeit, die schwer durchzuhalten waren, bemerkenswert und typisch für marxistische Intellektuelle in jener Periode. „Trotz der infamen Behandlung durch Pseudokommunisten der SED hielt Markov an der Hoffnung fest, die DDR – und noch viel mehr die Sowjetunion nach Stalin – könne eine, womöglich zuerst fragile Einheit von Demokratie und Sozialismus allmählich bewerkstelligen. Diese Hoffnung durchzieht auch seine autobiographischen … Schriften.“ (187)

Den Initiatoren der Gedenkveranstaltung und den Herausgebern des Bandes ist dafür zu danken, dass sie mit ihrer Initiative nicht nur in differenzierter und eindrucksvoller Weise an Höchstleistungen der DDR-Geschichtswissenschaft zu erinnern vermochten, sondern zugleich auch an wichtige – oft übersehene – Teile der DDR-Geschichte selbst.

Dieter Boris

Hightech-Kapitalismus
in der Großen Krise

Wolfgang Fritz Haug, Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise. Berliner Beiträge zur Kritischen Theorie, Band 14, Argument Verlag, Hamburg 2012, 366 S., 19,50 Euro

Es gehört zu den liebens- und nachahmenswerten Gewohnheiten von W. F. Haug, nicht nur bestimmte Forschungsstränge über Jahrzehnte zu verfolgen, sondern auch die daraus entstandenen Bücher zu aktualisieren oder fortzusetzen. Das gilt für die „Kritik der Warenästhetik“, für die „Vorlesungen zur Einführung ins Kapital“ und nun auch für den 2003 erschienenen Band „High-Tech-Kapitalismus“, der als „Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise“ jedoch mehr als eine Fortsetzung und erst recht keine einfache Aktualisierung ist. Es geht um die Vermessung eines ungewissen Epochenwechsels. Das ist mehr als ein weiteres Buch zur Krise, sondern eines, das die unterschiedlichsten Perspektiven einnimmt, um „Triebkräfte, Strukturen, Bewegungsformen und Tendenzen der computerbasierten Produktionsweise und der von ihr in den Veränderungssog gezogenen Staatenwelt“ (9) zu studieren. Das geschieht ungeheuer materialreich und spannend, zwingt aber vor allem, und das ist der nicht zu überlesende Nebeneffekt, sich an dialektisches Denken zu gewöhnen. Haug wirft keine wirklich neuen Fragen zur Krise auf, aber er stellt sie neu und hinterfragt allzu leichtfüßige Deutungsmuster. Das beginnt schon auf der Suche nach dem Neuen in der gegenwärtigen Krise, wo sich Haug von der gängigen Definition einer „Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ (Attac) absetzt und bemerkt: „Das läuft auf die gewiss vernünftig klingende Perspektive hinaus, die Finanzmärkte auf eine Weise zu regulieren, die spekulative Blasen verhindere. Aber erstens sind Blasen in der Finanzgeschichte seit Jahrhunderten bekannt. Und zweitens bleibt es bei Symptombehandlung, solange wir die Prozesse ignorieren, deren Effekt die Dominanz der Finanzmärkte ist.“ (67) Folglich widmet er sich zunächst der Epochenspezifik, vor allem der ökologischen Krise und – in Fortsetzung seines ersten Buches zum High-Tech-Kapitalismus – „der epochal dominanten, auf dem kapitalistischen Einsatz von Informationstechnologie gründenden Produktionsweise.“ (78) Das klingt zunächst fast banal, mündet jedoch in eine konkret präzise Beschreibung verschiedener Anwendungen, in deren Verlauf sichtbar wird, dass es vor allem diese Technologie ist, die aus der normalen, dem Kapitalismus selbstverständlichen Spekulation, einen ungewöhnlichen Krisengenerator macht. „Die Hochtechnologie tut nichts anderes, als der Spekulation die Räume der großen Zahl und der kleinen Differenzen zu öffnen… Sie grast im Nu das System nach Profitpotenzialen ab, und ihre Operationen, mit denen sie die entdeckten Möglichkeiten verwirklicht, verdichten und beschleunigen das System.“ (92) Da schrumpft der eingängige Spekulationsvorwurf zusammen und macht den Blick frei für die aktuelle Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Entsprechend scheinen viele Kapitel dieses ersten Teils, wie etwa das „theoretische Intermezzo“ zum Marxschen Krisenbegriff, Bekanntes zu wiederholen, doch zeigt sich beim Lesen schnell, dass es sich dabei eher um ein Zurückholen handelt. Es geht dem Autor um den Nachweis, dass die scheinbar blinde Triebkraft der Finanzkrise nirgendwo anders zu suchen ist als in der altbekannten Überakkumulation. „Nicht nur die neoklassische Othodoxie“, so Haug, „auch viele ihrer neokeynesianischen Kritiker neigen dazu, die Augen davor zu verschließen, dass das Grundproblem eines der Realwirtschaft ist.“ (119) Neu im „reifen Kapitalismus“ sind allerdings die Möglichkeiten, der Selbstzerstörung des überakkumulierten Kapitals durch neue Finanzprodukte und die Ausweitung des Kredits entgegenzuwirken. Was freilich ohne die scheinbar unbegrenzte Schuldfähigkeit der USA ebenso wenig möglich gewesen wäre, wie ohne den Investitionshunger der neuen Kapitalismen.

Mit dieser Feststellung kommt Haug im zweiten Teil des Buches auf das Verhältnis von China und den USA, was gleichzeitig die Frage nach deren Hegemoniefähigkeit aufwirft. Hatten doch Immanuel Wallerstein und andere in der Großen Krise die Frage gestellt, ob sich in ihr nicht nur eine lange Welle ökonomischer Entwicklung erschöpft, sondern auch das Ende der Hegemoniefähigkeit der USA. Dazu klopft der Autor zunächst einmal Lenins Imperialismustheorie ab, stellt fest, dass seine „Hefte zum Imperialismus“ mehr Aufschluss für die Jetztzeit abgeben, als das theoretische Hauptwerk und verwirft angesichts der durch den Hightech-Kapitalismus hervorgebrachten Produktivkraftentwicklung zwar „Lenins Rede vom letzten Stadium des untergehenden Kapitalismus“ (144), gewinnt der Imperialismustheorie aber dennoch Neues ab, indem er über Lenin zu Rosa Luxemburg kommt. Imperialismus ist eben nach Luxemburg nicht nur Raub, sondern die permanente Verwandlung nichtkapitalistischer Verhältnisse in kapitalistische und Kapitalexport ins Ausland. Eine Art fortwährender ursprünglicher Akkumulation, für die es nach dem Ende des sowjetischen Machtblocks ausreichend Gelegenheit gab. Haug reserviert den Imperialismusbegriff „für gewaltbasierte zwischenstaatliche Unterwerfungs- und Ausbeutungsverhältnisse und für Zusammenstöße mit rivalisierenden Politiken anderer Staaten“ (151), während er das Imperium durch das Übergewicht der Hegemonie gekennzeichnet sieht. Hegemonie der USA heißt dementsprechend nicht einfach Herrschaft, sondern die Fähigkeit, Konsens zu erzwingen, international geltende Regeln durchzusetzen und den Spielraum der transnationalen Konzerne zu sichern. Haug schlussfolgert: „Das Imperium neuen Typs wäre demnach das gewaltgeschützte Operationsfeld des transnationalen Kapitalismus… Für dieses Imperium kamen – und kommen in absehbarer Zeit – einzig die USA als der ‚selbstverständliche’ Hegemon in Frage.“ (168)

Doch so kommt der Leser nicht davon. In der Folge treibt ihn Haug durch die Widersprüche, die sich aus dieser Rolle für die USA ergeben. Zwar besitzen sie das militärische Gewaltmonopol, nach wie vor auch die Weltankerwährung, sind das Zentrum der Hightech-Konzerne und Hauptsitz der Finanzindustrie, aber die daraus entstehenden Lasten werden nicht nur immer untragbarer, sondern die Multipolarität der Welt beginnt die Herr-Knecht-Verhältnisse umzukehren (243). An keinem Verhältnis wird dies deutlicher, als dem zwischen den USA und China. Zunächst hat China hinnehmen müssen, dass es als verlängerte Werkbank des Westens am unteren Ende der Wertschöpfungskette billige industrielle Massenware produzierte, und dies vor allem zum Nutzen transnationaler Konzerne, doch die Abhängigkeit Chinas von den entwickelten kapitalistischen Ländern ging von Anfang an mit ihrem Gegenteil schwanger, weil diese ohne die chinesischen Investitionen nicht mehr ihre Überakkumulationsprobleme lösen konnten. Andererseits hatte China seine Exportüberschüsse in Dollarreserven angelegt, so dass es ein gesteigertes Interesse an der Stabilität dieser Weltwährung entfalten musste. Den Tausch in Euro-Reserven aber, worauf mancher in der EU gewettet hatte, würde den Dollar und damit den Reichtum Chinas zwangsläufig abschmelzen lassen. Haug widmet zwei lange und faktenreiche Kapitel dem inneren Zustand der USA und dem Versagen Barack Obamas, kommt aber dennoch zu dem Schluss: „Das Ende des Griffs der USA nach Weltherrschaft bedeutend nicht zwingend das Ende ihrer Hegemonie, sondern könnte sogar als eine Bedingung der konkreten Rückgewinnung von Hegemonie verstanden werden.“ (187)

Bei allem stehen für Haug jedoch nicht die USA im Zentrum seiner Hegemonie-Kritik, sondern, wie es in der Überschrift des zehnten Kapitels heißt: „Chimerika – das amerikanisch-chinesische Paradox“ (229). Ein Paradox, das nicht nur aus gegenseitiger Abhängigkeit bei gleichzeitiger Konkurrenz entspringt, sondern aus der „Einheit und dem Kampf“ zweier politisch-ideologisch radikal entgegengesetzter Weltmächte, „die wie ein Gemisch aus Feuer und Wasser“ erscheinen (233). Haug analysiert umfassend die polit-ökonomische Strategie Chinas, geht auch der Frage nach, was daran noch marxistisch sei, gibt aber die Frage an den Marxismus selbst zurück, dessen eigene Widersprüche sich als „verstörende Tatsachen“ in der chinesischen Entwicklung widerspiegeln. Was bleibt ist die Feststellung, dass es sich immer noch um das größte Transformationsprojekt seit der Oktoberrevolution handelt.

Das Buch schließt, wie es begonnen hat, nämlich mit den Erscheinungsformen der Gegenwart, diesmal nicht der Krise, sondern des Widerstands und der Alternativen. Es geht um den Hightech-Antikapitalismus und seine Vergesellschaftungsformen, um „die Rebellion, die aus dem Netzwerk kam“ (307) und die „Krise des ‚demokratischen’ Kapitalismus“ (315).

Harald Werner

Die Finanzmarktkrise in 70 Stichworten

ISW-Report 87, ABC der Schulden- & Finanzkrise, München, Dezember 2011, 39 S., 4 Euro

Ein wenn auch kurzes Lexikon in Papierform zu veröffentlichen ist in den Zeiten von Google und Wikipedia ein eher mutiges Unterfangen. Das Münchener Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung hat sich aber mit seinem kleinen ABC an verbreiteten traditionellen Lesegewohnheiten orientiert – und in der Tat greift die übergroße Mehrheit der Leser wohl immer noch zur Zeitung, wenn sie sich etwas gründlicher über das Tagesgeschehen informieren will. Dem an Wirtschaftsthemen mehr als oberflächlich interessierten Zeitungsleser leistet das ISW-Heft hierbei gute Dienste: Es liefert Hintergrundwissen, wobei es – wie die Redaktion in einem kurzen Editorial erklärt – nicht um lexikalische Definitionen geht (die kann man sich in der Tat gut elektronisch beschaffen), sondern um ein kritisches Verständnis der jeweiligen Krisenerscheinungen. So kann der ökonomisch interessierte, aber nicht vorgebildete Leser rasch mal nachschlagen, was ein „Derivat ist, wie das „Bankensystem“ funktioniert, welche Aufgaben „Zentralbanken“ haben usw. und sich vor allem darüber informieren, in welcher Beziehung diese zur gegenwärtigen Krise stehen. Die meisten Beiträge sind kurz und verständlich geschrieben und treffen den Kern der Sache.

Trotzdem ist dem Redaktionskollektiv zu raten, bei einer etwaigen Neuauflage (angesichts der Dynamik der Vorgänge an den Finanzmärkten wäre eine regelmäßige Aktualisierung wahrscheinlich sinnvoll) einige Veränderungen zu überlegen. Dies betrifft zunächst die Auswahl der Stichworte – 70 Begriffe sind nicht viel, sie müssen daher gut gewählt sein. Es fehlt z.B. der Begriff des ‚Finanzmarktgetriebenen Kapitalismus‘, der inzwischen als Kennzeichen der gegenwärtigen Entwicklungsetappe des Kapitalismus weit verbreitet ist – das vorhandene Stichwort „Kasino-Kapitalismus“ hat einen polemischen Geruch und trifft die Sache m.E. nur unzureichend. Auch wenn der Sachverhalt in anderen Kontexten diskutiert wird: Ein Stichwort „Finanzmarkt“, das kurz den Zusammenhang zwischen fiktivem und realem Kapital erläutert, wäre ratsam: Es handelt sich gegenwärtig vor allem um eine Krise der Finanzmärkte, die auf das Gesamtsystem ausstrahlt. Ein wichtiges Element zur Erklärung der Funktionsweise des Systems, nämlich die „Boni“ der Banker, fehlt ebenfalls. Einige behandelte Begriffe wie z.B. „Geld“ haben doch einen eher lexikalischen Charakter und könnten m.E. wegfallen, ebenso wie rein polemische Bezeichnungen wie „Zocker“. Im Kontext der „Rohstoffspekulation“ fehlen zentrale Begriffe wie ETF und ETC, die in jedem einschlägigen Zeitungsartikel vorkommen – erst mit der Entwicklung dieser Instrumente hat sich diese eigentlich ja sehr alte Spekulationsform verselbständigt.

Abgesehen von der Auswahl der Begriffe, die sicherlich immer diskussionswürdig bleibt, sind auch einige inhaltliche Fragen anzusprechen. So ist m.E. bei der „Aktie“ und beim Aktienhandel vor allem der dramatisch beschleunigte Umschlag, gemessen an der durchschnittlichen Haltedauer, und nicht so sehr die Veränderung der Aktionärsstruktur wichtigstes Kennzeichen der Gegenwart: Die Aktie ist eben nicht mehr vorwiegend ein Finanzierungs- und Beherrschungsinstrument, sondern ein kurzfristig orientiertes Spekulationsobjekt. Und Hauptkennzeichen der „Shareholder-Value-Orientierung“ ist weniger der gestiegene Anteil der Dividendenausschüttung, sondern – wie schon der Name sagt – die Ausrichtung der Unternehmenspolitik am Aktienkurs: Nicht die Dividende ist das Hauptziel des spekulativ orientierten Anlegers, sondern die Kursveränderung, was erst die Realisierung von kurzfristigen Gewinnen durch Kaufen und Verkaufen erlaubt und die Börse zum „Kasino“ werden lässt. Ganz unzufrieden ist der Rezensent mit dem Stichwort „Staatsschulden“: Ganz abgesehen davon, dass dort ein zentraler Begriff, nämlich die unsinnige „Schuldenbremse“,, nicht vorkommt, wird zwar die „Schuldentragfähigkeit“ (Schuldendiensttragfähigkeit) richtig als Fähigkeit der Staaten erklärt, „Zinsen und Tilgungen für ihre Schulden zu leisten“ (S. 33), dann aber mit Bezug allein auf die Relation Staatsschulden/Bruttoinlandsprodukt behauptet, diese sei bei vielen Staaten überschritten: Am schlechtesten schneidet dabei Japan mit einer Quote von 220 Prozent ab. Tatsächlich ist die japanische Staatsverschuldung zwar sehr hoch, sie ist aber gleichzeitig fast ausschließlich inländisch finanziert und zudem zu extrem niedrigen Zinsen. Man müsste also mindestens den Anteil des Schuldendienstes an den öffentlichen Einnahmen bzw. am BIP als Information hinzufügen. Insgesamt sieht der Autor des Stichworts die Staatsverschuldung offenbar nur negativ – tatsächlich ist aber nicht einzusehen, warum langfristige öffentliche Investitionen nicht auch über Kredite finanziert werden sollen: Nicht die Staatsverschuldung selbst, sondern die Finanzierungsform und ihre Auslieferung an die Finanzmärkte ist das Problem. Dies war im Übrigen auch die Ansicht der Schöpfer des Grundgesetzes, bevor die neoliberale Mehrheit im Bundestag die erwähnte Schuldenbremse einführte: Vorher sollte sich die Staatsverschuldung an den öffentlichen Investitionen orientieren.

Diese kritischen Bemerkungen sollen das Gesamturteil aber nicht schmälern: Das ABC ist in seiner handlichen und überschaubaren Form eine nützliche und gute Idee, die – wie die meisten guten Ideen – verbesserungsfähig ist.

Jörg Goldberg

Wirtschaftstheorie im
Systemvergleich

Christa Luft, Klaus Steinitz, Günter Krause (Hrsg.), Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen Deutschlands, Rosa-Luxemburg-Stiftung Reihe Texte Nr. 74, Karl Dietz Verlag Berlin 2012, 203 Seiten 14,90 Euro

Vor vielen Jahren studierte ich Ökonomie an der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale. Bei Peter Thal, der im hier zu besprechenden Buch einen Beitrag über das Studium der Wirtschaftswissenschaften an dieser Universität beisteuert, habe ich „Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen“ gehört, eine Vorlesung, die mein Faible für dieses Fach bis heute prägt. Besonders eindrucksvoll war die Veranstaltung über Adam Smith, dessen Hauptwerk Thal damals neu ins Deutsche übersetzt hatte. Hier habe ich gelernt, einen Text kritisch zu lesen, ihn als Dokument seiner Entstehungszeit zu würdigen und historisch einzuordnen. Und natürlich stehen die von Thal übersetzten und in der DDR erschienenen Bände in meinem Bücherschrank und tragen alle üblichen Zeichen der Nutzung. Ob die Vertreter der Neoklassik, die nicht müde werden, bei der Verteidigung der kapitalistischen Marktwirtschaft Smiths „unsichtbare Hand“ zu bemühen, ihn auch studiert haben oder je eine solche Vorlesung gehört haben? Wirtschaftsgeschichte, Theoriegeschichte? Fehlanzeige. Diese Fächer und damit auch das Studium von Adam Smith, des Vaters der bürgerlichen Ökonomie, dessen Lehren wir in einem „ach so einseitig“ marxistisch geprägten Studium noch kennen lernten, sind an deutschen Universitäten inzwischen fast komplett abgewickelt. Selbst über John M. Keynes, auch ein im westdeutschen Wissenschaftsbetrieb lange Zeit Vergessener, hat Thal bei uns gelesen. Und ich verstehe auch die Bitterkeit, mit der er berichtet, dass der Zeitabschnitt der DDR und die namhaften Professoren, bei denen auch ich studierte, in der aktuellen Geschichtsschreibung der Martin-Luther-Universität nicht mehr vorkommen, so als sei diese Zeit keiner Erwähnung wert. Aber auch in der DDR wurde solides wirtschaftswissenschaftliches Wissen vermittelt und viele Absolventen profitieren „immer noch von Erkenntnissen und vom handwerklichen Rüstzeug, das (ihnen) die Ausbildung z.B. in Mathematik, Statistik, Informatik, Volkswirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte“ mitgegeben hatte, wie eine ehemalige Studentin schreibt, die heute beim Statistischen Amt der Europäischen Union tätig ist (107). Übrigens waren DDR-Wirtschaftswissenschaftler noch in der Wendezeit durchaus gefragte Gesprächspartner im Reformprozess und wurden auch an westliche Universitäten eingeladen. Erst als mit dem Ende der DDR die Machtfrage auch im Wissenschaftsbetrieb geklärt war, wurden sie überwiegend zu Persona non grata erklärt. Hätte man es nicht wissen müssen?

Natürlich waren wir von einer ziemlich dogmatischen Variante des Marxismus oder Marxismus-Leninismus indoktriniert, wie alle ostdeutschen Autoren dieser „Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen“ aus eigener Erfahrung berichten. So, wie wir uns mit Adam Smith kritisch auseinandersetzten, hätte das durchweg der Fall sein müssen. Und noch viel kritischer hätte die Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit der DDR und des Sozialismus sein müssen. Soweit sie an der Gestaltung der Wirtschaftstheorie in der DDR aktiv beteiligt waren (Günter Krause, Christa Luft, Klaus Steinitz, Harry Nick, Reinhold Kowalski, Walter Kupferschmidt, Klaus Müller, Peter Thal und Norbert Peche) kommen die Autoren dieses Buches nicht umhin, dies ohne Beschönigung zuzugeben und die Mechanismen der ideologischen Integration aufzuzeigen. Die anderen Autoren, die vor allem über den Zustand der Wirtschaftstheorie in der alten und neuen Bundesrepublik schreiben (Klaus Peter Kisker, Heinz-J. Bontrup und Rudolf Hickel, aber auch Klaus Müller und Norbert Peche) geben kein weniger vernichtendes Urteil über die gegenwärtige Situation ab: Weitgehend herrsche der Einheitsbrei neoklassischer Theorien vor. Ich würde nicht so weit gehen, das Versagen der DDR-Wirtschaftstheorie mit dem Desaster des herrschenden Mainstream in der jüngsten Krise gleichzusetzen (immerhin ist die BRD nicht zusammengebrochen und in der Krise wurde, wie Hickel schreibt, „auf die lange Zeit praktizierte Verteufelung von Konjunkturprogrammen verzichtet“ (166), das herrschende Dogma also zumindest zeitweilig suspendiert), aber Vergleichbares gibt es schon. Christa Luft drückt es so aus: „So wie in der DDR und anderen sozialistischen Ländern den Ökonomen und Ökonominnen viel zu lange zuvorderst die Aufgabe nachträglichen Begründens „weiser“ Beschlüsse der Partei- und Staatsführung zugedacht, besser zugemutet war, so übernehmen die Vertreterinnen und Vertreter der „reinen“ ökonomischen Lehre heute freiwillig die Rolle von Propagandisten neoliberaler Politik“. Und: „Die Wirtschaftswissenschaft wird ihrem Charakter als Sozialwissenschaft nicht gerecht, solange sie sich sklavisch von Dogmen leiten lässt und diese nicht dem Praxistest unterwirft…“ (184).

Das Buch entstand im Ergebnis einer Tagung, die an die Abwicklung der Hochschule für Ökonomie in Berlin, der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Bildungseinrichtung der DDR, vor zwanzig Jahren erinnerte. Auf dieser Tagung ging es nicht um Nostalgie oder Traditionspflege, sondern darum, Erfahrungen mit und in der Wirtschaftstheorie in DDR und BRD zu vergleichen und ein vorläufiges Resümee zu ziehen. „Die Ost-West-Vergleiche kommen einer Reihe überraschender Analogien auf die Spur“, kündigt der Verlag diesen Band an. Auch im heutigen Wissenschaftsbetrieb sei – wie eben auch in der DDR – die Freiheit der Wissenschaft, vorurteilsfreie Wahrheitssuche, Offenheit und Pluralität in Lehre und Forschung ein ungelöstes Problem. Aber wer beide Systeme kennt und erlebt, kann einen wichtigen Unterschied trotzdem nicht übersehen. Er wird schon daran deutlich, dass dieses verdienstvolle Buch mit seiner kritischen Haltung zur gegenwärtigen ökonomischen Lehre und Forschung publiziert werden kann. In der DDR hätte es nie und nimmer erscheinen dürfen. Während eine Reihe der beteiligten Autoren, obwohl in ihrer Kritik der herrschenden Lehre gewiss zu einer Minderheit der heutigen Ökonomenzunft gehörend und beträchtlichem Marginalisierungsdruck unterliegend, doch im Wissenschaftsbetrieb verankert ist, wären die ostdeutschen Autoren angesichts ihrer kritischen Haltung zur DDR-Wirtschaftstheorie in der DDR allesamt ihrer Lehrstühle verlustig gegangen – wären also abgewickelt worden – und hätten sich wohl, wie das hieß, „in der Produktion bewähren“ müssen, um nicht Schlimmeres zu vermuten. Es sollte also nicht gering geschätzt werden, dass dieses Buch erscheinen kann. Natürlich erleben wir heute, wie der Mainstream in Lehre und Forschung, in der Publizistik und in den Massenmedien, in der Berufungspolitik, in der Politikberatung und Finanzierung übermächtig ist und fast alle anderen Meinungen niedergewalzt werden. Wir erleben aber just in diesen Monaten auch eine Bewegung der Kritik und vielleicht des Aufbruchs innerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Selbst Frank Schirrmacher, der Herausgeber der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung konnte dazu von Luft zitiert werden: „So abgewirtschaftet (linke Gesellschaftskritik) schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht.“ (179) Liegt hier nicht eine Riesenchance?

Deshalb sei an dieser Stelle besonders auf jene Beiträge in dem Buch hingewiesen, die Schirrmacher, egal wie ernst er das letztlich gemeint hat und – wichtiger – in seinem Blatt und mit seinem Einfluss auch zu praktizieren bereit wäre, aufgreifen und sich der Frage stellen, wohin sich linke oder alternative Wirtschaftstheorien heute bewegen, welche Fragen sie aufwerfen müssten und wie sie sich im Wissenschaftsbetrieb zu positionieren hätten. Besonders Klaus Steinitz, Rudolf Hickel und Christa Luft, aber auch Klaus Müller und Harry Nick stellen sich diesem Problem. Andere Beiträge versuchen eine Antwort implizit zu geben. So weist Heinz-J. Bontrup darauf hin, dass es neben den methodischen Schwächen der herrschenden Lehre, zum Beispiel die zum Selbstzweck entwickelte Mathematisierung, vor allem um inhaltliche Defizite wie die Reduktion der Arbeit auf einen Produktionsfaktor geht.

Den an den diesbezüglichen Beiträgen in diesem Buch beteiligten Ökonomen geht es nicht um linke Wissenschaft und ihre innere Struktur und Methode an sich, sondern, wie ich sie verstehe, darum, welche praktischen Fragen der gegenwärtige Kapitalismus und seine multiple Krise aufwerfen. Der eigenen Lektüre soll hier nicht vorgegriffen werden, aber soviel sei festgestellt: Trotz vieler grundsätzlicher gemeinsamer Feststellungen weist die Haltung dazu eine ganze Reihe von Differenzierungen auf. Während einige Autoren die Frage einer über den gegenwärtigen Kapitalismus hinausgehende Entwicklung aufwerfen, die Fehler und Grenzen des ersten Sozialismusversuchs und seiner Theorie berücksichtigt, stellen andere die Suche nach einem angemessenen Regulierungssystem im Kapitalismus in den Mittelpunkt. Ein Manko freilich darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Trotz des Beitrages von Reinhold Kowalski über das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR, das sich der Kapitalismusforschung widmete, bleibt die Reflexion der „Pol. Ök. Kap.“ in der DDR unterbelichtet. Auch Günter Krause, der als erster eine profunde Arbeit über „Wirtschaftstheorie in der DDR“ schon 1998 beim Marburger Metropolis-Verlag publizierte, hatte dieses Gebiet schon damals explizit aus seiner Analyse ausgeschlossen. Dabei ist gerade heute eine zeitgemäße Politische Ökonomie des Kapitalismus notwendig, wozu auch gehört, sich des vorliegenden Erkenntnisstandes kritisch zu vergewissern. Es ist Rudolf Hickel, der in seinem Beitrag die Mahnung erkennen lässt, diesbezügliche Forschungen auch in der DDR nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen. Trotz dieses Wermutstropfens ist die „Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen“ mit ihren differenzierten Sichten ein gelungenes Projekt. Vor allem wer sich über die DDR-Wirtschaftstheorie sachkundig machen will, kommt künftig an dieser Arbeit nicht vorbei.

Jürgen Leibiger

Auflösung der Waren- und Wertformen?

Heinrich Harbach, Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System gesellschaftlicher Arbeit, Karl Dietz Verlag, Berlin 2011, 222 S., 14,90 Euro

Harbachs Buch erschien im Jahre vier der neoliberalen Systemkrise. Die Suche nach einer anderen Wirtschaftsordnung ist also durchaus angesagt. Sie beginnt für Heinrich Harbach – es handelt sich beim Namen des Autors um ein Pseudonym – mit der kritischen Analyse der bisher als Ersatz für die Lenkung über den Markt von linken Wirtschaftswissenschaftlern angebotenen Alternativen. Harbach will alles, was an Theorie und Praxis der Politischen Ökonomie Sozialismus bekannt ist, auf den Prüfstand gestellt wissen und darlegen „was nicht funktionierte und warum es nicht funktionierte.“ (S. 9)

Als erstes nimmt Harbach sich den Realsozialismus vor. Der habe einen Versuch dargestellt, in die dominierende Koordinierung der gesellschaftlichen Beziehungen über den Plan Wert- und Warenform zu integrieren und das hat nach Harbachs Auffassung schlichtweg nicht funktioniert. Um überhaupt existieren zu können, musste das realsozialistische System mit politischer und militärischer Gewalt zusammengehalten werden, denn in seinem Gesamtzusammenhang sei das Lenkungssystem dysfunktional gewesen, meint Harbach. Mehr noch: „Ökonomisch und politisch war der Realsozialismus ein Rückschritt hinter Errungenschaften, die sich die Menschheit mit der bürgerlichen Gesellschaft erkämpft hat.“ (S. 9). „Völlig abwegig“ sei es daher, seine Strukturen zu rechtfertigen oder zu verklären. Scharf wendet Harbach sich gegen diejenigen, die „auch nur einzelne Teile als erhaltenswert anpreisen und postum ‚retten’ wollen.“ (S. 9)

Gleichfalls unversöhnlich gibt sich Harbach gegenüber den Anhängern der sozialistischen Marktwirtschaft. Bei dieser Mischform dominiere die marktwirtschaftliche Koordination die Beziehungen und die bewusste Gestaltung der Gesellschaft bleibe sekundär. Derartige Konzepte könnten keine realistische Übergangsform zu einer bewusst gestalteten Gesellschaftsordnung sein, die sich als Sozialismus charakterisieren ließe. Anders als im Falle des Realsozialismus, der immerhin ein strategisches Ziel – die Abschaffung der Waren- und Wertform zugunsten des Planes – verfolgt hätte, handele es sich bei der sozialistischen Marktwirtschaft „um theoretisch inkonsistente Konzepte, die nach dem Scheitern des Realsozialismus aus der Mottenkiste geholt wurden, in Ermangelung anderer theoretischer und praktischer gesellschaftlicher Alternativen.“ Mit Sozialismus, so Harbach, hätte dies nichts zu tun. Es handele sich vielmehr um linke Konzepte, „die auf eine überzeitliche und übergesellschaftliche ‚Marktwirtschaft’ setzen und das Adjektiv ‚sozialistisch’ vorangestellt bekommen – damit wenigstens noch ein bisschen Hoffnung bleibe.“ (S. 206)

Die Äquivalenzökonomie eines Arno Peters, Heinz Dieterichs bzw. der Schotten Cockshott und Cottrell dürfte vor Harbach eher Gnade gefunden haben, mag der Leser vermuten. Schließlich haben sie sich „für sozialistische Planung und direkte Demokratie“ (so der Untertitel des Buches der Schotten) ausgesprochen. Doch auch den von beiden vorgeschlagenen Weg mit Hilfe der gewachsenen Leistungskraft der Computertechnologie auf Grundlage der Arbeitswertlehre neue Möglichkeiten der wirtschaftlichen Planung zu erschließen, hält Harbach für nicht gangbar. Die Äquivalenzökonomie sei kein qualitativ neuer Versuch einer gesellschaftlichen Veränderung im Sozialismus. Sie sei „ein Irrläufer ins Quantitative“ (S. 162), der schon im Realsozialismus – wenn auch ohne Computertechnologie – experimentell erprobt worden sei.

Nach der Abhandlung der nach Harbachs Meinung nicht geeigneten Lösungsversuche – ausführlicher wird noch auf die Auffassungen von Fritz Behrens und Anatoli K. Pokrytan eingegangen – erwartet der Leser ungeduldig die Superlösung, entwickelt und vorgestellt vom Autor selbst. Doch da hält sich Harbach klug zurück. Er bekennt, „keinen allein selig machenden Ausweg aus dem irdischen Jammertal“ bieten zu können. „Ein neues Projekt für die Überwindung entfremdeten Daseins“, so der Autor, „lasse sich noch nicht entwickeln, wohl aber die Richtung definieren, in der zu suchen wäre.“ (S. 9) Seine Schrift sei als Einladung zu verstehen, „das heute noch Undenkbare“ gemeinsam zu entwickeln.

Harbach glaubt, dass die Zeit für ein derartiges Projekt reif sei. Ausgangspunkt ist für ihn die digitale Revolution. Sie benötige für ihre adäquate Umsetzung direkter gesellschaftlicher Vermittlungsformen. „Der Prozess der Herstellung dieser Formen schließt die Auflösung der Waren- und Wertformen ein. Weltweite Verbindungsmöglichkeiten auf egalitärer Basis bei individueller Gleichberechtigung werden möglich.“ Dank digitaler Netzwerktechnik und der egalitären Strukturen moderner Informations- und Kommunikationstechnik seien Endproduzent und Konsument zunehmend häufiger miteinander unvermittelt, d. h. ohne Markt verbunden. Eine zunehmende Anzahl von Produkten habe den Weg zum Verbraucher über den höchst unsicheren Irrpfad „Markt“ einfach nicht mehr nötig. Auf kommerzielle Vermarktung könne letztlich generell verzichtet werden. (S. 159) Ein solches „direktes, unmittelbar gesellschaftliches System, nicht zentralistisch und autoritär, sondern dezentral-autonom und gleichzeitig zentralistisch bewusst gestaltet sowie selbstorganisierend“ (S. 10) sei nunmehr entwickelbar, dürfe nicht mehr als „Traumtänzerei“ abqualifiziert werden.

Doch warnt Harbach, man könne das „neue System der gesellschaftlichen Arbeit“ nicht per Dekret einführen, man dürfe die Probleme des Übergangs keinesfalls ignorieren – was Harbach den Äquivalenzökonomen vorwirft. Das Auffinden funktionierender Übergänge vom System der allgemeinen Warenwirtschaft zu einem gesellschaftlichen System mit unmittelbaren und direkten gesellschaftlichen Beziehungen bezeichnet Harbach heute als dringlich, als Aufgabe ersten Ranges.

Was Harbachs Buch auszeichnet ist eine auf das Wesentliche konzentrierte erfrischend polemische Analyse der bekanntesten Theorien der Politischen Ökonomie des Sozialismus. Wenig tiefschürfend sind dagegen seine Ausführungen über die realsozialistische Praxis, die durchaus mehr war als Realisierung von vorgegebenen Theorien und die auf die Dysfunktionalitäten in der Wirtschaft nicht nur stur mit Repression, sondern auch schöpferisch mit Reformideen und Reformmaßnahmen antwortete.

Der von Harbach vorgestellte neue Ansatz bleibt abstrakt, aber es lohnt sich mit Sicherheit, in der vom Autor gewiesene Richtung nachzudenken; wie das Buch überhaupt eine Anregung für all jene ist, die über Alternativen zum marktradikalen System nachdenken, das sich als Steuerungsinstrument von Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend selbst in Frage stellt.

Jörg Roesler

Sozialismus von der
Kommune her gedacht

Manfred Sohn, Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten, PapyRossa, Köln 2012, 180 S., 12,90 Euro

„Seit mehr als 200 Jahren ist die kommunale Selbstverwaltung das klassische Modell bürgerlichen Engagements in Deutschland. Die öffentliche kommunale Daseinsvorsorge ist zugleich ein zutiefst sozial ausgerichtetes Modell, in dem die Bürgerschaft selbstverwaltete Angebote und Dienstleistungen für die Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Da andere staatliche Stellen zu weit von den Bedürfnissen entfernt sind, werden diese Angelegenheiten der örtliche Gemeinschaft in den Städten, Gemeinden und Samtgemeinden orts- und bürgernah erledigt.“ Das schreibt der Niedersächsische Städtetag in der Erklärung von Hitzacker vom März 2012 und führt weiter aus, dass die kommunale Selbstverwaltung sich grundlegend von zentralistischen Systemen unterscheide. „Diese ist nicht am Gewinn, sondern am allgemeinen Nutzen orientiert.“ Bei solchen Formulierungen drängt sich schon der Gedanke auf, die kommunale Selbstverwaltung zum Ausgangspunkt grundlegender Überlegungen für eine sozialistische Zukunft zu nehmen, was Manfred Sohn mit dem vorliegenden Buch versucht hat.

Ein Buch kann man auch empfehlen, wenn man nicht mit allem übereinstimmt, was darin steht, die zentralen Thesen aber für weitere Überlegungen lohnenswert sind. Sohn kritisiert den „Irrweg des zentralisierten Sozialismus“ (101) und spricht sich für ein neues Modell aus, das über autonome Kommunen und Betriebe dezentral organisiert wird. Dieses Projekt sei dann nach dem Scheitern der Pariser Commune und den zentralistischen Sozialismusversuchen der dritte Anlauf, aus der kapitalistisch organisierten Gesellschaften auszubrechen. Den dialektischen Gesetzen gehorchend hätte die Synthese von Pariser Commune und Oktoberrevolution (23) dann auch Ähnlichkeiten mit der Ursprungsthese, was in einem sehr anschaulichen Kapitel über die Pariser Commune belegt wird.

Das Buch erhebt den Anspruch, zu der bislang nie konzentriert zu Ende diskutierten Frage Zentralität oder Dezentralität eines sozialistischen Staates (27) einen Beitrag zu liefern. Sohn weist nach, dass Marx in seiner Reflexion der Erfahrungen der Pariser Commune von einem dezentralen Modell ausgegangen war („Ganz Frankreich würde sich zu selbstständigen sich selbst regierenden Kommunen organisieren“ – MEW 17, 545) und Rosa Luxemburg schon in ihrer 1905 erschienenen Schrift „Die Organisationsfrage der russischen Sozialdemokratie“ den übertriebenen Zentralismus Lenins kritisiert hatte. Auch in der Emanzipationsbewegung der Frauen sieht er Unterstützung für seine Thesen: „Matriarchale, also von Frauen geprägte Gesellschaften sind immer dezentral organisiert gewesen.“ (58)

Die Orientierung auf einen dezentral organisierten Sozialismus ist für Sohn aber nicht einfach ein neues Zukunftsmodell. Praktische Auswirkungen soll sie auch schon in der Gegenwart haben: Nicht erst nach einer gewonnenen Revolution, sondern schon in jedem Schritt ihrer langsamen Entfaltung soll jedes Fitzelchen dem zentralisierten Kapitalismus abgerungener Macht nicht an einen zentralisierten Sozialismus übertragen werden, sondern an der Basis der Gesellschaft verankert werden, in Dörfern, Städten und Betrieben. Ein solches Herangehen verhindere eine Pervertierung des sozialistischen Gedankens, wie sie zwischen 1917 und 1989 erfolgt sei (53).

Zur ökonomischen Begründung seiner Orientierung auf die Kommunen formuliert Sohn den Gedanken, dass schon das derzeitige Entwicklungsstadium der kapitalistischen Wirtschaftsweise den Zenit der Zentralisierung ökonomischer Prozesse überschritten habe, dass also aus den Synergieeffekten von Produktionskreisläufen über regionale oder kommunale Grenzen hinaus keine zusätzlichen oder immer weniger Produktivitätsvorteile oder Skaleneffekte erwachsen (131). Und an andere Stelle schreibt er, dass die Kostenvorteile extrem internationaler Arbeitsteilung schrumpfen (104). Für diese Thesen fehlt aber die Beweisführung. Zweifel sind angebracht. Sind die schon von Marx und Engels beschriebenen Prozesse der Konzentration und Zentralisation des Kapitals und ihre zunehmende Internatonalisierung wirklich am Ende? Anders gefragt: Muss ein zukünftiges Modell einer sozialistischen Gesellschaft nicht eher auf mehreren Ebenen gleichzeitig organisiert gedacht werden? Das hieße international mit einem komplexen System völkerrechtlicher Verträge, das sozialen Ausgleich schafft, wo gegenwärtig Ausplünderung vorherrscht, auf europäischer Ebene mit einer die nationalen Ökonomien ausgleichenden Währungs- und Wirtschaftspolitik, mit verstaatlichten Banken und neuen Regulationsformen für eine wirtschaftsdemokratisch organisierte Industrie auf nationaler Ebene und natürlich auch verstärkt kommunal mit dezentralisierter Energiegewinnung und Kontrolle der Wirtschaftssubjekte durch Räte auf örtlicher Ebene.

Die Orientierung auf das Kommunale kommt bei Sohn sehr rigoros daher: „Nur so viel Zentralismus ist erlaubt wie zur Verteidigung der Revolution zwingend erforderlich ist – und kein Jota mehr.“ (170) Besser wäre es wahrscheinlich an dieser Stelle den Subsidiaritätsgedanken zu formulieren und damit der Vielfältigkeit staatlicher Handlungsebenen gerecht zu werden, die von Verkehr, Kommunikation, Energieversorgung, Währung, Wirtschaftslenkung, Sicherung sozialer und ökologischer Standards bis zu Verbraucherschutz, Justizgewährung und gleicher Bildung für alle reicht und dabei durchaus auch mal einen Gedanken der katholischen Soziallehre aufzunehmen: Nach dem Gedanken der Subsidiarität verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen (Enzyklika „Quadragesimo anno“ – Papst Pius XI.).

Den Gedanken der Subsidiarität finden wir auch in der Schweizer Nationalerfassung für das Verhältnis der Kommunen zu den Kantonen und dieser zum Bundesstaat, aber auch in der Verfassung der EU, wonach die EU mit ihren Institutionen nur tätig werden darf, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

Sohn entwirft eine Sozialismusvorstellung, die durch Prinzipen wie Gewaltenteilung (163) und Geschlechtergerechtigkeit (145) geprägt ist, geleitet von gewählten Körperschaften und einer Kontrolle der Betriebe, die drittelparitätisch neben den Beschäftigten und den Anteilseignern der Kommune Macht überträgt (153), wobei die Kommandohöhen der Volkswirtschaft (Otto Brenner), also Schlüsselindustrien, in öffentlichem Eigentum stehen sollten. Der Autor hat im Titel des Buches einen gewaltigen Anspruch formuliert, dazu aber auf jeden Fall einen mutigen und interessant geschriebenen Diskussionsbeitrag geliefert.

Hans-Henning Adler

Arabische Revolten

Fritz Edlinger (Hrsg.), Libyen. Hintergründe, Analysen, Berichte, Promedia Verlag, Wien 2011, 207 S., 15,90 Euro;

Bernhard Schmid, Die arabische Revolution: Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten, edition assemblage, Münster 2011, 118 S., 12,00 Euro;

Werner Ruf, Die arabischen Revolten und der Westen. Mit einem Essay von Magdi Gohary, Das Brot, die Würde und wir, isw-Report 86, München 2011, 30 S., 3,00 Euro;

Arabische Zeitenwende. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 39/2011, Bonn 2011, 62 S. (Beilage zu „Das Parlament“ v. 26. September 2011);

Erhard Crome, Der libysche Krieg des Westens. Hintergründe und Zusammenhänge des sogenannten Arabischen Frühlings, spotless im Verlag das Neue Berlin, Berlin 2011, 94 S., 5,95 Euro.

Seit Ausbruch der Revolte in Tunesien im Dezember 2010 und dem Beginn der Massenproteste in Ägypten im Januar/Februar 2011 sind die arabischen Länder nicht mehr zur Ruhe gekommen. Durch die Volksaufstände wurden die autokratischen Regime in Tunesien und Ägypten 2011 gestürzt, die bisherigen Staatsparteien verboten und Wahlen erzwungen. Dem Aufbrechen der inneren Konflikte folgten massive diplomatische und militärische Interventionen von außen – von Seiten arabischer (Saudi-Arabien) und europäischer Mächte (insbesondere Großbritannien und Frankreich), der USA und der NATO. Im Jemen fand im Februar d. J. unter Kontrolle Saudi-Arabiens und der USA eine die Revolte dämpfende Auswechselung des Präsidenten statt, die auch von Obama als Vorbild für andere arabische Länder propagiert wurde. Militärische Interventionen erfolgten seitens Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate in Bahrain zur Stützung des sunnitischen Herrscherhauses (März 2011) und eskalierten im Libyen-Krieg der NATO mit dem erklärten und völkerrechtswidrigen Ziel der Beseitigung Gaddafis und der Kontrolle über die Politik des Landes. Ob es auch in Syrien zu Krieg und imperialistischer Intervention kommt, ist derzeit offen. Die arabische Region ist wegen ihrer Ressourcen (Öl und Gas), ihrer strategischen Bedeutung (Suez-Kanal; Horn von Afrika), der zugespitzten Konflikte um Israel und den Iran und der innerislamischen Konflikte (Sunniten-Schiiten) geostrategisch umkämpft und ein ausgesprochenes Pulverfass.1

Die Revolten im arabischen Raum und der Verlauf der Umbrüche werden insofern von einer Vielfalt innerer und äußerer Faktoren und Interessen beeinflusst und z.T. „überdeterminiert“. Momentan, im Frühjahr 2012, hat es den Anschein, dass sie im Inneren z.T. „steckengeblieben“ sind und dass die innere wie äußere Gegenrevolution in der Vorhand ist.

Die zu besprechenden Publikationen datieren allesamt vom Sommer des letzten Jahres. Sie wurden also noch vor Ausbruch oder Ende des libyschen Krieges abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich das gesamte Tableau der Auseinandersetzungen, der unterschiedlichen Entwicklung in den verschiedenen Ländern und der strategischen Optionen der inneren und äußeren Gegenrevolution jedoch schon deutlich ab, ohne dass im Einzelnen klar war, wie sich die Kräfteverhältnisse entwickeln würden. Dies ist ja auch gegenwärtig in vieler Hinsicht noch offen.

Im Mittelpunkt der Studien steht die Frage nach Ursachen und Verlauf der Revolten. Die Autoren betonen zuerst die großen Unterschiede in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnissen der einzelnen arabischen Länder und ihren geschichtlichen Traditionen und Erfahrungen (Schmid, passim; Ruf, 3ff.; Crome, 12-20, 37-42; Länderporträts in APuZ, 16-35). Wesentliche Unterschiede betreffen Rohstoffvorkommen (Öl, Gas) und vergleichbare Einnahmequellen („Renten“), die zumindest zeitweilig zur Finanzierung von staatlichen Sozial- und Infrastrukturprogrammen verwendet werden konnten („Autoritärer Sozialvertrag“, Harders in APuZ, 9ff.), die Bevölkerungsdichte, den Grad der Ausprägung innerer ethnischer, nationaler und religiöser Konflikte, das Herrschaftssystem (Monarchien vs. Länder mit nationalrevolutionären, eigenstaatlichen und republikanischen Traditionen) etc. Die geschichtlichen und sozialen Besonderheiten Libyens werden in dem von Edlinger herausgegeben Sammelband detailliert besprochen, ebenso bei Crome, 29-36; Ruf, 14ff.: Kolonialtradition; stammesgesellschaftliche Strukturen und das Scheitern der Bemühungen Gaddafis, diese Strukturen aufzubrechen; die große Bedeutung der Öl-Rente für den Ausbau von Sozialstaats-, Bildungs-, Wohnungs- und Gesundheitssystemen; ethnische Konflikte – Berber, Instrumentalisierung der Tuareg usw.

Es fällt auf, dass die folgenreichsten Revolten de facto nur in solchen Ländern stattfanden, die nach 1945 säkulare, auf nationale Unabhängigkeit abzielende und z. T. unter „sozialistischem“ Vorzeichen von statten gehende Umbrüche erlebt hatten. Währenddessen sind die Machtverhältnisse in den arabischen Königreichen (Saudi-Arabien, Golf-Staaten mit Ausnahme Bahreins, Marokko, Jordanien) trotz einer Reihe innerer Unruhen relativ stabil geblieben. Sie scheinen „aus ihrer Traditionalität zusätzliche Legitimitätsressourcen zu ziehen“ (Crome, 22) und beherrschen innere Proteste mit einer Kombination von Gewalteinsatz, Reformversprechen und „Erkaufen“ von sozialem Frieden. Begrenzte institutionelle Reformen von oben erfolgten z.B. in Marokko oder wurden in Jordanien in Aussicht gestellt (Schmid, 51ff.), wobei sich in Jordanien die Proteste mehr gegen die Regierung und weniger das Königshaus richten (El Ouazghari in APuZ, 24ff.).

Die autokratischen Regime, die sich nach der national orientierten, säkularen Phase des Kampfes um Unabhängigkeit herausgebildet hatten und die überall ihre inneren Gegner (islamistische wie linke, sozialistische und kommunistische Kräfte) zumeist rücksichtslos verfolgten, schienen über lange Zeit ungefährdet. Ansehensverlust (insbesondere in Ägypten und Syrien) erlitten sie aber schon in den 1960er Jahren durch die Niederlage im Sechs-Tage-Krieg. Eine stärkere Hinwendung zu islamischen bzw. islamistischen Ideen wird auf Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre datiert, die verstärkt wurde im Gefolge der sowjetischen Intervention in Afghanistan und der iranischen Revolution 1979 unter Chomeini. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende der Bipolarität fiel ein strategischer Partner der auf Eigenständigkeit setzenden arabischen Staaten weg. Es folgten spätestens jetzt im Innern Privatisierungsprogramme, stärkere Öffnung für ausländisches Kapital, verbunden mit Selbstbereicherung der herrschenden Familien und Clans, exzessiver Korruption und Ausbau der repressiven Apparate.

Hinsichtlich der Ursachen und Triebkräfte der Revolten zeigen die Autoren ein von Land zu Land je nach sozialen und politischen Verhältnissen unterschiedliches, in vielem aber doch vergleichbares Muster von Faktoren. In allen Bewegungen dominieren Forderungen nach demokratischen Rechten, nach dem Ende von Tyrannei und autoritären Regierungen. Es handelt sich in erster Linie um demokratische Revolutionen. Soziale Fragen („Brotunruhen“, Arbeitslosigkeit) spielen jedoch eine wesentliche Rolle. Ägypten ist z.B. der größte Weizenimporteur der Welt. Vom Juli 2010 bis Februar 2011 verdoppelte sich der Weltweizenpreis; internationale Nahrungsmittelspekulation war eine der Ursachen. Trotz staatlicher Subventionen kam es zu deutlichen Preiserhöhungen und „Brotunruhen“ – die Nahrungsmittelausgaben machen in Ägypten durchschnittlich rd. 40 Prozent des Haushaltseinkommens aus (Asseburg in APuZ, 5).

In faktisch allen Ländern herrscht hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit und damit verbundene Perspektivlosigkeit. Ein großer Teil der Bevölkerung muss seinen Unterhalt im informellen Sektor suchen. In allen Maghreb-Ländern ist Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen weit verbreitet (Schmid, 10). Dabei verbinden sich soziale Probleme und Verelendung mit der Erfahrung von Verachtung und Demütigung seitens der Sicherheitsorgane, der Verwaltung, der Beschäftigten öffentlicher Institutionen etc. Ruf hebt hervor: „Die kollektive Erfahrung der hogra (Verachtung und Demütigung, AL) war es, die die Menschen auf die Straßen brachte, nicht nur die lumpenproletarisierten Jugendlichen, auch die Älteren, die vielen Frauen, die Muslimbrüder und die Kopten, die Mittelschichten, die Richter, die Anwälte, ja sogar Unternehmer. Die gemeinsame Basis dieser Menschen – in Tunesien wie in Ägypten – war, jenseits der Forderung der großen Masse nach Brot, die Forderung aller nach einem menschenwürdigen Leben.“ (Ruf, 10; Gohary, 24f.) Dies gilt auch für Libyen, trotz des vergleichsweise hohen Standards an Sozialstaatlichkeit, kostenlosem Schul- und Gesundheitswesen, relativ sicherer Nahrungsmittelversorgung etc. (vgl. Bedszent und Hüsgen in Edlinger, 24f., 63ff.; Ruf, 14f.; Crome, 29ff.).

In Ländern mit großen Sektoren der Lohnarbeit wie Tunesien und Ägypten, aber auch Bahrain, zählten bestehende (Tunesien) oder neu gegründete (Ägypten) Gewerkschaften zu den wichtigsten Trägern der Revolte, während sie in den noch von Stammesstrukturen geprägten Ländern (Libyen, Jemen) ohne Bedeutung waren (Schmid, passim), wobei in Libyen die materielle Arbeit weitestgehend von ausländischen Arbeitsmigranten verrichtet wurde (Schliephake in Edlinger, 31ff.). Ohne dass es hierüber im Einzelnen schon genauere Berichte gibt, wird doch überall die soziale Breite der Bewegungen hervorgehoben. Schmid spricht mit Blick auf Tunesien und Ägypten von „klassenübergreifenden, demokratischen Massenbewegungen“ (Schmid, 11), Ruf (22f., in Anlehnung an Hardt/Negri) von „Allianzen von Menschen und Gruppen, die … klassen- und schichtenübergreifend im Gegensatz zur herrschenden Ordnung stehen und diese überwinden wollen“. Hier zeigt sich, was auch aus anderen Revolutionen in der Geschichte bekannt ist: dass sich in geschichtlichen Ausnahmesituationen sozialstrukturelle Differenzierungen innerhalb von Klassen und Schichten stark relativieren, die unter „Normalbedingungen“ einheitliches Handeln behindern und die Gegensätze hervortreten lassen.

Die Revolten sind bisher weitgehend in den Grenzen der jeweiligen Länder verblieben; eine panarabische Bewegung hat sich trotz der wechselseitigen Anregungen insgesamt nicht ergeben. Dafür sind die sozialen und politischen Verhältnisse, die jeweiligen Herrschaftsstrukturen und Bindungen zu unterschiedlich. Dazu kommt die ambivalente Wirkung von ideologischen und Medienapparaten. Das von Quatar finanziell abhängige Al Jazeera wirkte als Beförderer der Revolten (so mit Blick auf Tunesien und Ägypten), aber auch als Sprachrohr der arabischen Interventionsmächte wie in Libyen (vgl. Ruf, 15, und in diesem Heft)2. Die für die Mobilisierung der Proteste wichtige Rolle von Facebook und twitter wird hervorgehoben, aber auch deutlich relativiert: „Die gesellschaftliche Dynamik … kam nicht aus dem Internet, sondern spielte sich im Nicht-virtuellen leben ab.“ (Schmid, 44)

Eine für revolutionäre Prozesse auch hier entscheidende Frage ist das Verhalten der Machtapparate. In Tunesien und Ägypten war der Umstand entscheidend, dass sich Polizei (Tunesien) bzw. Militär (Ägypten) zu großen Teilen neutral verhielten bzw. auf die Seite der Protestierenden stellten, wobei in beiden Ländern eine Abstimmung der Militärführung mit den USA erfolgte. Zum Sturz der Mächtigen trug hier also auch der Entzug der äußeren Stütze bei.

Das innere „Mobilisierungspotential“ in Syrien wird, soweit die Autoren sich hierzu äußern, als deutlich geringer als in Ägypten angesehen: Religiöse Minoritäten erfreuten sich weit reichender Freiheiten, die untere Mittelschicht sei in Syrien „breit aufgestellt“, was vor allem in den großstädtischen Zentren (Damaskus, Aleppo) eine eher geringe Neigung zum Protest begründe. Frauen haben weit mehr Rechte, ethnische Minderheiten sind „weniger sozial benachteiligt als in Nachbarländern“. Dazu kommt die weitgehend ungebrochene Loyalität der Armee. (Jaeger & Jaeger in APuZ, 20ff.)

Die Interventionen des „Westens“ nehmen in den Studien von Crome, Ruf und Schmid breiten Raum ein. Hervorgehoben wird das generelle Interesse an geostrategischer Sicherung der Region. Das kann einerseits Unterstützung von bürgerlich-demokratischen Umbrüchen bedeuten, sofern sie zu einer politischen Stabilisierung der Länder führen und den Zugang des ausländischen Kapitals nicht einengen, sondern im Gegenteil sicherer machen (Haltung der USA im Fall Tunesiens und Ägyptens). Ruf unterstreicht, dass der US-Administration offenbar seit längerem klar war, dass der sich in den arabischen Ländern aufstauende Druck von den dortigen Diktaturen nicht mehr dauerhaft niedergehalten werden konnte (11). Es kann andererseits die Bereitschaft zu weiterer Stützung und Aufrüstung reaktionär-autokratischer Regime bedeuten (Golfstaaten, Saudi-Arabien), die für den ungehinderten Zugang zum Öl und für die Kontrolle der Gesamtregion bedeutend sind (so die Kooperation der USA und Saudi-Arabiens im Fall Bahrains und des Jemen). Und es schließt die exzessive Bereitschaft zur militärischen Destabilisierung von ungeliebten Regimen wie in Libyen oder Syrien ein, die sich bisher der westlichen Kontrolle zumindest z.T. entzogen, potenzielle Bündnispartner Irans sind oder, wie Libyen, eine unkontrollierbare Rolle im subsaharischen Afrika spielten.

Schmid (66-78) behandelt ausführlicher die besonders enge Komplizenschaft Frankreichs mit den arabischen Potentaten und die französischen Mittelmeer-Interessen. Die Inszenierung des Libyen-Kriegs wird von Crome (43ff.) und Ruf (14ff.) detailliert nachgezeichnet. Der zeitliche Ablauf spricht für die These, dass die entscheidende Initiative (Einrichtung einer Flugverbotszone) von Saudi-Arabien und den Golf-Monarchien ausging (Golf-Kooperationsrat), die die Arabische Liga instrumentalisierten (Vorlage für die Resolution 1973 im Sicherheitsrat). Die eher zögerliche und warnende Haltung der USA wurde durch das Vorpreschen Frankreichs und Großbritanniens gebrochen, die aus verschiedenen Gründen den (völkerrechtswidrigen) Krieg und die Demonstration einer eigenständigen Handlungsfähigkeit wollten.

Über die in den Revolten aktiven politischen Kräfte, ihre Formierung und Ziele einschließlich der Linken können die Autoren relativ wenig Auskunft gegen. Das betrifft auch die Differenzierung der islamischen Strömungen und Parteien. Ursache dürfte sein, dass sich diese vorher unterdrückten Kräfte erst im Zuge der Revolten selbst konstituiert und ausdifferenziert haben. Dieser Prozess war Mitte 2011 noch in vollem Gange. Insofern dürften weitergehende Studien zu den Revolten im arabischen Raum von großem Interesse sein.

André Leisewitz

Klassenbildung
und Herrschaft in Chile

Karin Fischer, Eine Klasse für sich. Besitz, Herrschaft und ungleiche Entwicklung in Chile 1830-2010, Nomos Verlag, Baden-Baden 2011, 205 S., 39 Euro

Untersuchungen über herrschende Klassen in Lateinamerika sind nicht sehr zahlreich. Noch weniger existieren Studien, die sowohl analytisch (also z.B. nicht anekdotisch) als auch historisch-langfristig (also z.B. nicht auf kurze Zeiträume beschränkt oder ausschließlich „strukturalistisch“) angelegt sind. Genau dies ist das Ziel von Karin Fischer, die den langen, widersprüchlichen und konfliktreichen Prozess der Klassenbildung und der Ausübung von Klassenherrschaft in Chile seit der Unabhängigkeit des Landes (ca. 1830) bis heute untersuchen möchte. Dabei entspricht es ihrer Intention, von den jeweils nationalen und internationalen Grundstrukturen und Verflechtungen auszugehen, gleichzeitig aber die sich wandelnden Akteurskonstellationen, Bündnisse und Konfliktlinien innerhalb der herrschenden Klasse zu berücksichtigen.

Die grobe Periodisierung, der die Hauptkapitel folgen, orientiert sich an den wichtigsten ökonomischen und politischen Wendepunkten in der chilenischen Geschichte: 1. Das liberale Jahrhundert 1830-1930; 2. Binnenmarktorientierte Entwicklung: Die zweite Übergangsphase zum Industriekapitalismus (1930-1973); 3. Die dritte Übergangsphase zum modernen Kapitalismus: Gewaltsame Transformation unter dem Militärregime (1973-1989); 4. Chile in der Gegenwart: Demokratischer Neoliberalismus (1990-2010). Die Hauptkapitel wiederum enthalten in der Regel Unterabschnitte, die die wirtschaftlichen, politisch-staatlichen sowie sozialstrukturellen Zeitkontexte und das jeweilige Profil des „herrschenden Blocks“ und seiner politischen Leitlinien skizzieren.

Aus der Fülle der interessanten Forschungsergebnisse seien nur einige wenige hervorgehoben. Fast durchgehend verweist die Verfasserin darauf, dass die – in Bezug auf die Besitzer ökonomisch und politisch dominanter Positionen – scharf abgrenzenden Kategorien wie „Aristokratie“, Großbürgertum“, „Lumpenbourgeoisie“, „Kom­pradorenbourgeoisie“, „einheimische oder ausländische Kapitaleigner“ etc. oder die Kennzeichnung bestimmter „Kapitalfraktionen und die ihnen idealtypisch zugeordneten Interessenlagen in der Realität verschwimmen“(44). Zeitweilige Spannungen und Konflikte zwischen verschiedenen Sektoren und Segmenten der in Chile tätigen Bourgeoisievertreter waren nie so tief und dauerhaft, dass die grundlegenden gemeinsamen Interessen (etwa in Bezug auf andere oder gar die subordinierten Klassen) aufgegeben worden wären. Dies schloss sogar durchaus ein, dass die verschiedenen Gruppen der herrschenden Klasse auch unterschiedlichen Parteien (Konservative versus Liberale Partei im 19. Jahrhundert) beitraten und sich im Zuge der historischen Entwicklung immer weiter differenzierten. Dies führte in der Regel ab einem bestimmten Punkt der historischen Entwicklung zu einer deutlichen Modifikation sowohl des Typus politischer Herrschaft wie auch des dominanten Wirtschaftsmodells.

Zwei weitere Befunde scheinen interessant zu sein: Der Übergang großer Unternehmen oder Unternehmensgruppen zu Aktiengesellschaften und der damit verbundene Aufstieg der Manager bedeutete in der Regel keinen Bedeutungsrückgang der Kapitaleigner, sondern „in Wahrheit … [die Kontrolle] von Familien bzw. von verwandtschaftlich miteinander verbundenen Mitgliedern der Wirtschaftselite“(86). Diese großen, vielfach verflochtenen, häufig in verschiedenen Wirtschaftssektoren zugleich beheimateten Unternehmenskonglomerate („grupos económicos“) waren und sind nicht nur die am stärksten internationalisierte Fraktion der chilenischen Kapitalbesitzer, sondern zugleich die mächtigsten und selbstbewußtesten einheimischen Kapitalrepräsentanten, die sich nicht nur mit ausländischem Kapital gelegentlich oder dauerhaft verbanden, sondern die zugleich auch diesem gegenüber oft als der ernsthafteste Konkurrent aufgetreten sind (150ff.; 161).

Die auf einer weitaus umfangreicheren Dissertation beruhende Studie von Karin Fischer enthält zahlreiche Schaubilder und Organigramme, die die Verflechtungsstrukturen zwischen Familien und Unternehmen, Banken untereinander einerseits sowie der einzelnen Kapitalrepräsentanten mit politischen und gremialen Funktionen andererseits demonstrieren. Im Anhang findet sich eine äußerst informative Synopse, welche den wichtigsten Perioden der chilenischen Geschichte bestimmte Akkumulations- und Regulationsregime sowie jeweilige „Blöcke an der Macht“, dazugehörende Hegemonialkonzepte und Staatsformen zuordnet (182ff.).

Die neueste Entwicklung der herrschenden Klasse Chiles wird – auch in ihren subjektiven Dimensionen – dadurch besonders lebendig gezeichnet, dass sie auf ca. 30 Interviews mit obersten Kapitalrepräsentanten dieses Landes beruht, die die Verfasserin zwischen 2004 und 2006 dort durchführen konnte. Nicht wenige ihrer damaligen Interviewpartner sind mittlerweile Kabinettsmitglieder oder Teil des obersten politischen Zirkels der seit 2010/11 amtierenden Regierung des Multimilliardärs Sebastián Piñera.

Die Arbeit klingt mit differierenden Aussagen zum aktuellen und eventuell zukünftigen Verhalten der Mittelschichten aus. Werden sie einerseits als in das politische System integriert und zumindest teilweise als konservativ beschrieben (180), so werden umgekehrt die von Studenten und Schülern der aufstrebenden Mittelschichten getragenen großen sozialen Bewegungen als Zeichen potentieller und ernsthafter Opposition zum sog „demokratischen Neoliberalismus“ apostrophiert (180f.)

Auch die Bemerkung, dass der Präsident seit der Verfassung von 1925 bis 1973 direkt gewählt wurde (47), ist missverständlich und zu relativieren, da – wenn nach der direkten, allgemeinen Stimmabgabe keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht hatte – letztlich der Kongress zwischen den beiden bestplatzierten Bewerbern zu entscheiden hatte.

Wer sich eingehender mit der Einführung des Neoliberalismus in Lateinamerika im Allgemeinen und Chile im Besonderen und den dabei realisierten, relativ erfolgreichen Hegemonialstrategien ( z.B. über den systematischen Einsatz von neoliberalen „think tanks“, entsprechender weit gefächerter Netzwerke u.a.) detaillierter befassen möchte, wird mit Gewinn zu der sehr gut lesbaren und gleichzeitig anspruchvollen Studie von Karin Fischer greifen müssen.

Dieter Boris

Linke und Netzpolitik

Bodo Ramelow / Petra Sitte / Halina Wawzyniak / Christoph Nitz (Hrsg.), It´s the Internet, stupid! Die Linken und die Schienennetze des 21. Jahrhunderts, VSA Verlag, Hamburg 2011, 148 S., 14,80 Euro

Netzpolitik ist längst Gesellschaftspolitik. Die durch das Internet ausgelöste kopernikanische Wende in Politik, Ökonomie und Privatleben wird von der Linken bislang nur unzureichend reflektiert. Es steht zu befürchten, dass die LINKE auch durch die Wahlerfolge der Piratenpartei nicht aus ihrem „analogen Tiefschlaf“ erwacht und das von den Piraten und anderen symbolisierte Misstrauen am derzeitigen politischen System nicht produktiv aufnimmt und in eine neues, partizipatives Verständnis von Politik umsetzt.

Netzpolitik ist zwar seit dem Parteitag von Erfurt im Programm der LINKEN aufgenommen worden, für die Verankerung des Themas stehen aber nur wenige Prominente – die meisten dürften in dem hier anzuzeigenden Buch vertreten sein. Diese Publikation enthält zwölf Artikel von einem halben Dutzend AutorInnen sowie zwei Protokolle von Diskussionsrunden. Alle machen deutlich, dass „das Internet“ eine technische und eine soziale Frage ist, ja dass sich diese beiden Aspekte oftmals gar nicht so leicht voneinander trennen lassen. Einige Beiträge kreisen um die Frage des (technischen) Netzzuganges für alle, sie argumentieren für ein „Grundrecht auf Internetzugang“ und damit gegen die digitale Spaltung unter anderem entlang des Haushaltseinkommens. Nächster Aspekt ist die Nutzung: Demokratie braucht transparente Information und einen kompetenten Umgang damit. Dies betrifft zum einen die Bereitstellung von Daten im Netz, etwa seitens der Verwaltung (Stichwort „Open Data“), zum anderen den derzeit stattfinden Übergang von einem Konzept der Medienkompetenz zu dem einer weiter gefassten Medienbildung. Ein weiterer Punkt, neben den allgemeiner bekannten wie dem Datenschutz, ist das vielfältige Thema „Netzneutralität“. Netzneutralität zu fordern, bedeutet ausdrücklich dafür einzutreten, dass Internetanbieter alle Daten unverändert und gleich schnell übertragen, unabhängig davon, woher diese stammen, zu welchem Ziel sie transportiert werden, was ihr Inhalt ist oder welcher Absender die Pakete erstellt hat.

Am spannendsten zu lesen und am fundiertesten ist der Beitrag von Wellsow und Wogawa, die die durchdachte Medienstrategie der Thüringer Landespartei und der Landtagsfraktion der LINKEN skizzieren. Diese besteht – getreu dem Motto „mit einem Rettich kann man nicht twittern“ – aus einem analogen und einem digitalen Teil, die aber gleichwohl Berührungspunkte und Synergien haben. Der analoge entspricht dem „normalen“ Parteiarbeit und der persönlichen Kommunikation in und mit der Gesellschaft. Der digitale Teil nimmt die veränderte Mediennutzung nicht nur der ganz jungen Generationen positiv auf und nutzt das Web 2.0 in seiner ganzen Vielfalt.

Nach der Lektüre bleibt zusammengefasst der Eindruck, dass für die Linke in ihrer Gesamtheit zu diesem Querschnittsthema noch viel zu tun ist. Die gesellschaftliche Linke ist jedenfalls weiter – umso dankbarer müsste die LINKE den hier aus ihren Reihen engagierten PolitikerInnen eigentlich sein.

Bernd Hüttner

Zeitbombe Arbeitsstress

Lothar Schröder/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Gute Arbeit. Zeitbombe Arbeitstress – Befunde, Strategien, Regelungsbedarf, Bund-Verlag, Frankfurt am Main 2012, 491 Seiten, 39,90 Euro1

Die erheblichen Sozialstrukturveränderungen in Umfang und Art der Beschäftigung hat die DGB-Gewerkschaften unter den seit Jahren anhaltenden Krisenbedingungen in die Defensive geraten lassen. Die Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ und die Aufteilung in Kern- und Randbelegschaften (z.B. „Minijobber“, Leiharbeiter, Beschäftigte in Werkverträgen und andere in prekärer Form Beschäftigte) führt bei den „Randbelegschaften“ zu systematisch geringerer Bezahlung; zum Teil bis lediglich zur Hälfte der Tariflöhne. So erhöht sich auch massiv der Druck auf das „Normalarbeitsverhältnis“ und die Tarife. Ein riesiger „Niedriglohnsektor“ hat vor allem auch der Exportwirtschaft zu riesigen Extra-Profiten zu Lasten der arbeitenden Menschen verholfen. Durch technische Revolutionen erhöhten sich die Anforderungen an die abhängig Beschäftigten. Eine erhebliche Verdichtung der Arbeit ist festzustellen bei gleichzeitig verlängerten Arbeitszeiten („Entgrenzung“). Die psychosozialen Belastungen sind gestiegen und die psychischen Erkrankungen nehmen zu. Das beschreibt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach in ihrem Beitrag „Gute Arbeit in der Krise“ (S. 145-155) und ist Verhandlungsgegenstand des hier zu besprechenden Buches.

Durch das von IG-Metall und ver.di vorgelegte Kompendium „Gute Arbeit“ wird an ältere industriesoziologische Studien angeknüpft. Für die IG-Metall wäre hier an das Projekt „Humanisierung der Arbeitswelt“ zu erinnern, das zu Beginn der 1960er Jahre auf den Weg gebracht wurde. Im Fokus des vorliegenden Buchs stehen die psycho-sozialen Belastungen, die die aktuellen Arbeitsbedingungen hervorbringen. Die Auseinandersetzungen um „Gute Arbeit“ soll am eigentlichen Ort gewerkschaftlicher Arbeit – dem Betrieb – geführt werden. Über 50 Wissenschaftler/inn/ en mit industriesoziologischen Bezügen werden aufgeboten, um Betriebs- und Personalräten gut aufbereitetes Material für die betrieblichen Auseinandersetzungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen an die Hand zu geben. Dabei sollen auch die staatlichen und außerbetrieblichen Akteure einbezogen werden, damit z.B. die Arbeitsschutzgesetze wirkungsvoll zur Anwendung kommen. Hans-Jürgen Urban beschreibt für die IG-Metall eine „Mehrebenen-Strategie“ (S. 35 f.) mit „Chancen für eine Anti-Stress-Initiative“. Da sich die „mediale Aufmerksamkeit für den dramatischen Anstieg psychischer Erkrankungen (…) spürbar verbessert (hat), (ist) das Thema Prävention arbeitsbedingter Ursachen in den verschiedenen Akteursgruppen und Organisationen, und hier speziell den Gewerkschaften, höher zu gewichten.“ (S. 36).

Schon in den Artikelüberschriften spiegeln sich die heutigen (psychosozialen) Gefährdungen wider, die die erheblich verschlechterten Arbeitsbedingungen hervorbringen: „Kosten der psychischen Erkrankungen und Belastungen“ (S. 39); „Längeres Arbeitsleben und psychische Gesundheit“ (S. 60); „Arbeiten bis zur Erschöpfung“ bei Projekten in der IT-Wirtschaft (S. 116); „Präsentismus“, das Weiterarbeiten trotz Krankheit (S. 128); „Leiharbeit und Gesundheitsschutz“ (S. 167) usw. Der Erfassung psychischer Belastungen in Gefährdungsbeurteilungen nach dem Arbeitsschutzgesetz kommt deshalb im Besprechungsband große Bedeutung zu, weil die vorhandenen Erhebungen zeigen, „dass dabei nach wie vor nur selten psychische Arbeitsbelastungen erfasst werden.“ (S. 28) Schon in der „Einleitung“ werden psychische Störungen im Arbeitsleben aufgelistet präsentiert: „Burnout“, „chronische Erschöpfung“, „Depressionen“, „Doping am Arbeitsplatz“, „Hörsturz“.

Für einzelne Branchen werden Fachstudien vorgelegt. So reflektieren die Autoren Bludau-Hoffmann/Laimer die Arbeit in den Sparkassen auf dem Hintergrund der aktuellen Finanzmarktkrise. Auch im öffentlich-rechtlichen organisierten Sparkassenwesen wird die Arbeit durch „Ziel- und Verkaufsdruck“, „Controlling-Aktivitäten“, „Druckausübung bei Zielverfehlung“, „Beschäftigten-Konfrontation mit Rankings- und Benchmarks“ etc. der Arbeitsdruck auf die Bank-Angestellten erhöht (S. 333). Das hat gesundheitliche Folgen, die weit ins Privatleben hineinreichen. Signifikant nehmen „Schlafstörungen“ zu. In einer Fragebogenaktion wird die Aussage „Ich habe schon sonntags Angst vor der nächsten Woche“ als zutreffend durch die Beteiligten gesehen (S. 337).

Das von IG-Metall und ver.di verfolgte Konzept von „Guter Arbeit“ hat auch deshalb hohe Dringlichkeit, weil z. B. beschädigte psychische Gesundheit die Hauptursache für Frühverrentung bei gleichzeitig heraufgesetztem Renteneintrittsalter ist. Die Beantwortung der Frage, was eine „alters- und alternsgerechte“ Art der Beschäftigung ist, ist daher dringend notwendig. „Gute Arbeit“ muss für alle Branchen und Berufszweige ‚durchdekliniert’ werden. Für die Autorinnen Brutzki und Saeed ist „Gute Arbeit“ ein wichtiges Anliegen betrieblicher Gleichstellungpolitik. Sie sehen folgende „Handlungsfelder“ als im Vordergrund stehend: eigenständige Existenzsicherung, gleiche Aufstiegs- und Karrierechancen, bessere Beteiligung an betrieblicher Weiterbildung, eine Verringerung der Einkommensunterschiede und eine bessere Work-Life-Balance (S. 377). Das wären uneingeschränkt auch Forderungen für die „prekär“ und „atypisch“ Beschäftigten (z. B. geringfügig Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte, befristet Beschäftigte, Scheinselbständige, Leiharbeiter, ALG-II-Aufstocker, „Ein-Euro-Jobber“), die häufig weiblich sind.

Das solide gearbeitete Buch mit über 491 Seiten und einem umfangreichen Datenanhang (zahlreichen Grafiken und Tabellen) gehört als „eine Materialsammlung zur aktuellen Entwicklung der Arbeitsbedingungen“ (S. 20) in den Buchbestand gewerkschaftlich aktiver und interessierter Personen. Es dokumentiert auf besondere Weise, wie hoch der gewerkschaftliche Handlungsbedarf ist. Das Konzept „Gute Arbeit“ hat gute Chancen, die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften auch unter widrigen Bedingungen zu erhöhen.

Thomas Ewald-Wehner

Schriftsteller als Einmischer

Thomas Wagner, Die Einmischer – Wie sich Schriftsteller heute engagieren, Argument-Verlag, Hamburg 2010, 213 S., 15,90 Euro

Der Begriff des Schriftstellers ist nicht klar definiert. Seine bestimmte Bedeutung erhält er nur im Zusammenhang mit anderen Begriffen. Zu dem des „Dichters“ verhält er sich ungefähr so wie der Brechtsche Stückeschreiber zum herkömmlichen „Dramatiker“ oder der Liedermacher zum traditionellen „Poeten“. All diese Begriffe stehen für eine Säkularisierung – oder, mit Max Weber gesprochen, für eine „Entzauberung“ – des Schreibenden wie seines Schreiberzeugnisses. „Genius“ und „Werk“, „Dichter“ und „Poet“, „Intuition“ und „Begabung“ werden als Chiffren durchschaubar, als – vielleicht notwendige – Metaphern, die keine Bedeutung haben, denkt man das Schreiben nicht als „Technik“, das Geschriebene nicht als „Produkt“. Schon in den 1930er Jahren fasste Walter Benjamin diesen modernen Funktionswechsel der Literatur (und des Literaten) in seine berühmte Formel vom „Autor als Produzent“: „[E]he ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat. Sie zielt mit anderen Worten unmittelbar auf die schriftstellerische Technik der Werke.“1

Die modernen Innovationen der Produktionsmittel des Schreibens (Druckmaschine, Schreibmaschine, Computer usw.) und der Produktions- und Rezeptionsverhältnisse, die (bürgerliche) Öffentlichkeit als Kampffeld konstituieren, sind die Voraussetzung dafür, dass der Schriftsteller als Intellektueller intervenieren kann – mittelbar durch seine Literatur und ihre Ästhetik, „unmittelbar“ durch Statements, Appelle, Interviews und Manifeste, die ihrerseits eine eigene Ästhetik des „Engagements“ ausbilden. Anders formuliert: Die Literatur und die Literaten können sich deshalb engagieren, weil sie bereits engagiert (im Sinne von involviert) sind. Die Literatur hat keinen Fluchtpunkt. In den Hochzeiten öffentlicher Auseinandersetzung und im Vor- und Nachfeld der sie prägenden Ereignisse (1789, 1848, 1917, 1968) wurde ihre öffentliche Verantwortung folgerichtig immer wieder darin ausgemacht, ihre Position bewusst zu beziehen. Von Voltaire bis Heine, Zola bis Brecht und Peter Weiss – der Schriftsteller als Intellektueller im emphatischen Sinn trat (auch bevor dieser Begriff im Kontext der Dreyfusaffäre geprägt wurde) immer dann in Erscheinung, wenn seine Praxis selbstbewusst in die Gesellschaft drängte und die Literatur das selbständige Urteil über die Epoche nicht scheute: „Die Literatur einer Epoche ist die durch ihre Literatur verdaute Epoche.“2 Engagement in diesem Sinn verlangt Parteinahme im aufbrechenden, nicht im konservierenden Sinn. Ebenso verlangt es Normativität. Eine Literatur, die Öffentlichkeit unterminiert, sei es im Namen optimaler Verwertungsbedingungen oder im Dienst herrschaftsstützender Entmündigung verfehlt ihre Aufgabe. Dies war – bei aller empirischer Fragwürdigkeit – stets der „wahre Kern“ des Satzes: „Der Geist steht links.“

Thomas Wagners Interviewband mit Schriftstellern steht im Kontext solcher (in der breiten Scheinöffentlichkeit der Gegenwart kaum mehr präsenten) Debatten. So unterschiedlich auch die Thesen sein mögen, die in ihm vorgetragen werden, so vielfältig die Themen und Formen der Interviewten sind, so belegen sie doch eindrucksvoll eine auf den ersten Blick vielleicht verblüffende Feststellung Wagners: „Wer genau hinsieht, statt den kurzlebigen Literaturmoden zu folgen, die im Rhythmus der Buchmessen und Literaturpreis-Verleihungen alljährlich ausgerufen werden, erkennt bald: Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist die Literatur so breit und vielgestaltig engagiert wie schon lange nicht. Jenseits von Pop-Literatur, Fräuleinwunder und einem so genannten Neuen Feminismus, melden sich Autorinnen und Autoren deutlich vernehmbar zu Wort, greifen Schriftsteller als kritische Intellektuelle kraftvoll und beherzt in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein.“ (5f.) Wagners Buch ist so etwas wie eine Bestandsaufnahme: Romanciers und Sachbuchautoren, Lyriker und Liedermacher, Ältere und Jüngere Autoren berichten aus ihrer künstlerischen und politischen Praxis und entfalten dabei ein breites Panorama der ästhetischen und zeitdiagnostischen Zugänge zu Zeitgenössischem und Historischem: zu den Kriegen von heute und gestern, der wachsenden Tendenz zu Überwachung, prekären Arbeitsverhältnissen und einem repressiven Gesundheitsterror, zur literarischen Verarbeitung des Faschismus, der Geschichte der Linken (in der BRD, der DDR, Latein­amerika und anderen Orten), zu Marx, Lenin und dem Anarchismus, zu Deutschland und Bayern, Stuttgart und West-Papua, Algerien und Österreich. Immer wieder geht es um Formfragen, so vielfältig die Themen, so vielfältig auch die Textsorten, um deren Produktionsbedingungen und Erkenntnisgrenzen es geht: Film und Musik, Prosa und Theater, Lyrik und Journaille. In der Zusammenschau ergeben all diese disparaten Elemente ein Kaleidoskop der Positionen und Erfahrungen, der Formen und Problemlagen, dessen Faszination gerade darin liegt, dass Disparates umeinander tanzt und doch einem gemeinsamen Kosmos angehört: Diese Schriftsteller wollen die Welt verstehen und einen Beitrag leisten, sie zu verändern.

Dabei sind Wagner und die von ihm Interviewten3 keineswegs blind gegenüber dem Zustand einer Öffentlichkeit, die heute zu einem wesentlichen Bestandteil dessen zu werden droht, was Soziologen als Tendenz zur „Postdemokratie“ beschreiben. Vieles von dem, was hier dokumentiert wird, findet nicht in den massenmedialen Vermittlungsformaten der Talkshows, „Leitmedien“ und Literaturmagazine statt. (Autoren wie Dietmar Dath und Juli Zeh sind eher Ausnahmen denn die Regel des massenöffentlichen Literaturbetriebs.) So ist Wagners Band, ohne dass er allzu melancholisch würde, auch eine Dokumentation der Überlebensstrategien engagierter Schriftsteller in der feindlichen Umgebung einer parallel­geschalteten Öffentlichkeit: „Das große Problem ist letztlich der Rezeptionszusammenhang. Brecht, ins­besondere mit seinen Lehrstücken, ist nicht vorstellbar ohne die Situation Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, ohne eine sehr starke kommunistische Partei und die entsprechenden Publikationsorgane, die sich um sie rankten. Es gab also einen Resonanzraum für die Literatur, aus dem das Echo herausschallte. Heiner Müller ist nicht vorstellbar ohne die DDR. Er wurde zwar auch sehr stark im Westen rezipiert, aber nur vor dem Hintergrund dieses real existierenden Resonanzraumes. Ich glaube, politische Literatur braucht immer diesen Resonanzraum. Wenn dieser schmal und dünn ist wie im Moment, dann wird es schwer.“ (118) Diese Feststellung Michael Wildenhains ist beinahe so etwas wie ein Leitmotiv des Bandes. In zahlreichen Interviews findet sie Entsprechungen. Das dahinter stehende Grundproblem einer in die Defensive geratenen demokratischen Öffentlichkeit wird insbesondere von Dietmar Dath benannt: „Momentan ist alles sehr zersprengt. Gewerkschaftliche Arbeit, politische Publizistik – das müssen wir alles neu lernen, unter nicht mehr sozialpartnerschaftlichen Bedingungen, sondern wieder antagonistischen. Lange gab es für alles Kanäle, Dialog mit der Jugend und so. Jetzt ist nicht mehr Dialog mit der Jugend, sondern Banlieu. Das muss man alles erst wieder lernen. Ich glaube, der Weg ist relativ weit.“ (43)

Wagners Gesprächsband ist vor allem deshalb bedeutsam, weil er zeigt, dass es nicht am Mangel von schriftstellerischem Engagement liegt, der den medialen Widerhall literaturpolitischer Debatten heute geringer macht als vor dreißig Jahren. Wagner bringt das Vorhandene (exemplarisch) ins Gespräch. Die Frage, wie aus der parallelen Dokumentation institutionalisierte Kommunikation werden kann, welche Foren es brauchte, um Künstler untereinander aber auch Künstler und Wissenschaftler in eine (streitbare) Auseinandersetzung um Aufgaben und Formen eines zeitgemäßen Engagements zu verwickeln, stellt sich bei der Lektüre beinahe selbst. Man sollte das Buch als Auftakt verstehen – und als Kampfschrift für eine demokratische Öffentlichkeit, die diesen Namen verdient.

David Salomon

[1] So etwa die Edition des Briefwechsels von Wilhelm Liebknecht (bis Bd. 2), aber auch ein solches Projekt wie die Oeuvres complètes von Michail Bakunin (bis Bd. 8), dessen Abschluss in Form einer editorischen Anforderungen kaum genügenden CD-ROM (Amsterdam 2000) allenfalls als fauler Kompromiss gewertet werden kann.

[2] Vgl. Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe. Hrsg. v. Parteivorstand d. Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs. Erstes Heft: Victor Adler und Friedrich Engels. Wien 1922.

[3] Victor Adler: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Ignaz Auer, Eduard Bernstein, Adolf Braun, Heinrich Dietz, Friedrich Ebert, Wilhelm Liebknecht, Hermann Müller und Paul Singer. Ges. u. erl. v. F. Adler. Wien 1954.

[4] Der Band 4.3 von Abt. II wird wohl noch 2012 erscheinen; in Abt. I fehlen die Bände 4-6 (1844-48), 7-9 (1848/49), 15-17 (1856-59), 19 (1861-64), 23 (1871/72) und 28 (Mathematische Manuskripte), von denen immerhin sieben „in Arbeit“ sind. Vgl. www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/mega/de.

[5] In Brief 28 der Halbsatz „nachdem Louise ihn in Deinem Auftrag um Erledigung der Sache gebeten“ (S. 40), und in Brief 67 der Satz „Deine Andeutung, daß es sich um die Diätenfrage handle, erklärt mir einiges, aber nicht alles.“ (S. 100).

1 Der Nahe und Mittlere Osten gilt nach Angaben des Internationalen Konversionszentrums Bonn als höchstmilitarisierte Region. Vgl. den BICC-Militarisierungsindex 2012: http://www.bicc.de/uploads/gmi/pdf/Global_Militarization_Index_2012_Fact_Sheet_d.pdf

2 Aktham Suliman, der Deutschland-Korrespondent von Al Jazeera, bestätigt, dass die qatarische Politik „am Sender und dessen Journalisten nicht spurlos vorbeigeht“. FAZ v. 5.1.2012.

1 Als ver.di-Sonderausgabe ist der Band zum Mitgliederpreis von 12 € erhältlich (innovation@verdi.de); eine Sonderausgabe der IG Metall zum gleichen Preis kann (nur für IG Metall-Mitglieder) bestellt werden unter www.igmetall.de (>Arbeit > Gesundheit und Gute Arbeit).

1 Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, in; ders.: Versuche über Brecht, Frankfurt/Main 1966, S. 98.

2 Jean-Paul Sartre, Was kann Literatur, Reinbek 1986, S. 13.

3 Der Band enthält Gespräche mit Dietmar Dath, Raul Zelik, Juli Zeh, Ilja Trojanow, Robert Menasse, Wolfgang Schorlau, Saddek und Sabine Kebir, Erasmus Schöfer, Michael Wildenhain, Sabine Kuegler, Jürgen Todenhöfer, Wladimir Kaminer, Eva Jantschitsch („Gustav“), Kai Degenhardt, Biermösl Blosn, Erwin Riess, Christine Lehmann, Dagmar Scharsich, Michael Mäde und Matthias Frings (über Ronald M. Schernikau), die Wagner zwischen 2007 und 2010 überwiegend für die Zeitung „junge Welt“ und das Magazin „Hintergrund“ führte.