Klassen und neue Klassendiskussion

Die Bundesrepublik – eine demobilisierte Klassengesellschaft

Neun Thesen aus dem PKJ

von Klaus Dörre
Dezember 2018

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Über viele Jahre hinweg kaum beachtet, sind Klassen und Klassenpolitik mit Wucht in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt. Dabei fällt auf: Vieles was im Gefolge der 1968er-Bewegungen wissenschaftlich wie politisch an Erkenntnisfortschritt erreicht worden war, ist heute in Vergessenheit geraten oder gänzlich verloren gegangen. Deshalb wird die aktuelle Klassendiskussion aus wissenschaftlicher Perspektive oftmals sehr oberflächlich geführt. Das ist nicht verwunderlich, denn auch die Sozialwissenschaften verfügen derzeit nicht über ausgereifte Konzepte, mit deren Hilfe sie die Klassengesellschaften des 21. Jahrhunderts analytisch durchdringen könnten. Deshalb reproduzieren und verdoppeln sie in ihren Gesellschaftsdeutungen, was sich real ohnehin abspielt. Einerseits nehmen vertikale, klassenspezifische Ungleichheiten in allen Gesellschaften sowohl des globalen Nordens wie des Südens zu, andererseits sind um den Gegensatz von Kapital und Arbeit gebaute politische und gewerkschaftliche Organisationen so schwach, wie es nach 1949 wohl noch nie der Fall gewesen ist. In diese Lücke stoßen rechte, radikalpopulistische Strömungen, denen es in vielen Ländern gelungen ist, Teil der Arbeiterschaft für sich zu gewinnen. Das PKJ bezeichnet dies – vorläufig – als Tendenz zu demobilisierten Klassengesellschaften. Selbiges vor Augen scheint die Zeit reif, um die Suche nach angemessenen Klassentheorien und -analysen wieder aufzunehmen. Sinnvoll ist ein solches Unterfangen aber nur, sofern es von Fragen, Problemen und Widersprüchen ausgeht, die für kapitalistische Gesellschaften im 21. Jahrhundert charakteristisch sind. Längst vergessene Wissensbestände müssen über eine bloße Rekonstruktion hinaus neu zusammengefügt und in einer Weise erweitert werden, die es erlaubt, sie analytisch gewinnbringend anzuwenden.

1. Kulturklassen und symbolische Kämpfe

Wie wichtig das Feilen an Begriffen und Konzepten ist, belegt ein Blick auf die sozialwissenschaftliche Klassendiskussion, die sich derzeit im deutschsprachigen Raum entspinnt. In dieser Debatte werden Klassen bevorzugt als abgrenzbare Muster kultureller Lebensführung neu entdeckt. Als wichtiger Stichwortgeber spricht Andreas Reckwitz von der Herausbildung einer Drei-Drittel-Gesellschaft. Analytischer Ausgangspunkt ist Schelskys „nivellierte Mittelstandgesellschaft“, die, von Reckwitz als soziale Realität vorausgesetzt, seit vielen Jahren „erodiert“ (Reckwitz 2017: 277). An ihre Stelle trete „eine Polarität zwischen einer mit hohem kulturellen (sowie mittlerem bis hohen ökonomischen) Kapital sowie eine Klasse mit niedrigem kulturellen und ökonomischen Kapital […]: die neue Mittelklasse einerseits, die neue Unterklasse andererseits“ (ebd.). Bildungsexpansion und sektoraler Wandel hätten zu dieser Klassenpolarisierung geführt. Einem Paternostereffekt gleich sei der Aufstieg einer neuen akademischen Mittelklasse begünstigt worden, während die Positionierung in der Unterklasse sich mehr und mehr als Dauerhandicap erweise (ebd.: 281). Der Abstieg von Unterklasse und Teilen der alten Mittelklassen vollziehe sich auf drei Ebenen: erstens der ungleichen Verteilung von Bildungsabschlüssen und kulturellem Kapital, welche Niedrigqualifizierte bei der Gestaltung ihres Lebenslaufs und dem Selbstwertgefühl dauerhaft benachteilige; zweitens der „Selbstkulturalisierung“ (ebd.) von Lebensstilen, die Angehörigen der akademischen Mittelklasse mit ihrem kosmopolitischen Welt- und Selbstverhältnis zu einem Prestige verhelfe, das sie gegenüber anderen Klassen auszeichne sowie drittens der Ebene einer „Valorisierung und Entwertung“, die Angehörige der neuen Mittelklassen zu „wertvollen Subjekten“ mache, während die Unterklassen eine Kultur von „‚Verlierern’ und ‚Abgehängten’“ (ebd.: 284) repräsentierten.

Zweifellos thematisiert die beobachtete Kulturalisierung sozialer Ungleichheit wichtige gesellschaftliche Veränderungen, doch bei genauerem Hinsehen werden die Grenzen des Ansatzes rasch sichtbar. So werden Veränderungen an der Spitze der Vermögens- und Einkommenspyramide – die Abschottung herrschender Klassenfraktionen sowie deren Fähigkeit zur Transformation von ökonomischer in politische Macht – zwar erwähnt, doch der Anteil der Machteliten an der Restrukturierung von Klassenverhältnissen bleibt aus der Analyse ausgespart. Dass Unterklasse, alte und neue Mittelklassen sich durch gemeinsame Muster der Lebensführung und je besondere Ressourcenausstattung voneinander unterscheiden (ebd.: 274), wäre empirisch erst noch zu beweisen. Ungeachtet dessen reduziert das Konzept der Kulturklassen den Klassenkampf auf Distinktion und symbolische Herrschaft. Die Frage nach mobilisierten Klassen gerät vollständig aus dem Blick. Diesen Mangel teilt Reckwitz indes mit zahlreichen Ansätzen, die sozioökonomische Klassenunterschiede von einem cleavage überlagert sehen, welcher globalisierungsaffine Kosmopoliten in symbolische Auseinandersetzungen mit gemeinschaftsorientierten Kommunitaristen verstrickt.

2. Eine Stärke herrschaftskritischer Klassentheorien

In Absetzung von kulturalistischen Verengungen macht es Sinn, sich der eigentlichen Stärke herrschaftskritischer Klassentheorien neuerlich zu vergewissern. Das führt mich zu

· These eins: Im Unterschied zu Schichtungsmodellen benennen Klassentheorien Kausalmechanismen, die das „Glück der Starken“ mit „der Not der Schwachen“ verbinden (Boltanski/Chiapello 2003: 398).

Für eine erneuerte Klassentheorie sind fünf Kausalmechanismen besonders relevant: vertraglich auf Äquivalententausch beruhende Ausbeutung (Karl Marx), aus ungleichem Tausch, außerökonomischem Zwang und Dominanz resultierende Überausbeutung (Nancy Fraser), soziale Schließung (Max Weber), bürokratische Kontrollmacht (Erik Olin Wright), Enteignung u. a. von Gemeineigentum und öffentlichen Gütern (Rosa Luxemburg, David Harvey, Sylvia Federici) und nicht zuletzt Distinktion, Auf- und Abwertung (Pierre Bourdieu, Didier Eribon).

Wie ein Kausalmechanismus funktioniert, der Herrschende und beherrschte Klassen verbindet, kann anhand der Ausbeutungskategorie veranschaulicht werden: In einem allgemeinen Sinne bezeichnet Ausbeutung eine Äquivalenzbeziehung zwischen Starken und Schwachen, zwischen Reichen und Armen. Von Ausbeutung kann nur die Rede sein, sofern sich nachweisen lässt, dass die Reichen reich sind, „weil die Armen arm sind, das heißt sie sind reich auf Kosten der Armen“ (Wright 1985). Als Minimalkriterium für die Relevanz von Klassenbeziehungen, die auf Ausbeutung beruhen, kann daher der Nachweis gelten, „dass der Erfolg und die Stärke der einen de facto zumindest teilweise anderen Akteuren zu verdanken ist, die dafür weder Anerkennung noch Wertschätzung erhalten. Es geht um den Nachweis eines „Verbindungsprinzips“, das eine „Brücke schlägt zwischen dem Glück der Starken (bzw. hohen Wertigkeitsträgern) und der Not der Schwachen (bzw. geringen Wertigkeitsträgern)“ (Boltanski/Chiapello 2003: 398ff.). Sämtliche genannten Kausalmechanismen sind in allen Spielarten des Kapitalismus stets präsent. Ihre Gewichtung verschiebt sich jedoch in Abhängigkeit von Akkumulationsdynamik, gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, sozialen Konflikten und politischen Blockbildungen. Vereinfacht gesprochen gewinnen Kausalmechanismen wie Überausbeutung, Distinktion, Auf- und Abwertung in dem Maße an Bedeutung, wie eine Einhegung kapitalistischer Ausbeutung durch den Einsatz von Machtressourcen beherrschter Klassen und deren Institutionalisierung in sozialen und demokratischen Rechten der Subalternen misslingt. Enteignung, Überausbeutung und sozialer Ausschluss greifen also umso stärker, je mehr institutionalisierte Arbeitermacht zurückgedrängt wird.

· These zwei: Zu den vergessenen Stärken der Marx’schen Klassentheorie gehört, dass sie mit der Ausbeutung von Lohnarbeit ein Verbindungsprinzip benennt, das zugleich gesellschaftlichen Wandel erklären soll.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat Ralf Dahrendorf diese Stärke präzise auf den Begriff gebracht: „Es geht mir um eine Sache: um den bemerkenswerten Tatbestand nämlich, daß soziale Strukturen zum Unterschied von den meisten anderen Strukturen aus sich selbst die Elemente ihrer Überwindung, ihres Wandels zu erzeugen vermögen.[…] Zumindest ein bedeutender Soziologe, Karl Marx, hat den Begriff der Klassen im hier angedeuteten Sinne verwendet […] Schicht ist ein deskriptiver Ordnungsbegriff. Der Begriff der ‘Klasse’ dagegen eine analytische Kategorie, die nur im Zusammenhang einer Klassentheorie sinnvoll sein kann. ‘Klassen’ sind aus bestimmten Strukturbedingungen hervorgegangene Interessengruppierungen, die als solche in soziale Konflikte eingreifen und zum Wandel sozialer Strukturen beitragen.“ (Dahrendorf 1957: VIII f.)

Auf den ersten Blick mag es scheinen, als führe dieses Argument noch hinter eine Theorie sozialer Schichtung zurück, wie sie von Theodor Geiger noch in den Jahren der Weimarer Republik entwickelt wurde. Von geschichtsphilosophischem Ballast befreit, ist Dahrendorfs Grundgedanke für eine moderne Klassentheorie dennoch unverzichtbar. Für eine bloße Beschreibung sozialer Ungleichheiten wird der Klassenbegriff nicht benötigt. Wenn es darum geht, vertikale Ungleichheiten möglichst genau abzubilden, sind Schichtmodelle oder Milieustudien wahrscheinlich leistungsfähiger als eine an Marx angelehnte Klassentheorie. Kritische Klassenkonzeptionen kommen jedoch nicht umhin, jene Herrschaftsmechanismen aufzudecken, die mit den Klassenverhältnissen in modernen kapitalistischen Gesellschaften eng verkoppelt sind. Ihr Anliegen ist die Überwindung, zumindest die Einhegung von Ausbeutung und Klassenherrschaft. Deshalb können sie auf die Frage nach sozialen Kräften, die Interessen beherrschter Klassen repräsentieren und entsprechende Transformationen anstreben, analytisch nicht verzichten.

3. Tendenz zu demobilisierten Klassengesellschaften

Damit ist nun allerdings ein analytischer Anspruch formuliert, den empirisch einzulösen gegenwärtig schwerfällt. Das hängt mit einer bereits angesprochenen Entwicklung zusammen, die These drei noch einmal zusammenfasst:

· These drei: In den kapitalistischen Zentren und auch in Deutschland haben sich demobilisierte Klassengesellschaften herausgebildet.

Zwecks Plausibilisierung kann auf Überlegungen des schwedischen Sozialwissenschaftlers Göran Therborn (2012: 5-29) zurückgegriffen werden. Therborn analysiert die Entwicklung neuer Klassenverhältnisse in einer globalisierten Welt. Dabei zeichnet sich als Megatrend eine Abnahme sozialer Ungleichheiten zwischen Nationalstaaten bei gleichzeitiger Ausprägung klassenspezifischer Ungleichheiten innerhalb der Nationalstaaten ab. Das einigermaßen rasche Wachstum in den großen und kleinen Schwellenländern, welches deren Mittelklassen expandieren lässt, geht teilweise zulasten von beherrschten Klassen in den alten Metropolen. Hauptgewinner der Globalisierung sind die reichen Eliten, die noch immer überwiegend in den alten Zentren leben. 44 Prozent des Einkommenszuwachses, der zwischen 1988 und 2008 erzielt wurde, entfallen auf die reichsten fünf Prozent, nahezu ein Fünftel auf das reichste eine Prozent; die aufstrebenden Mittelklassen in den Schwellenländern verfügten lediglich über zwei bis vier Prozent der absoluten Zuwächse. Für die Verlierer, hauptsächlich die Industriearbeiterschaft der alten Zentren, entfällt damit zunehmend, was der Ex-Weltbanker Branko Milanovic (2016) als „Ortsbonus“ der Reichtumsverteilung bezeichnet. Das Privileg, in einem reichen Land geboren zu sein, schützt nicht mehr vor sozialem Abstieg. Statistisch drückt sich dies vorerst nur in einer geringfügigen Veränderung der Ortskomponente aus. Doch die Ungleichheit wird zwar immer stärker inter- und transnational produziert, von den beherrschten Klassen politisch noch immer vorwiegend innerhalb des nationalen Containers verarbeitet. Hervorzuheben ist, dass die fortschreitende Deindustrialisierung entwickelter Kapitalismen im globalen Norden zu einem Niedergang von industriellen Arbeiterklassen und deren Machtressourcen geführt hat. Während sich die Industriearbeiterschaft der entwickelten Kapitalismen zunehmend als Großgruppe im sozialen Abstieg begreift, haben die expandierenden Arbeiterklassen der aufholenden Schwellenländer den Aufstieg in die expandierenden Mittelklassen als lebenspraktische Vision vor Augen. Deshalb verschiebt sich die Konfliktdynamik in Richtung der gebildeten, aber perspektivlosen Mittelklassen oder zu jenen plebejischen Massen, die unterhalb der Arbeiterschaft die gesellschaftliche Sozialstruktur prägen.

· These vier: Die ungleiche Entwicklung bedingt, dass Lohnarbeitsklassen auch in den kapitalistischen Zentren im Plural buchstabiert werden müssen.

Therborns Überlegungen sind keine Blaupause, die sich umstandslos auf deutsche Verhältnisse übertragen ließe. Die Deindustrialisierung ist hierzulande weit weniger vorangeschritten als in vergleichbaren europäischen Ländern. Genau genommen spalten sich die Lohnabhängigen und ihre Familien, die noch immer die große Mehrheit der Gesellschaft ausmachen, in mindestens drei Arbeitsklassen auf, die sich hinsichtlich der Ausbeutungsformen, der Verfügung über Machtressourcen und Sozialeigentum, ihrer Stellung in Unternehmenshierarchien und gesellschaftlicher Arbeitsteilung sowie den daraus resultierenden Chancen am Arbeitsmarkt gravierend unterscheiden.

Erstens: Hochqualifizierte Beschäftigte und Spezialisten, die in der kulturalistisch gefärbten Klassendiskussion umstandslos der sozialen Mitte zugerechnet werden, verfügen mehrheitlich noch immer über Positionen am Arbeitsmarkt und im (Re-)Produktionsprozess, die es ihnen – und sei es individuell – erlauben, strukturelle Machtressourcen einzusetzen, um Gehaltszuwächse durchzusetzen und (sekundäre, aus Dominanz beruhende) Überausbeutung zu minimieren. Diese Gruppen bewegen sich in sozialer Nähe zu mittleren Klassenlagen, die weder Ausbeutern noch Ausgebeuteten zugerechnet werden können oder aber Gruppen umfassen, die in einer Hinsicht ausgebeutet werden, in anderer Hinsicht aber selbst ausbeuten. Mithilfe einer solchen Definition wird nachvollziehbar, weshalb quantitativ noch immer majoritäre Arbeiterklassen – abhängig von technologischen und organisatorischen Veränderungen im entwickelten Kapitalismus mit seinen hierarchischen Großunternehmen und Staatsbürokratien – tendenziell schrumpfen, während neben einer „relative surpluspopulation“ vor allem „experts“ und „proper managers“ zunehmen (Wright 1997: 532). Alte und neue Mittelklassenfraktionen werden jedoch deutlich enger gefasst, als dies in der kulturalistischen Klassendiskussion im deutschsprachigen Raum der Fall ist. Die soziale Mitte bildet keine Mittelklasse, die Lohnarbeit umfassend integrieren könnte. Akademisch qualifizierte Lohnabhängige, die nicht selbst die Erwerbsarbeit anderer ausbeuten, entsprechen eher den französischen cadres. Sie sind Mitglieder einer besonderen, akademisch qualifizierten Lohnarbeitsklasse.

Zweitens: Von dieser Klasse unterscheidet sich die Masse der Arbeiter und Angestellten mit überwiegend mittleren Qualifikationen, die überwiegend kommandierte Arbeitstätigkeiten ausübt. Diese Großgruppe ist im Finanzmarktkapitalismus in die Defensive geraten. Ihre organisationalen und institutionellen Machtressourcen reichen jedoch noch immer aus, um Einkommensverluste und Einbußen bei der Arbeits- und Lebensqualität in Grenzen zu halten. In ihren Handlungsstrategien und subjektiven Orientierungen ist diese Arbeitsklasse dennoch primär am Erhalt ihres sozialen Status interessiert. Sie verteidigt ihr verbliebenes Sozialeigentum gegen finanzkapitalistische Landnahmen „von oben“, aber auch gegen Konkurrenz aus dem prekären Sektor. Ihre defensive Grundhaltung kann eine exklusive, nicht nur gegen oben, sondern auch gegen fremd- und anders gerichtete Solidarität motivieren. Angehörige dieser Klassen, die sich im sozialen Abstieg wähnen, tendieren dazu, Konkurrenzen mit dem Mittel des Ressentiments auszutragen, ohne dass dies als naturwüchsiges, unumkehrbares Verhaltensmuster zu interpretieren wäre.

Die dritte, zumindest indirekt von Lohnarbeit abhängige Großgruppe bilden Angehörige einer Unterklasse, die kaum über Machtressourcen verfügen, um ihre Lage kollektiv zu beeinflussen. Charakteristisch für diese teils prekär, teils informell Beschäftigten und Erwerbslosen ist, dass sie sich in sozialer Nähe zu jenem Fürsorgestatus bewegen, der in Deutschland durch die Hartz-Gesetze politisch neu justiert wurde. Der Überlebenshabitus dieser in sich sozial heterogenen Unterklasse unterscheidet sich deutlich vom Kollektivhabitus der Beschäftigten in anderen Lohnarbeitsklassenlagen. Zugespitzt formuliert: Unterklassen, die in allen entwickelten Kapitalismen bis zu 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind kein neues Proletariat und sie sind auch nicht mit einem auf unsichere Beschäftigung angewiesenen Prekariat identisch, das sich aus unterschiedlichen Klassen(fraktionen) rekrutiert. Vielmehr handelt es sich um eine Klasse, die durch Enteignung von Sozialeigentum, sozialen Ausschluss, vorurteilsgeleitete Stigmatisierung und systematische Abwertung nicht nur der sozioökonomischen Klassenposition, sondern auch ihres sozialräumlichen Umfelds entsteht. Bei dieser Klasse ist völlig offen, ob sie ein positives, auf kollektive Veränderung des Status quo gerichtetes Klassenbewusstsein überhaupt zu entwickeln vermag. Die bloße Existenz von aus der Kapitalperspektive vermeintlich „Überflüssigen“ wirkt indes disziplinierend auf andere beherrschte Klassen zurück. Nichts fürchten Lohnabhängige mehr als einen Absturz unter die Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität. Deshalb tendieren viele von ihnen dazu, eine unwürdige, niedrig entlohnte, wenig anerkannte Erwerbstätigkeit der Arbeitslosigkeit vorzuziehen. Was am Beispiel der Unterklassen deutlich wird, lässt sich deshalb als Modus negativer Klassenbildung verallgemeinern.

· These fünf: Wenn mobilisierte Klassen nicht entstehen, kommt es zu sozialen Strukturbildungen, die sich als Wettbewerbsklassen bezeichnen lassen.

Den Hauptgrund hat Didier Eribon präzise benannt: Sofern man „‚Klassen‘ und Klassenverhältnisse einfach aus den Kategorien des Denkens und Begreifens und damit aus dem politischen Diskurs entfernt“, verhindert man damit „noch lange nicht, dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben“ (Eribon 2016: 122). Es öffnen sich soziale Räume, in welchen Klassen vorwiegend aufgrund negativer Klassifikationen und Zuschreibungen entstehen. Zugespitzt formuliert: Sofern dem Alltagsbewusstsein beherrschter Klassen Orientierungen fehlen, die mobilisierte Kollektive hervorbringen könnten, wirken Klassenverhältnisse im Modus der Konkurrenz, infolge einer permanenten Scheidung in Gewinner und Verlierer sowie mittels kollektiver Auf- und Abwertungen. Abwertung führt zur Herausbildung von sozialen Lagen, die jene diskriminieren, die sich mit solchen Lagen arrangieren müssen. Dabei spielt der Staat, der in entwickelten Kapitalismen direkt oder indirekt 40 bis 60 Prozent des BIP verteilt, eine zentrale Rolle. Durch Zuweisung oder Beschneidung von „Sozialeigentum“, ein kollektives Eigentum zur individuellen Existenzsicherung, nehmen Staatsaktivitäten erheblichen Einfluss auf die Klassenstrukturierung der Gesellschaft. Grenzziehungen, die mit der Enteignung von Sozialeigentum verbunden sind, bewirken Klassenbildung qua kollektiver Abwertung und Stigmatisierung sozialer Großgruppen.

4. Einige klassentheoretische Problemstellungen

Das Phänomen der Wettbewerbsklassen verweist auf Schwachstellen auch jener Klassentheorien, die sich auf Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie beziehen. Negative Klassenbildung, also eine Herausbildung sozialer Lagen und Muster der Lebensführung, die auf kollektiver Abwertung beruhen, ist bei Marx und den an ihn anschließenden Klassenkonzepten so nicht vorgesehen. Das rächt sich spätestens dann, wenn neben Gruppen an- oder unterhalb der Schwelle sozialer Respektabilität auch große Teile der Lohnabhängigen zum Objekt kollektiver Abwertungen werden. Genau das ist in der Gegenwart der Fall.

· These sechs: Soziale Gruppen in – statistisch betrachtet – Arbeiterklassenlagen nehmen sich heute mehrheitlich als gesellschaftlich abgewertet wahr. Diese Problematik ist zumindest teilweise eine politisch hausgemachte.

Klassen sind eben niemals homogene Kollektivsubjekte. Bewusstes Klassenhandeln, das nach einer weiten Definition grundsätzlich auf eine Verbesserung kollektiver Positionen im sozialen Raum zielt, ist äußerst voraussetzungsvoll. Grundsätzlich verfügen Lohnarbeitsklassen über ein weites Spektrum an Handlungsstrategien, das auch antagonistische Kooperation zwischen Herrschenden und Beherrschten oder die Verteidigung von Privilegien mittels Statuspolitik bestimmter Berufsgruppen einschließen kann. Revolutionäres Klassenhandeln ist eine seltene Ausnahme. Jeder Übergang von individuellem zu kollektivem und organisiertem Klassenhandeln erweist sich als äußerst voraussetzungsvoll. Zu kollektivem Handeln von Lohnarbeiterklassen kommt es nur, sofern ein gemeinsames Bewusstsein für ebenjene Kausalmechanismen entsteht, die Arm und Reich, Ausbeuter und Ausgebeutete, Herrscher und Beherrschte zueinander in Beziehung setzen. Dergleichen können intellektuelle Überzeugungssysteme leisten, die Lohnabhängige rational wie moralisch mit politischen Repräsentationen verbinden. Klassenlagen konstituieren – in sich widersprüchliche und daher interpretierbare – Interessen, sie geben aber keine verbindlichen politischen Orientierungen vor. Selbst wenn sich Großgruppen als soziale Klassen konstituieren, wenn also exklusive soziale Verkehrskreise, Kommunikationsverhältnisse und Wertorientierungen vorhanden sind, die eine bewusste Reflexion von Klasseninteressen überhaupt erst ermöglichen, bedarf es der aktiven Vermittlung politischer Überzeugungen durch soziale Bewegungen, Parteien oder Gewerkschaften, um halbwegs kohärente Beziehungen zwischen Klassenlagen auf der einen sowie gewerkschaftlichen und politischen Organisationen auf der anderen Seite herzustellen. Die Entproletarisierung der linken und Mitte-Links-Parteien hat maßgeblich zu einer Repräsentationslücke im politischen System beigetragen. Nur bornierte Klassenvergessenheit vermag zu erklären, weshalb beispielsweise die in vielerlei Hinsicht wegweisende Auseinandersetzung um die verkürzte Vollzeit, die Einführung einer 28-Stunden-Woche als Option in der Metall- und Elektroindustrie, von großen Teilen der politischen Linken weitestgehend ignoriert wurde.

· These sieben: Mangelnde Resonanz im linken Diskursraum verstärkt in Teilen der Lohnarbeiterschaft den Eindruck, dass die gewerkschaftliche Kampfkraft selbst bei Hochkonjunktur und Beschäftigungsrekorden nicht ausreicht, um Gerechtigkeitslücken zu schließen.

Dieses Empfinden erzeugt den Humus, auf dem rechter Sozialpopulismus gedeiht. Die nationalradikale Rechte beantwortet reale Herausforderungen mit einer imaginären, weil für die dominanten kapitalistischen Eliten letztlich herrschaftssichernden Revolte. Einer repulsiv gewordenen Globalisierung setzt sie einem aggressiven Nationalismus entgegen, der, in der Wahrnehmung vieler Arbeiter geradezu befreiend, den Sachzwangcharakter von Globalisierung und Internationalisierung bestreitet. Wachsende Ungleichheit nutzt der Rechtspopulismus für eine Ethnisierung der sozialen Frage. Die Umdeutung von Verteilungs- und Anerkennungskämpfen, die Klassen und deren Repräsentationen austragen, in Konflikte zwischen kulturell homogen konstruierten Volksgemeinschaften von In- und Ausländern bildet gleichsam den ideologischen Kern eines differentiellen Rassismus, der ohne Rassenbegriff auskommt. Populistisch sind solche Ideologeme, weil sie den Problemrohstoff, den die Gesellschaft erzeugt, in einem binären Schema bearbeiten. Dem korrupten Establishment wird ein unverdorbenes, kulturell relativ homogenes Volk gegenübergestellt, dessen Wille im Zweifelsfall mit dem der Populisten übereinstimmt. Rechtsradikal ist dieser Populismus, weil er einen kulturellen Antagonismus unterstellt. Jeder soll seine Kultur leben können – aber bitteschön dort, wo diese Kultur ursprünglich beheimatet ist. Der melting pot, so die Botschaft, funktioniert nicht. „Vermischung“ macht starke Kulturen schwach. Realisierte man das politische Programm, das dieses Gedankengebäude impliziert, wäre eine Welt aus vielen Apartheid-Staaten das unvermeidliche Resultat.

5. Übergänge zu mobilisierten Klassen

Der zeitgenössische Rechtspopulismus erweist sich somit als Bewegung Polanyi’schen Typs, die Kritik an diffuser Marktmacht mit aggressivem Nationalismus und rassistischen Klassifikationen verbindet. Der populistischen Revolte kann Einhalt geboten werden, wenn negative, auf Konkurrenz und Abwertung beruhende Klassenbildung in solidarisch-emanzipatorisches Klassenhandeln umschlägt. Solidarische Klassenpolitik benötigt einen wissenschaftlichen Unterbau, der die begrenzte Vielfalt klassenkonstitutiver „Verbindungsprinzipien“ und die Pluralität subalterner Klassen analytisch präzise erfasst. Dazu eignet sich eine Theorie kapitalistischer Landnahmen.

· These acht: Aus der Perspektive einer Theorie kapitalistischer Landnahmen gibt es stets ein Innen und ein Außen kapitalistischer Klassenverhältnisse.

Die unzureichende Analyse von Verhältnissen, Beziehungen und Kämpfen in den Exklusionsbereichen gehört zu den großen Schwächen vieler an Marx orientierter Klassentheorien. Das lässt sich mit Hilfe des Landnahmekonzepts ändern. Landnahme ist als Kategorie für Theorien zentral, die den Kapitalismus als expansives System analysieren und kritisieren. Kapitalistische Entwicklung vollzieht sich als komplexe Innen-Außen-Bewegung. Stets beinhaltet sie die Internalisierung von Externem, die Inklusion externalisierter Bereiche, die Okkupation eines nicht oder nicht vollständig kommodifizierten Außen. Beim Klassenkampf geht es deshalb nicht allein um die Intensivierung, Begrenzung oder gar die Aufhebung von Ausbeutung. Klassenhandeln zielt immer auch auf Grenzverschiebungen zwischen Inklusions- und Exklusionsbereichen der Gesellschaft, bezahlter und unbezahlter Arbeit, Ausbeutung und Überausbeutung etc. Das führt zu Spannungen und Kämpfen auch innerhalb von subalternen Klassen.

Was das klassenpolitisch bedeutet, lässt sich anhand von Sorge- und Reproduktionstätigkeiten verdeutlichen. Kapitalistische Klassenverhältnisse konstituieren, so feministische Varianten des Landnahmekonzepts, zwei Produktionsweisen – die Produktion von Gütern und Dienstleistungen einerseits und eine Produktionsweise, welche die Arbeitskraft hervorbringt, andererseits. Wir müssen davon ausgehen, dass „der Körper für Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft das gewesen ist, was die Fabrik für männliche Lohnarbeiter gewesen ist: der Hauptschauplatz ihrer Ausbeutung und ihres Widerstands. … Denn der weibliche Körper ist vom Staat und von Männern angeeignet und gezwungen worden, als Mittel der Akkumulation und der Reproduktion von Arbeit zu fungieren“ (Federici 2015: 23). Am historischen Beispiel der Hexenverfolgung zeigt Silvia Federici exemplarisch, wie sexistische und rassistische Klassifikationen, die einen anderen Ursprung haben als kapitalistische Ausbeutung und deshalb eigenlogisch funktionieren, systematisch für die Herstellung eines gesellschaftlicher Exklusionsbereichs genutzt werden, der die kapitalistischen Klassenverhältnisse durchzieht: „Die politische Lektion […] lautet in der Tat, dass der Kapitalismus als sozioökonomisches System zwingend auf Rassismus und Sexismus angewiesen ist. [...] Der Kapitalismus rechtfertigt und mystifiziert solche Widersprüche, indem er die ‚Natur‘ derjenigen, die er ausbeutet, verunglimpft, also die der Frauen, der kolonialen Subjekte, der Nachkommen afrikanischer Sklaven und der von Globalisierung entwurzelten Migranten und Migrantinnen“ (ebd.: 25). Es kann daher nicht darum gehen, race und gender der Klasse nur hinzu zu addieren. All diese Herrschaftsmechanismen und Konfliktlinien müssen in ihrer Eigenständigkeit, zugleich aber auch in ihren inneren Beziehungen zu den gesellschaftlichen Klassenverhältnissen ausgeleuchtet werden.

Für den ökologischen Gesellschaftskonflikt gilt ähnliches. Schon jetzt ist absehbar, dass vereinbarte Klimaziele das Wertschöpfungssystem Automobil einem radikalen Veränderungsdruck aussetzen werden. Klassenpolitik, die sich der Interessen dort Beschäftigter annimmt, wird deshalb gar nicht umhin können, die ökologische Konfliktlinie in konzeptuelle Überlegungen einzubeziehen. Auch im Bereich der Sorgearbeiten muss zwingend mit einem Ansatz gearbeitet werden, der nicht nur bezahlte Erwerbsarbeit, sondern sämtliche menschlichen Arbeitsvermögen einschließlich unbezahlter Reproduktionstätigkeiten einbezieht. Nicht zufällig haben sich gerade in diesem Sektor gewerkschaftliche Bewegungen herausgebildet, die offensiv für die gesellschaftliche Aufwertung ihrer Berufstätigkeiten kämpfen. Das sind Ansätze, in denen sich, ebenso wie in den IG-Metall-Powerstreiks für Arbeitszeitverkürzung, Übergänge zu mobilisierten Klassen andeuten, in welchen das Feld bloßer Wettbewerbsklassen überschritten wird.

Bei all dem dürfen wir aber nicht vergessen, was abschließend in

· These neun zugespitzt werden soll: Klasse eignet sich nur selten als politischer Mobilisierungsbegriff. Emanzipatorische Klassenpolitik benötigt populäre Projekte.

Wie das funktionieren kann, hat zuletzt #unteilbar eindrucksvoll demonstriert. Die erfolgreiche Mobilisierung einer Viertelmillion Menschen beruhte auf der bewussten Verknüpfung von Menschenrechten und sozialer Frage. Exemplarisch und ohne Federführung durch politische Parteien wurde sichtbar, wie ein neuer sozialer Block aussehen könnte, der dem Aufstieg der nationalradikalen Rechten Grenzen setzt. Noch ist unsicher, ob es sich bei der Mobilisierung um mehr als um ein punktuelles Aufbäumen handelt. Deutlich wird aber doch, welche Rolle emanzipatorische Klassenpolitik in einem solchen Bündnis spielen könnte. Klassensolidarität funktioniert nur, wenn sie Geschlechtergrenzen und ethnische Spaltungen überschreitet. Sie muss bei den Schwächsten der Gesellschaft, also auch den Fluchtmigranten und den Angehörigen der neuen Unterklassen, ansetzen, um moralisch glaubwürdig zu sein. Und sie darf polarisieren, indem sie ein klares Transformationsziel benennt. Ein demokratischer Neo- oder Ökosozialismus könnte deshalb zum Label werden, das viele populäre Einzelprojekte in der Vision einer besseren Gesellschaft verbindet – einer Vision, die eine politische Linke von anderen Formationen wahrnehmbar unterscheidet.

Literatur

Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz.

Dahrendorf, Ralf (1957): Soziale Klassen und Klassenkonflikt. Stuttgart.

Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin.

Federici, Silvia (2015): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien.

Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin.

Wright, Erik Olin (1985): Wo liegt die Mitte der Mittelklasse?, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 15(58), S. 35-62.

Wright, Eric Olin (1997): Class counts. Comparative studies in class analysis. Cambridge.

[1] Die hier nur in Auszügen präsentierten Thesen sind in Diskussionen des Projekts Klassenanalyse Jena (PKJ) entstanden. Dem PKJ gehören ca. 30 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Studierende an. Ziel des PKJ ist es, längerfristig Beiträge zu einer Analyse der Klassenverhältnisse im zeitgenössischen Kapitalismus zu leisten. Die Thesen stehen – hoffentlich – am Beginn einer Debatte. Sie sind unfertig und werden inhaltlich allein vom Autor verantwortet. Diese Thesen sind im Kontext der Tagung „Klasse neu denken“ der Rosa Luxemburg Stiftung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (9.-10. 11. 2018) entstanden. Eine Langfassung erscheint im Rahmen der Konferenzauswertung.