Dossier „#unteilbar"

von Beiträge von Anna Spangenberg/Corinna Genschel, Klaus Dörre und Jürgen Reusch
März 2019

Vorbemerkung der Redaktion: Am 13. Oktober gingen in Berlin 240.000 Menschen für Solidarität und gegen Ausgrenzung auf die Straße: sie waren damit einem Aufruf des Bündnisses#unteilbar gefolgt. Angesicht des immer bedrohlicher erscheinenden Aufschwungs der politischen Rechten, die in Form der AfD in den Parlamenten und diverser rassistischer Bündnisse auch auf der Straße immer stärker den Diskurs zu bestimmen schien, war #unteilbar sichtbares Zeichen des Anspruchs auf eine solidarische, inklusive Gesellschaft. Im Aufruf heißt es u.a.: „Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden.“

Ohne Zweifel gehört #unteilbar zu den erfolgreichsten politischen Mobilisierungen der gesellschaftlichen Linken seit vielen Jahren. Für Beteiligte und Sympathisanten war der 13. Oktober eine enorme Stärkung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Verständigung darüber, dass der Rechtsentwicklung aktiv begegnet werden muss. Ob und wie dieser Impuls für weitere politische Interventionen von links fruchtbar gemacht werden kann, ist gegenwärtig noch offen. Anna Spangenberg war eine von zwei Pressesprecherinnen des Bündnisses, Corinna Genschel gehörte zu den Mitorganisator_innen. Mit ihnen führten wir am 19. Januar 2019 ein Gespräch in Berlin. Beide betonen, dass sie nicht Sprecherinnen des Bündnisses sind, sondern sich als Aktivist_innen im Bündnis und als dessen Teil äußern. Klaus Dörre (Universität Jena) steuert einige Überlegungen zum „Wie weiter?“ bei, Jürgen Reusch (Redaktion Z)gibt einen Überblick zuder im Nachgang zur Demonstration herausgegebenen Veröffentlichung der Redebeiträge, die das durchaus heterogene Spektrum der Beteiligten erkennen lässt.

Anna Spangenberg/Corinna Genschel

„Man wird mehr, wenn man Sozialstaat und
Migration nicht gegeneinander ausspielt“

Interview zur #unteilbar-Demo am 13. Oktober 2018 in Berlin

Z.: #Unteilbar steht in einer Reihe mit einer größeren Anzahl von erfolgreichen Mobilisierungen seit dem Sommer 2018. „We’ll come united“, „Seebrücke“ oder „ausgehetzt“ stehen dafür. Was war und ist aus eurer Sicht die Besonderheit von #unteilbar?

AS: Wir haben immer wieder betont, dass wir in der Reihe dieser Demos stehen, aber auch in der Reihe dieser Themen. Gegen die Rechte auf der Straße, wie in Chemnitz, gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung im Mittelmeer, für die Rechte von Migrant_innen und Geflüchteten, für die Interessen von Beschäftigen in Krankenhäusern, Kitas und anderswo. Alle diese Themen, zu denen sich viele Menschen auf die Straße bewegt haben, kommen bei #unteilbar zusammen. Die klare Botschaft war: Wir lassen diese Themen nicht gegeneinander ausspielen. Nicht die soziale Frage gegen das Thema Migration, nicht den Rechtsruck auf der Straße und in den Parlamenten gegen die Thematisierung der sozialen Frage. Das waren, glaube ich, Gründe, die viele Menschen dazu bewegt haben, auf die Straße zu gehen, diesem solidarischen Gedanken Ausdruck zu verleihen.

CG: Lasst uns doch noch mal die Situation und die Stimmung des Frühsommers in Erinnerung rufen: Es gab die zunehmende und dramatische Kriminalisierung der Seenotrettung, die die „Seebrücken-Proteste“ überall in der Republik zum Ausgangspunkt hatte; aber auch die Proteste gegen das neue Polizeigesetz in Bayern und dann Nordrhein-Westfalen waren bereits im Gange. Gleichzeitig spitzten die Union bzw. die CSU-Granden den Diskurs immer mehr zu und überlagerten alle anderen gesellschaftlichen Fragen – passend mit Seehofers Aussage von der „Migration als Mutter aller Probleme“. Es gab ja Auseinandersetzungen um Wohnen und Miete, um das Thema Pflege, diverse soziale Themen, aber alles wurde schließlich vom rechten Diskurs um die Migration und deren Abwehr „erfolgreich“ überdeckt. Die Seehofer-Aussage ist quasi die Kurzform davon. Da war also was Doppeltes: Unsagbares wurde sagbar und im Sommer 2018 wurden Migration bzw. Migrations-abwehr zum Masterdiskurs für alles. Und damit war alles andere, wofür Leute sich engagiert haben, nicht mehr hörbar, alles andere wurde scheinbar unerheblich.

Und da war die Initiative vom RAV (Republikanischer Anwält_innen Verein) zu einer großen Demonstration am 13.10. – also am Tag vor der Landtagswahl in Bayern – für eine offene und solidarische Gesellschaft, für Solidarität statt Ausgrenzung etwas, was unterschiedliche Perspektiven zusammenbrachte und aus der Ohnmacht herausführen sollte.

AS: Ich würde da sogar noch weiter zurückgehen. Dieses Gefühl der Defensive hält ja schon länger an. Die rassistischen Mobilisierungen 2016, der Einzug der AfD in die diversen Parlamente und schließlich 2017 in den Bundestag, die Themensetzungen von rechts – das alles hat dieses Ohnmachtsgefühl bei vielen verstärkt und den Eindruck erweckt, wir könnten die Themen nur noch halten, aber nicht mehr wirklich in den politischen Konflikten besetzen.

„Die verschiedenen Themen zusammenbinden“

Z.: Der Angriff auf elementare Menschenrechte (Flucht und Migration), die Kriminalisierung von Seenotrettung, aber auch der offene Schulterschluss von AfD, Wutbürger_innen und der Naziszene in Chemnitz waren konkrete Auslöser für die dann wirklich breite Mobilisierung. Aus unserer Sicht war eine Spezifik von #unteilbar jedoch, ganz unterschiedliche Kämpfe zu verbinden und unter diesem schönen Stichwort zu versammeln. Wann und mit welcher politischen Motivation habt ihr die Entscheidung getroffen, auch soziale Kämpfe zum Bezugspunkt von #unteilbar zu machen?

CG: Wenn man die Stichworte für den allerersten Aufrufentwurf noch mal durchliest, waren alle diese Themen oder Fragen schon drin. Das war ja das Besondere der Initiative: Das gemeinsame Verständnis, dass das, was da passiert, als ein Angriff auf Rechtsstaatlichkeit, auf Humanität, auf Menschenrechte, auf soziale Rechte zu begreifen ist und dass wir die unzulässige Entgegensetzung der Themen sowie die rechte Verschiebung des Diskurses nicht mitmachen werden. Deswegen gab es immer den Impuls und auch eine ganz bewusste Entscheidung, verbindende Elemente in den Vordergrund zu stellen. „Stadt für alle“ war schon früher eine solche verbindende Kampagne mit dem Ziel, soziale Rechte und antirassistische Kämpfe zusammen zu denken. Insofern eigentlich gar nicht so neu, nur anders angelegt und in einer deutlich anderen Situation. Die zweite Phase war dann der Aufruf bzw. die Unterstützung durch die erstunterzeichnenden Organisationen und Vereine: Deutlich war schnell, dass größere Organisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband und diverse Gewerkschaftsleute aus dem so genannten sozialen Spektrum sofort starkes Interesse bekundet haben. Dies hat uns darin bestärkt, dass es genau richtig ist, den Abbau sozialer Rechte zu thematisieren und soziale Kämpfe abzubilden. Das war eine sehr bewusste Entscheidung. Das Dritte war dann die Frage, wie man die Demo ausgestaltet, wie man die Themen konkret setzt, auf der Bühne, in der Demo selber. Für einen Verband wie den Paritätischen war es ja auch gewissermaßen neu, bei einer solchen Demo einen eigenen Block zu machen und explizit im Rahmen ihrer Themen und #unteilbar auszugestalten – soziale Rechte und Inklusion war dann ihr Motto. Ich glaube, dass das auch für eine Organisation wie den Paritätischen Wohlfahrtsverband ein ziemlich guter Prozess war, weil er so sein Thema noch einmal breiter und kämpferischer präsentieren konnte.

Z.: Für uns war #unteilbar auch eine Antwort auf den in linken Diskussionen aktuell häufig konstruierten Gegensatz von „Identitätspolitik“ und „Klassenpolitik“. War die Entscheidung für diese Anlage des Bündnisses auch der Versuch, diesen vermeintlichen Gegensatz in der Praxis zu überwinden?

AS: Aus meiner Sicht hat sich das ergeben aus dem Agieren derjenigen, die zusammensaßen, den Aufruf verfasst und dann Bündnispolitik betrieben haben. Wenn man sich die Erstunterzeichnenden anschaut, dann sieht man, dass dort nicht beliebig viele, aber doch recht unterschiedliche Menschen angefragt worden waren. Die Dynamik kam dann durch die Heterogenität der Beteiligten, wodurch am Ende sehr Viele den Aufruf mit getragen haben. Das Mobilisierungsvideo bringt die Situation und Stimmung auf den Punkt: die verschiedenen Themen zusammenzubinden und zu sagen, jetzt machen wir das hier gemeinsam. Und da geht es nicht darum, zu delegieren, wer was wann machen muss, sondern das Gefühl: Jetzt müssen wir das gemeinsam machen, all diese Kämpfe „gegen Rechts“, für bezahlbare Mieten, Pflege, Klima. Das hat glaube ich tatsächlich viele Leute angesprochen und sie in dem Gefühl bestärkt, ich muss jetzt auf die Straße.

„Keine Protestdemo, sondern eine Positionsbestimmung“

Z.: Habt ihr eine Einschätzung zu den Menschen, die am 13.10.2018 auf die Straße gegangen sind? War das der mobilisierbare Teil des linksliberalen und linksradikalen Spektrums? Und lässt sich das vergleichen mit den „Gelbwesten“ in Frankreich, wo ja doch sehr viele sagen, dass es sich dort um ein ganz anderes Publikum handelt?

AS: Ich glaube, es war eine große Unterschiedlichkeit zu beobachten. Menschen, die organisiert sind, sei es in Gewerkschaften, Berufsverbänden oder politischen Initiativen, aber sehr viele auch, die vielleicht jahrelang nicht auf einer Demonstration waren und sich nicht hätten vorstellen können, auf eine zu gehen. Andere, die wahrscheinlich häufig durch Nachbarschaftsinitiativen, Willkommensinitiativen politisiert worden sind.

CG: Ich glaube, die Demo war eben auch sehr stark Berlin geprägt aber trotzdem keine Berliner Demo. Die Größe der Demo spricht auch sehr stark für ein urbanes Publikum und man muss auch daran erinnern, dass es im Mai 2018 ja schon eine Demo mit zirka 70.000 Menschen gegen die AfD in Berlin gegeben hatte. Aber es war eben nicht nur eine Berliner Demo, sondern es waren ganz viele Menschen aus dem Umland und den umliegenden Bundesländern, und dann gab es noch Teilnehmende aus den westdeutschen Großstädten wie Hamburg, Frankfurt, NRW, München – das waren aber eher Sprenkel. Aus meiner Sicht waren die ostdeutschen Bundesländer für die Mobilisierung sehr wichtig. Was ich sehr interessant finde: Es gab kaum angemeldete Busse, obwohl nach unserer Wahrnehmung doch bundesweit über #unteilbar gesprochen wurde. Und tatsächlich sind sehr viele Menschen in Fahrgemeinschaften gekommen, im Bulli oder auch in der Bahn. Jedenfalls war es eine ganz andere Art des Hinfahrens zu einer Demo als bei klassischen linken Mobilisierungen. Viele Menschen haben sich ganz offensichtlich als Hausgemeinschaft oder Kolleg_innen zur Demo verabredet. Ein Gewerkschaftskollege im Bündnis sagte, er habe es noch nie erlebt, dass sich alle am Freitag vor der Demo verabschiedet haben mit den Worten: „morgen sehen wir uns ja“, was dafür spricht, dass es nicht nur eine Mobilisierung über klassisch-linke Strukturen gab, sondern auch über Arbeitsplätze, Nachbarschaften usw.

Ich glaube, man kann nicht wirklich einen Vergleich mit den „Gelbwesten“ ziehen. Macron ist auch ein anderes Gegenüber als Seehofer oder Merkel, die Situation in Frankreich ist eine andere, der Anlass in Frankreich auf die Straße zu gehen, war ja auch der der „sozialen Not jenseits des Zentrums“ und der, damit gehört und gesehen zu werden (neben dem konkreten Protest gegen die Erhöhung der Dieselsteuer) – somit ist auch die Zusammensetzung der Protestierenden eine andere. Hilft es hier weiter, mit den Stichworten „Identitätspolitik“ versus „Klassenpolitik“ zu arbeiten? Generell spreche ich selbst auch lieber von „Anerkennungspolitik“ als von „Identitätspolitik“. Aber auch das hilft m.E. hier nicht wirklich weiter, denn auch in Frankreich geht es um Umverteilung und Anerkennung. Und ja, #unteilbar war eine „städtische“ Mobilisierung, sie war eine, die sich gegen die Verschiebung des Diskurses, des Sagbaren und Machbaren richtete. Ist da die Reduktion auf „Klasse“ oder „Anerkennungspolitik“ hilfreich, um diese derzeitigen Mobilisierungen zu verstehen?

AS: #Unteilbar ist ganz klar ein Sichtbarmachen von Themen und Anliegen, die in den Augen der Leute auch zusammengehören. Es ging nicht um eine konkrete Forderung und deren Umsetzung. Natürlich ist „unteilbar“ für Menschenrechte und soziale Rechte eine klare Forderung, lässt sich aber trotzdem nicht mit den „Gelbwesten“ vergleichen, die in den Forderungen zum Steuersystem und vielen anderen Punkten viel konkreter sind. In den einzelnen Blöcken der Demo dagegen wurden die jeweiligen Positionen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht und auch konkret vertreten. Trotzdem ist das was ganz anderes als der „Gelbwesten“-Protest, auch weil #unteilbar keine Protestdemo, sondern viel eher eine Positionsbestimmung, eine Markierung war, wofür man gemeinsam steht.

„Die Demo hat einen Raum für verschiedene linke Analysen geschaffen“

Z.: Wie geht ihr mit einer linken Kritik an #unteilbar um, die sagt, Verantwortliche für die Rechtsentwicklung, für den Rassismus, für die soziale Krise wurden nicht konkret benannt, so dass es letztendlich auch für die SPD schmerzlos war, mit zu demonstrieren?

CG: Ich habe es auch noch nicht erlebt, dass man eine Demo organisiert und morgens um sieben im Radio hört, dass einem Außenminister Maas alles Gute für den Tag wünscht. Ja, es gab einen ganz kleinen Moment wo ich dachte, haben wir jetzt was falsch gemacht? Aber ich glaube, man muss da anders drauf gucken: Die Mobilisierung war so stark, es war so ein öffentliches Thema, „die“ mussten sich positionieren. Aber tatsächlich sagt es doch mehr darüber aus, dass der Druck so stark ist, dass wir so eine starke Demo haben, dass die was dazu sagen müssen. Dass nimmt unserem Aufruf nichts, denn Abbau des Sozialstaats, Verarmung, Agenda 2010 kommen da ja klar vor. Da wurde übrigens hart gerungen, auch mit den Gewerkschaften, wie das formuliert werden kann. Ich teile also diese linke Kritik an #unteilbar nicht, denn die Demo in ihrer Breite, Größe, in ihrem Ausmaß hat gleichzeitig einen Raum geschaffen, in dem verschiedene linke Gruppen ihren Analysen und Interpretationen der Lage, der Verhältnisse und warum wir hier sind, Ausdruck geben und sie zum Gegenstand des Gemeinsamen machen konnten. Es gab ja z.B. auch Blöcke oder radikal linke Zusammenhänge auf der Demo, und manche Redner_innen bei der Kundgebung – mitten drin also –, haben dreißig Jahre Neoliberalismus und die Austeritätspolitik, die Prekarisierung als Gründe für den Zustand der Gesellschaft und den Aufstieg der Rechten benannt.

Nach dem 13. Oktober muss sich eine Linke natürlich fragen, was mache ich mit dem Erfolg einer solchen Demo, mit dem Zusammenführen ganz unterschiedlicher Gruppen, und wie kann ich das weitertreiben? Wie kann ich die Auseinandersetzungen um kulturelle Hegemonie, Repräsentation, gegen den Rechtsruck mit Themen der Umverteilung verbinden? Welchen Zusammenhang gibt es mit einem autoritären Kapitalismus? Welche Rolle spielen Jahrzehnte des Neoliberalismus, zehn Jahre Eurokrise usw.? Das weiterzutreiben und nicht an der Demo zu kritisieren, was alles gefehlt habe – das ist Aufgabe linker Politik, also den Raum, den wir geschaffen haben, zu nutzen.

AS: Ich würde diese Kritik auch zurückweisen. Als der Aufruf draußen war, als es um die konkrete Mobilisierung ging, da war die SPD sehr leise, wogegen Linke und Grüne sehr viel lauter und aktiver in der Unterstützung waren.

Z.: Wie habt ihr die mediale Spiegelung von #unteilbar bewertet? Am Tag, aber auch in der Folge. Hat das Spuren hinterlassen?

AS: Na ja, am Tag selbst war es natürlich das Ereignis und auch im Vorfeld gab es eine relativ gute Berichterstattung. Am Tag danach war dann die Bayernwahl, die natürlich sehr im Fokus der Medien stand. Ich fand allerdings, dass die mediale Aufmerksamkeit für die durch die Demo gesetzten Themen ziemlich schnell ziemlich weit unten war. Das war kein Thema, das von den Medien lange nachgefragt wurde, und das lag nicht an uns als Pressegruppe. Wir standen für die Medien zur Verfügung, wir haben Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Die einzelnen Themen, die auf der Bühne sichtbar waren, wurden von uns über verschiedene Kanäle gespielt, aber es war einfach nicht größer nachgefragt von der Presse.

CG: Ich stimme dir völlig zu. Wir wollten mit der Demo ja eine Sichtbarkeit für Praxen und Haltungen schaffen, die zumeist unterrepräsentiert sind. Das haben wir gemacht, aber natürlich ändert sich danach ja nicht sofort die ganze Aufmerksamkeitsökonomie der Presse. Dazu kommt aber, dass #unteilbar als neuartiges Bündnis mit unterschiedlichen Akteuren, nicht miteinander konsolidiert war, was eine große Vorsicht aller Akteure zur Folge hat. Wir haben z.B. nach dem 13. Oktober keine politische Sprechposition eingenommen, wir haben auch kein Zutrauen dazu. Das hat auch gute Seiten, denn diese Zusammensetzung gilt es ja zu erhalten, ohne dass einzelne Akteure mit ihrer Weltsicht das Ruder übernehmen – aber das bedeutet eben auch geduldig zu sein, dran zu bleiben und sich politisch auf den Prozess einzulassen.

AS: Die Rollen im Bündnis sind schon klar, werden aber sehr vorsichtig wahrgenommen. Es gibt keine gemeinsame gewachsene Gruppenpraxis, aus der heraus Forderungen gestellt werden könnten, aus der heraus Politik gemacht werden könnte. Da verharren wir alle in der zweiten, dritten und vierten Reihe und die erste Reihe ist vollständig unbesetzt.

„Die politische Motivation vor Ort nutzbar machen“

Z.: Für viele Menschen war #unteilbar ein zentraler politischer Punkt im Jahr 2018, weil nach scheinbar nicht enden wollenden Erfolgen der Rechten und einem Agenda-Setting von rechts endlich ein machtvolles und wahrnehmbares Signal von links kam. War #unteilbar ein wichtiger und nötiger Ausbruch aus diesem Ohnmachtsgefühl, der aber punktuell bleibt/bleiben muss, oder seht ihr darin den möglichen Beginn einer stärkeren Gegenbewegung von links? Und gibt es weitere Planungen von #unteilbar? Wie sehen die aus und wie kann es gelingen, die Breite und Heterogenität der Kämpfe, die sich in #unteilbar abgebildet haben, auch in künftigen Aktionen zu erhalten?

AS: Das ist die schwierigste Frage von allen, über die sehr viele Leute nachdenken. Wir sind gegenwärtig noch in der Phase, in der es verschiedene thematische Vorschläge gibt: Die Wahlen dieses Jahres in den Blick zu nehmen, die Frage möglicher Koalitionen der CDU mit der AfD, zum Thema zu machen. Muss es darum gehen, mehr Leute in der Fläche bei konkreten Kämpfen zu unterstützen oder sollten wir mögliche Großereignisse in den Fokus nehmen? Sollten wir eine inhaltliche Verständigung vorantreiben? Es gibt also ganz unterschiedliche Überlegungen, die in naher Zukunft entschieden werden müssen. Ich persönlich denke, dass es richtig ist, sich Zeit zu nehmen, sehe aber auch die Gefahr, dass wir zu keiner Entscheidung kommen und auf ein ähnliches Momentum wie bei der Unteilbar-Demo warten. Eine andere Möglichkeit wäre, das Projekt #unteilbar möglichst niedrigschwellig einfach loszulassen und die Leute vor Ort damit arbeiten zulassen, damit dort mit diesem positiven Bezugspunkt etwas gemacht werden kann, Bewegung geschaffen werden kann. Eine Konzentration auf die Landtagswahlen z.B. wäre aus meiner Sicht ein anderes #unteilbar, eine engere Fassung.

CG: Ich sehe das etwas anders. Eine einfache Wiederholung des 13.10. kann natürlich nur schiefgehen und wäre der Besonderheit der spezifischen Konstellation auch nicht angemessen. Wir sind an verschiedenen Projekten dran und ich fände es interessant, andere Formen der Organisierung und Mobilisierung jenseits des Großereignisses in Berlin auszuprobieren. Es gibt Gruppen in Thüringen und Sachsen, die mit dem Begriff „unteilbar“ politische Punkte im Rahmen der Wahlkampagnen in diesem Jahr setzen wollen. Nicht nur, um den rechten Mobilisierungen in diesen Ländern etwas entgegenzusetzen, sondern auch, um eigene Themen zu setzen und das mit dem positiven Label #unteilbar zu verbinden. Es geht nicht um konkrete parteipolitische Interventionen in die Wahlkämpfe, sondern angesichts der unzweifelhaft zu erwartenden rechten Kampagnen darum, das Terrain von links zu besetzen.

AS: Da bin ich ja weitgehend bei dir. Gerade das Zusammenführen der unterschiedlichen Themen ist ja der Punkt des Anknüpfens an #unteilbar. Es muss doch darum gehen, die politische Motivation, die Leute von der Demo mitgenommen haben, jetzt vor Ort nutzbar zu machen und nicht neue Bündnisse zu gründen, sondern eben aus der eigenen thematischen Enge herauszukommen. Z.B. mein Anti-Nazibündnis mit dem langen Atem vor Ort mit anderen linken Akteuren und anderen Auseinandersetzungen zu verknüpfen, wo das möglich und sinnvoll ist. Das geht eben nicht von Berlin aus.

CG: Allerdings werden wir aus den Ländern, z.B. aus Thüringen angesprochen, ob wir aus der Berliner #unteilbar-Struktur miteinsteigen. D.h. es ist eben nicht nur #unteilbar-Sachsen oder Thüringen, sondern schon der Versuch, da etwas überregional in Bewegung zu setzen. Für mich ist an den aktuellen Planungen für Thüringen und Sachsen interessant, dass sich dort der Versuch zeigt, wie man die so genannten Anerkennungs- und Umverteilungsfragen zusammen denken kann. In Thüringen wird eine Massenzeitung für den 1. Mai geplant, in der man sich nicht an der AfD abarbeiten will, sondern die Infrastruktur und soziale Fragen in Thüringen zum Thema macht. Ich glaube nicht, dass eine Polarisierung der Themen Anerkennung und Umverteilung Sinn macht. Wir haben mit #unteilbar gezeigt, dass man mehr wird, wenn man Sozialstaat und Migration nicht gegeneinander ausspielt.

***

Unteilbar – einige Überlegungen zum „Wie weiter?“

Wie viele andere war ich vom Erfolg der Unteilbar-Demonstration in Berlin überrascht. Ich hatte zuvor noch eine Deutschlandfunk-Sendung mit Peter Grottian gehört, der rechtfertigen musste, weshalb wahrscheinlich viel weniger Menschen kommen würden als zu den Anti-TTIP-Demos usw. Die Schätzungen lagen bei 40.000 Teilnehmer_innen. Daran gemessen war die Demo ein grandioser erster Erfolg. Das wirft die Frage nach Fortsetzung und Verstetigung auf. Ich habe diese Frage direkt und indirekt während eines Seminars in Volterra diskutiert, an welchem u.a. die Herausgeber_innen (eher sozialdemokratisch oder grün orientiert, vor allem aber professionelle Soziolog_innen) des Berliner Journals für Soziologie sowie Mitarbeiter_innen und Studierende aus meinem Arbeitsbereich (überwiegend links bis radikal links, teilweise aufgeschlossen für „Aufstehen“) teilgenommen haben. Diese Debatten fließen in die nachfolgenden Überlegungen ein.

Was hat zu dem Mobilisierungserfolg geführt?

Aus meiner Sicht gibt es dafür drei Gründe:

· eine allgemeine Bereitschaft in großen Teilen der Zivilgesellschaft, auch persönlich etwas gegen den Rechtsruck zutun;

· der im Motto Unteilbar enthaltene Brückenschlag zwischen Bürgerrechten und sozialer Frage;

· die gerade deshalb erreichte politische Breite mit einer klaren Zuspitzung, die zu einer Distanzierung auch der CDU/CSU geführt hat. Die Botschaft war indirekt:„Einheit und Klarheit!“

Was ist mir während der Volterra-Debatte aufgefallen?

Interessant war, dass die Bedeutung, die ich der Demo zugeschrieben habe (Beginn einer neuen gesellschaftlichen Massenbewegung) von (fast?) niemandem so geteilt wurde. Überraschend war auch, dass es durchaus Berührungspunkte zwischen Sichtweisen gab, die eher von „rechts“ und eher von „links“ kritisiert haben. Diese Berührungspunkte kulminierten vor allem in der Einschätzung, es habe sich um eine „linke“ Selbstbestätigungs-Demo gehandelt, bei der sich die Teilnehmenden in einer gewissen moralischen Selbstüberhöhung ihrer linksliberalen Weltsicht versichert hätten. Ich teile diese Einschätzung überhaupt nicht, halte sie aber für interessant und gebe sie deshalb wieder. Folgende Argumente spielten in der Debatte eine Rolle:

Das Demo-Bündnis sei sehr heterogen und werde deshalb nicht lange überleben. Demos habe es sehr viele gegeben, was solle nun kommen, noch eine Demo?

Wenn es weitergehen solle, dann dürften Ziele und Programme nicht von oben vorgegeben werden, sondern seien unter Einbeziehung derer, die demonstriert hätten, erst zu entwickeln. Sich zu bewegen, weil einige Funktionäre von oben etwas vorgäben, sei nicht attraktiv.

Nur gegen die AfD zu sein, sei „zu leicht“. Da könnten die allermeisten zustimmen. Stattdessen müsse man heraus aus der Defensive. Man dürfe nicht immer nur reagieren, sondern müsse selbst offensiv werden. Dafür reiche eine Ein-Punkt-Bewegung nicht aus.

An Parteien und Parteipolitik dürfe man sich nicht orientieren, die sei weitestgehend verbraucht. Da komme nichts dabei heraus. Wenn überhaupt, so müsse man eigene Diskussionsformen entwickeln, etwa „Regionalkonferenzen“, wie „Aufstehen“ dieses praktizieren wolle. In solchen Foren müsse ein Kernprogramm formuliert werden, das dann in die Gesellschaft getragen werde könne.

Worüber nachdenken?

Ich möchte nicht verschweigen, dass ich die meisten dieser Argumente für halb richtig, halb falsch halte. Was mich am meisten befremdet, ist vor allem der Unwille, in gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und schrittweisen Veränderungen zu denken. Das politische Feld wird aus den Überlegungen häufig nahezu vollständig ausgeklammert. „Richtige“ Gesinnung geht allzu oft vor Analyse. Vor allem aber wird die Gefahr, die von rechts ausgeht, dramatisch unterschätzt. Das scheint mir der Angelpunkt aller Überlegungen zu sein. Wie man der AfD das Wasser abgraben kann, wie man eine Regierungsbeteiligung der Rechtspopulisten verhindern kann, wie man in einer Situation zu agieren hat, in der es gesellschaftlich wie politisch eine rechte Mehrheit gibt – das alles wird kaum durchdacht. Stattdessen bleibt man lieber in seiner linken Filterblase und unternimmt argumentativ alles, um sich im Ohnmachtszirkel einzurichten und wohl zu fühlen. Dementsprechend bewegt sich die Argumentation in folgendem Muster: Ein kleiner Schritt reicht nicht, deshalb wird kritisiert, was real passiert. Der große Schritt, den man möchte, passiert aber auch nicht und ist unrealistisch, deshalb hat alles einen resignativen Unterton und am Ende bleibt alles so, wie es ist.

Auch wenn ich mich mit ihr kritisch auseinandersetzen würde, ist das gleichwohl eine Geisteshaltung, die in der jüngeren Generation und in erheblichen Teilen der akademischen Linken weit verbreitet ist und mentalitätsbildend wirkt. Deshalb versuche ich mal, den positiven Extrakt aus der Debatte herauszuholen. Vier Punkte scheinen mit besonders wichtig:

Die Besonderheit von Unteilbar und die Bedeutung dieses Bündnisses müssen in den Auswertungen präzise und klar herausgearbeitet werden. Das gilt insbesondere für die Verbindung von – salopp formuliert–„Menschenrechts-Linker“ und „sozialer Linker“. Dieses Bündnis der Linkskräfte sollte den Kern der neuen Bewegung bilden. Menschenrechte sind unteilbar, dürfen aber gerade nicht gegen soziale Rechte gewendet werden! Vor allem aber: Die Perspektive einer progressiven gesellschaftlichen Transformation sollte offensiv thematisiert werden.

Eine Einpunkt- und Einforderungs-Bewegung bringt nichts. Es wird ein inhaltlicher Konsens gewünscht, der deutlich mehr beinhaltet, als „nur“ gegen die AfD zu sein. Ein solcher Konsens muss – auch – von unten entstehen und benötigt eigenständige Organisationsformen.

Was tun?

Der Versuch, Unteilbar als neue Massenbewegung zu verstetigen, muss unbedingt gemacht werden. Dabei sind Einheit und Klarheit nötig. Deshalb sollte klar eine „Mosaiklinke“ den Kern dieser Bewegung bilden – eine Mosaiklinke, die das Verbindende sucht, aber auch deutlich macht, dass es um grundlegende gesellschaftliche Veränderungen geht.

Grundsätzlich ist zu beachten: Nicht agieren wie die Friedensbewegung der 1980er – Breite ist alles. Den Unterstützer_innen sollte mehr abverlangt werden.

Es werden eigenständige Organisationsstrukturen benötigt, die offen sind, basisdemokratisch organisiert, die sich aber doch an klaren Vorschlägen abarbeiten können. Sind Regionalkonferenzen eine Idee?

Die lokalen/regionalen Initiativen sollten folgende Aufgaben haben: Diskussion und Realisierung von Aktionsvorschlägen vor Ort; Diskussion von Kernforderungen der Bewegung bottom up; Bündelung von Initiativen, mit übergreifenden Aktionen gegen rechts und für eine bessere Gesellschaft.

Realisierung eines „gesellschaftlichen Wahlkampfs“ gegen rechts in 2019 und 2020, der nicht Parteipolitik bedient, sondern das Parteienspektrum mit Kernforderungen für eine alternative Politik konfrontiert – aktiv, vielfältig, fantasievoll, aber gelegentlich auch die Kraft bündelnd.

Ein unverzichtbares Ziel muss sein: AfD möglichst am besten aus den Parlamenten heraushalten, zumindest aber so klein wie möglich. Auf keinen Fall darf die Partei aber in irgendeine Regierungsverantwortung!

Nicht minder wichtig ist es, die Systemfrage nicht der Rechten zu überlassen. Deshalb sollten bundesweit Transformationskongresse zuerst regional/lokal, dann auf Bundesebene veranstaltet werden, die klar herausarbeiten, welche Richtung eine grundlegende gesellschaftliche Transformation annehmen soll.

Wie mit „Aufstehen“ umgehen?

Das Verhältnis zu „Aufstehen“ ist zu klären. Aus meiner Sicht sollte gelten: Keine Abgrenzungsakrobatik. Sarah Wagenknecht sollte die Chance erhalten, ihre Position zu überdenken und zu korrigieren! Gut wäre: Ein gemeinsamer gesellschaftlicher Wahlkampf in getrennten Strukturen, aber mit gemeinsamen Aktionen/Veranstaltungen.

Klaus Dörre

Dokumentation zu #unteilbar[1]

Als sich am 13. Oktober 2018 in Berlin fast eine Viertelmillion Menschen versammelte, um gegen Rassismus und Rechtsentwicklung und für eine offene und solidarische Gesellschaft zu demonstrieren, war das für das Jahr 2018 keineswegs die erste, aber die bisher größte Demonstration dieser Art gewesen. Vor einigen Wochen haben die InitiatorInnen von #unteilbar ein Bändchen vorgelegt, das den Aufruf selbst und 43 Redebeiträge der Demonstration und ihrer verschiedenen Kundgebungen versammelt. Leider wird die Anordnung der Beiträge nicht erläutert; zudem fehlt der Hinweis, dass Beiträge gekürzt wurden.

Ob hier schon von einer Bewegung gesprochen werden kann, muss sich erst noch zeigen. Jedenfalls wird aus dieser kleinen, 80 Seiten umfassenden Materialsammlung deutlich: Hier handelt es sich nicht um eine „Ein-Punkt“-Initiative, sondern um eine deutliche Wortmeldung sehr unterschiedlicher Initiativen und Organisationen der „Zivilgesellschaft“ gegen die Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse nach rechts. Schon der Aufruf selbst war so angelegt. Einer seiner Kernsätze: „Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden.“ Das Ziel des Bündnisses und der Demonstration beschränkte sich deswegen nicht auf Solidarität mit Geflüchteten und MigrantInnen, obwohl es darum natürlich auch ging. Das Ziel sei „eine offene und freie Gesellschaft“, die durch „Solidarität statt Ausgrenzung“ geprägt ist (übrigens ein sehr viel klüger gewähltes Gegensatzpaar als im vergangenen Jahr „Solidarität statt Heimat“[2]).

Die Initiatoren konstatieren „eine dramatische politische Verschiebung“ und kündigen Widerstand an, „wenn Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden sollen“. „Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. Es ist ein Angriff, der uns allen gilt.“ Diese Angriffe von rechts kommen auf mehreren Ebenen: „Europa ist von einer nationalistischen Stimmung der Entsolidarisierung und Ausgrenzung erfasst“. Ausdrücklich genannt werden aber auch die zunehmende Überwachung und entsprechende Gesetzesverschärfungen, und auch die Schwächung der Sozialsysteme, skizziert durch Stichworte wie Pflege, Gesundheit, Kinderbetreuung, Bildung, Wohnen, die Umverteilung von unten nach oben, den Niedriglohnsektor und die Verarmung vieler Menschen, die seit der Agenda 2010 massiv vorangetrieben worden sei.

Eine Stärke des Aufrufs liegt darin, dass er Rassismus nicht eindimensional als Ausfluss sozialer Prekarisierung auffasst, der möglicherweise wieder verschwinde, wenn die soziale Verunsicherung großer Bevölkerungsgruppen gestoppt werde. Vielmehr werden Sozialdemontage und Rassismus als je eigenständige Probleme aufgefasst, die aber auch miteinander zusammenhängen.

Das unterstreicht beispielsweise DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell. Er kritisiert rassistische Hetze und Rechtsextremismus und stellt sie in einen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Konflikten: „Der Widerspruch besteht immer noch zwischen Kapital und Arbeit – nicht zwischen Inländern und Ausländern“. „Die Menschen, die aus Not, aus Angst vor dem Tod auf der Suche nach Sicherheit für sich und ihre Familien flüchten, sind nicht dafür verantwortlich, dass wir hierzulande für faire Löhne, auskömmliche Renten, sichere Arbeitsplätze und soziale Sicherheit streiten müssen! Wohnungsnot, fehlende Kitaplätze, unsichere Arbeitsbedingungen, mickrige Renten, geschlossene Schwimmbäder und marode Schulen auf der einen Seite, Vermögenskonzentration, Steuererleichterungen für Reiche, die Ausweitung der prekären Beschäftigung per Gesetz auf der anderen Seite, das alles war vor dem Jahr 2015 auch schon da!“ (73f.) Beiträge wie dieser zeigen, dass es durchaus möglich ist, soziale Interessen der Lohnabhängigen zu verteidigen, ohne dabei in nationale Engstirnigkeit zu verfallen und es an humaner Empathie für Flüchtlinge fehlen zu lassen.

Die Autorin Kübra Gümüsay unterstreicht, die von Rechten geschürte „Angst vor den abstrakten Fremden“ solle von den „tatsächlichen Problemen“ ablenken, und nennt vor allem „die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, die Armut der Alten, fehlende Lehrkräfte, Pflegekrise, ökonomische Unterschiede zwischen Ost und West, unser krankes Zwei-Klassen-Gesundheitssystem und vieles vieles mehr“ (14). Im Statement der Interventionistischen Linken heißt es: „Für uns heißt der Kampf gegen Rassismus aber auch Kampf gegen die soziale Spaltung.“ (20) Jutta Weduwen von der Aktion Sühnezeichen und Mitinitiatorin des #unteilbar-Bündnisses, ruft auf, „gemeinsam gegen Rassismus“ und „für soziale Gerechtigkeit“ aktiv zu werden (53). Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, erinnert eindringlich an die für die reiche Bundesrepublik beschämenden Probleme wie Wohnungslosigkeit, Armut, die Vernachlässigung der behinderten Menschen und Pflegebedürftigen und ergänzt: „Wir zeigen allen Rassist*innen und allen rechten Demagog*innen … die rote Karte. … Rassist*innen und Rechtsradikale zielen ja nicht nur auf Ausgrenzung von Ausländer*innen, von Behinderten, von Schwulen und Lesben ab. Sie streben eine andere Gesellschaft an“ (77), eine beklemmende Gesellschaft der Ausgrenzung. Der Sozialpolitiker plädiert für eine „offene, humane und solidarische Gesellschaft“. Für Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall ist klar: „Wir werden die Ursache für Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Spaltungen nicht bei denjenigen suchen, die selbst Opfer des Gegenwarts-Kapitalismus sind“. Er fragt, „glaubt denn wirklich jemand, das Geflüchtete fairen Löhnen, sicheren Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit im Wege stehen?“ Sein Fazit: Die soziale Frage wird heute wie früher entschieden „zwischen oben und unten, zwischen Reich und Arm“ und: „Hetze gegen Minderheiten hilft nicht gegen soziale Ungerechtigkeit, sondern internationale Solidarität, starke Gewerkschaften und Druck aus der Zivilgesellschaft.“ (27f.)[3]

Die Erstunterzeichnenden des Aufrufs kamen zunächst zu einem guten Teil aus dem Spektrum der antirassistischen und Bürgerrechts-Initiativen (wie dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein. Der von den InitiatorInnen gewählte Ansatz motivierte aber – darüber hinausgehend – auch einen politisch breiteren Kreis von Akteuren, den Aufruf zu unterstützen und öffnete bewusst die Tür für das breitere Spektrum der zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen. Das widerspiegelt sich auch in den Beiträgen dieser Dokumentation. Hier finden sich – unter vielen anderen – nicht nur VertrerInnen der Seenotrettung, Flüchtlingsinitiativen, Initiativen gegen Rassismus und Ausgrenzung, gegen Diskriminierung vom Schwulen, Lesben usw., pro asyl, amnesty international und das Berliner Bündnis gegen Abschiebungen nach Afghanistan, sondern auch Mitglieder der Tarifkommission bei Ryanair, das Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus und auch Vertreter desDeutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, des Zentralrats der Muslime in Deutschland, des jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus, des DGB und der IG Metall. Auch Beiträge der Musiker Konstantin Wecker und Herbert Grönemeyer sind vertreten. Erst diese – hier nachzulesende - Breite machte die Demonstration zu einer unübersehbaren Manifestation der demokratischen Zivilgesellschaft – die sich aber noch erweitern ließe.

Die vom Aufruf #unteilbar inspirierten Beiträge lassen einen gewissen Grundkonsens erkennen – es geht gegen die Rechtsentwicklung in ihren verschiedenen Facetten –, sind aber natürlich in ihrem Tenor nicht homogen. Es gibt durchaus von einem universalistischen Bekenntnisethos und bedingungslosen Antirassismus geprägte Statements, die die durch Migration in die hochentwickelten kapitalistischen Länder möglicherweise entstehenden – aber lösbaren – ökonomischen, sozialen und politisch-kulturellen Reibungen kaum oder gar nicht thematisieren.

Zwar enthält der Band auch etliche Beiträge von Initiativen, die ganz auf ihr je spezielles Thema konzentriert sind: Die Vertreterin der „Seebrücke“ erkennt den Rassismus als „gemeinsames Grundproblem“, die Nachbarschaftsinitiative zum Erhalt der Berliner Kieze engagiert sich gegen die Wohnungskrise, die die Menschen „zu Konkurrent*innen“ macht, das Berliner Bündnis gegen Abschiebungen nach Afghanistan prangert die Inhumanität dieser Abschiebungspraxis an, die Vertreterin des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus wendet sich gegen antisemitische Hetze und im weiteren Sinne auch gegen Diskriminierung anderer Minderheiten. Viele andere Statements ziehen auch die Verbindung zwischen einzelnen Konfliktfeldern und dem generellen Rechtsruck, der sich in diesen Konflikten äußert.

Zugleich war die Demonstration bei aller Vielfalt kein Ausdruck eines politisch naiven und in den Sonntagsreden leicht zu habenden Bündnisses der „staatstragenden Demokraten“ gegen die AfD. Die Distanzierung der Berliner CDU von Aufruf und Kundgebung war schon Indiz dafür, dass die dort geäußerte Kritik an der herrschenden Politik verstanden worden war. Im Statement der Interventionistischen Linken wird betont: „Rassismus, das ist nicht nur der rechte Mob, das ist nicht nur die AfD. Rassismus ist tief eingeschrieben in diesen Staat und diese Gesellschaft“ (19). Newroz Duman, Sprecherin des Netzwerks We’ll Come United, sagte: „Es geht nicht darum, ein gutes Deutschland, wie es vor der AfD war, zu verteidigen. Wir befinden uns in ganz Europa in einer Phase der rechten und autoritären Transformation, die nicht von außen über unsere Gesellschaft hereingebrochen ist. Im Gegenteil: Regierungen, die so genannte ‚Mitte der Gesellschaft‘, Polizei und Justiz sind nicht selten wesentliche Akteure des Rechtsrucks“ (38). Hans-Jürgen Urban warnte, „Rassismus und Rechtspopulismus“ seien dabei, „tief in die Gesellschaft“ einzudringen (27), und die Journalistin Ferda Ataman kritisierte, viele Politiker ließen sich „von den Rechtsradikalen vor sich her treiben“ (80). Insgesamt machen der Rückblick auf die Demonstration und diese Dokumentation deutlich: Es bestand der Wunsch nach einem inhaltlichen Konsens, der über den reinen Protest gegen Rassismus, gegen die AfD hinausgeht. Diese Demonstration hat Raum geschaffen für linke Alternativen, für die Perspektive einer progressiven gesellschaftlichen Transformation, die die kapitalistischen Verhältnisse angreift. Es sollte im Weiteren die Aufgabe der mosaiklinken Kerne in den Bewegungen sein, dies zu thematisieren.

Jürgen Reusch

[1] Bündnis #Unteilbar (Hrsg.): #Unteilbar. Für eine offene und solidarische Gesellschaft, Ullstein Streitschrift, Berlin 2019, 80 Seiten, 8,- Euro.

[2] Siehe dazu Z 115 (September 2018), S. 206ff.

[3] Urbans Redebeitrag ist hier übrigens um etwa ein Drittel gekürzt; vgl. die komplette Version: https://hans-juergen-urban.de/wp-content/uploads/2018/10/2018_10_13_rede_urban_unteilbar_demo.pdf.