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Die Wirklichkeit materialistisch erfassen! / Alle Buchbesprechungen

von Erich Hahn zu Martin Küpper
März 2018

Die Wirklichkeit materialistisch erfassen!

Martin Küpper, Materialismus. PapyRossa Verlag, Köln 2017, 127 S., 9,90 Euro

Mit der Ausprägung des Kapitalismus und seiner Widersprüche in Europa hatte die geschichtliche Entwicklung des materialistischen philosophischen Denkens ein Stadium erreicht, in dem die wechselseitige Durchdringung von Materialismus und Dialektik sich als drängendes Erfordernis zur Geltung brachte – und theoretisch realisiert wurde! Dies niveauvoll und verständlich, materialreich und anregend auf knappem Raum gezeigt zu haben, sehe ich als bemerkenswerte Leistung von Martin Küpper an, dem Autor dieses Bandes der Reihe ‚Basiswissen’ des PapyRossa Verlags.

Nach einer ersten Verständigung über Materialismus und Materie sind drei Kapitel dem Materialismus in der Antike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gewidmet. In einem weiteren folgen der Materialismus „im Ausgang der französischen Revolution“ sowie die Wechselwirkung zwischen dem französischen Materialismus und dem deutschen Idealismus, der objektive Idealismus Hegels und der historisch-dialektische Materialismus von Marx, Engels und einigen ihrer Schüler. Im letzten Kapitel geht es um zeitgenössische Varianten und ihre Probleme.

Der Rahmen einer Rezension verbietet es, die Entfaltung der Gedanken des Autors im Einzelnen wiederzugeben. Ich beschränke mich auf einige philosophische Eckpunkte, die für mich die Lektüre besonders anregend gemacht haben.

Der Materialismus ist hier nicht nur Objekt, sondern gleichermaßen Prinzip der Darstellung. Die relevanten Positionen, Systeme und Strömungen erscheinen nicht als autonome Folge von Begrifflichkeiten oder als Glieder einer internen logischen Reihe. Gezeigt wird vielmehr das Werden und Reifen einer lebendigen Weltanschauung als Moment der praktischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt und sich selbst, als Vehikel und Resultat sozialer, politischer und geistiger Kämpfe. Wichtige Impulse für materialistisches Denken ergeben sich aus Umwälzungen und Fortschritten der Naturwissenschaften. Die Wirklichkeit markiert nicht nur den äußeren Rahmen oder die objektiven Bedingungen materialistischer Überlegungen, sondern deren Inhalt und Stoff, ihren entscheidenden Bezugspunkt. Materialismus als philosophische Weltanschauung entfaltet sich oft nicht nur als eigenständige Doktrin, sondern als Element umfassender philosophischer oder wissenschaftlicher Systeme und Werke – als Beispiel können Thomas von Aquino (43f.), Hegel (84ff.) oder der Mediziner Averroes gelten, bei dem letztgenannten sei eine „materialistische Philosophie zum Greifen nahe“ (50).

Es steht für Küpper außer Frage, dass materialistische Philosophie vom „Vorrang des Materiellen gegenüber dem Ideellen ausgeht“. Sie ist bemüht, „die Wirklichkeit materiell zu begreifen und aus sich heraus zu erklären“. Eine Differenz materialistischer Lehren sei, „wie diese Priorität begründet“ werden kann. Zugleich ist davon auszugehen, dass es „niemals den einen Materialismus“ gegeben habe (13, 14, 122). Die historischen Passagen liefern dafür reichlich Material und viele Beispiele. Belegt wird, auf wie vielfältige Weise materialistisches Gedankengut sich im Laufe der menschlichen Geschichte herausgebildet hat und welche Grundlinien oder Knotenpunkte sich dabei abzeichnen.

Zunächst lag es nahe, mythologischen Vorstellungen durch den Verweis auf dinghafte, körperliche, sinnlich wahrnehmbare Gegebenheiten, Kräfte und Vorgänge in der Natur zu begegnen. Gegen das mythische Weltbild einer strengen Trennung von Erde, Meer, Himmel und Unterwelt prägte Anaximander den Begriff eines nicht sichtbaren unendlichen Raumes, der dennoch materiell sei, da er die Welt zusammenhalte und Grund aller Entwicklung sei (21f.). Der Atomismus, die erste systematische materialistische Philosophie, die jeden Materialismus bis in die frühe Neuzeit prägt (24, 26), fußt bereits auf umfassenderen Verallgemeinerungen. Demokrit geht davon aus, dass Ruhe und Bewegung der Wirklichkeit sowie die Dinge selbst durch das Aufeinandertreffen kleinster Einzelteile zustande kommen.

Die Zurückdrängung der mittelalterlichen Hegemonie der Kirche und die Auseinandersetzung mit den komplexen Weltbildern der Religion erforderten eine differenziertere Begrifflichkeit und die Kraft der Abstraktion. Ermöglicht und begünstigt wurde das durch den revolutionären Aufschwung vor allem der Naturwissenschaften.

Unübersehbar ist der Einfluss wissenschaftlicher Paradigmen auf Elemente einer materialistischen Weltanschauung im Umkreis arabischer Gelehrter des zehnten und elften Jahrhunderts sowie in dem mit der Renaissance verbundenen Aufschwung des mechanisch-naturwissenschaftlichen Denkens. Bei dem Mediziner Avicenna finden sich – unter dem Einfluss der Naturphilosophie von Aristoteles – Ansätze zu einer immanenten Erklärung der Materie. Deren Eigenschaften und Verwandlungen werden aus einer ersten Materie und nicht aus dem Schaffen Gottes abgeleitet (49ff.). Gefragt waren Überlegungen zur Ewigkeit der Welt ohne einen göttlichen Schöpfer und einen Materiebegriff, der nicht mehr nur auf dinghaften Vorstellungen beruht. Pantheistische Philosophen trugen eine radikale, an materialistische Positionen heranreichende antireligiöse Kritik vor. Für den jüdischen Philosophen Solomon ibn Gabirol galt eine universelle Materie als letzter Grund zur Hervorbringung des Geistigen und des Körperlichen. Damit war ein Schöpfergott in Frage gestellt (53). Giordano Bruno versteht die Materie nicht mehr nur als Ding, sondern als universellen und unendlichen Prozess (55).

Neue Voraussetzungen für die Herausbildung konsequenter, begründeter und umfassender materialistischer Weltbilder waren die Folge des allgemeinen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Aufschwungs zwischen 1500 und 1800, die vom Autor zu Beginn des Kapitels über den Materialismus in der Frühen Neuzeit skizziert werden. Argumente für eine direktere und verschärfte Kritik an Religion und Kirche ergaben sich. Die stärkere Orientierung des menschlichen Verstandes auf Phänomene der Natur erhielt kräftige Impulse durch die Verbreitung mathematischer und mechanisch-naturwissenschaftlicher Denkstile. Der Vormarsch des Experiments als Methode der Wahrheitsfindung und der Maschine als revolutionäre Produktivkraft lieferte Anregungen für neue Modelle der Welterklärung und ein erweitertes Verständnis der Wirklichkeit – sie erschien berechenbar. Rationalismus und Empirismus versprachen wirksamere Methoden für die Findung und Überprüfung der Wahrheit.

Dadurch war ein weites Feld für neue Vorstellungen von der Materie und die Vertiefung des philosophischen Materialismus abgesteckt! Vor allem durch Galilei, Descartes und Bacon wurde die Mechanik philosophisches Allgemeingut. Die Mechanik Newtons wurde zur Grundlage der gesamten Wirklichkeit erklärt (77). Mit der These „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfedern aufzieht – ein lebendiges Abbild der ewigen Bewegung“ wollte der französische Arzt Lamettrie den Menschen „ganz aus sich heraus erklären“. Dies kann als ein „rein innerweltlicher Materialismus“ verstanden werden, als die „erste vollständig atheistisch-materialistische Philosophie, die davon ausgeht, dass die Materie sich nur immanent bewegt“ (78f.). Im französischen Materialismus schließlich wurden diese Ansätze zu umfassenden Systemen unter Einschluss des Menschen verallgemeinert.

Ihnen haftet freilich ein grundsätzlicher Mangel an. Ein „universeller Mechanizismus“ hat seine Grenze darin, dass sich nur „einige Wirklichkeitssegmente“ mechanisch erklären lassen! Materielle Erscheinungen wie der Staat lassen sich auf diesen Grundlagen nicht erklären.

Eine entscheidende Kritik im Rahmen der bürgerlichen Philosophie erfahren diese Schranken durch die Dialektik bei Kant, Fichte und vor allem Hegel. Dieser stimmt mit dem Anspruch des französischen Materialismus insofern überein, als es in der Philosophie darum geht, die äußere und innere Natur, das Objekt an sich, zu erfassen. Sein Einwand ist, dass das subjektive Moment der Theorie, das Denken nicht hinreichend zur Geltung kommt. Das meint für Hegel freilich nicht, materialistische Prinzipien formal durch idealistische zu ergänzen. Vielmehr gehe es darum, das Denken an der Wirklichkeit zu überprüfen und die Gesetze zu untersuchen, denen das tätige menschliche Bewusstsein und die sich entwickelnde äußere Wirklichkeit in demselben Maße unterliegen. (87) Dem Idealismus verhaftet bleibt Hegel freilich, wenn er offen lässt, woher das reine Denken kommt (88). Küpper gelingt es, am objektiven Idealismus Hegels das Objektive und das Idealistische deutlich zu machen.

Als historisch-dialektischer hat der Materialismus seine Sternstunden im Marxismus gefeiert – so wird auf dem Rückentitel der Schrift das Fazit des Autors zum Denkeinsatz von Marx und Engels eingeschätzt. In der Tat hatten selbst die differenziertesten Varianten des bisherigen Materialismus eine materialistische Erklärung der Geschichte und Gesellschaft höchstens in einigen Aspekten vermocht. Zu Recht sieht Küpper als die entscheidenden philosophischen Voraussetzungen für die Überwindung dieser Schranke im Übergang zu einer materialistischen Dialektik und in der Position, dass eine materialistische Geschichtstheorie mit den empirischen Gegebenheiten anfangen müsse – so wie das in der ‚Deutschen Ideologie’ demonstriert wird. Die historische Wirklichkeit fassten Marx und Engels als „materielles Beziehungsgefüge von naturgesellschaftlichen Verhältnissen“ (99).

Die erste Feuerbachthese von Marx – seine Forderung, die Wirklichkeit nicht nur als Objekt, sondern als „sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis… subjektiv zu fassen“ – wird als die ausschlaggebende Wende zu einem dialektischen und historischen Materialismus und zu einem „revolutionären Praxisprogramm“ verstanden (95, 96). Zu ergänzen wäre dies durch eine Skizze der konkreten historischen Bedingungen dieser weltbewegenden Entdeckungen – so wie bei den Ausführungen zu den vorherigen historischen Phasen.

Die Bemerkungen zum ‚historisch-dialektischen Materialismus’ nach Marx und Engels sowie die Skizze des zeitgenössischen Materialismus sind wichtige Ergänzungen und ein Schritt in Neuland. Und nicht zuletzt: Befriedigt notiert der Rezensent, dass einschlägige philosophische Texte der DDR bei den Literaturhinweisen vertreten sind.

Diese 127 Seiten werden ihre Leser finden!

Erich Hahn

Lenin I

Stefan Bollinger, Lenin. Theoretiker, Stratege, marxistischer Realpolitiker, PapyRossa Verlag, Berlin 2017, 147 S., 9,90 Euro

Die kleine Enzyklopädie über eine große historische Persönlichkeit, die noch im vorigen Jahrhundert weltweit vor allem von der linken Bewegung verehrt und gewürdigt wurde, ist durch den Mainstream seit 1989 nahezu aus dem Gedächtnis verdrängt, die vielen Denkmäler von ihm geschliffen. Seit drei Jahrzehnten ist er selbst den Herrschenden seines Landes suspekt – habe er doch mit seinen radikalen Ideen und Handlungen gewissermaßen eine Atombombe unter das Gebäude des russländischen Imperiums, des feudalkapitalistischen Völkergefängnisses Russland, gelegt. Der Vorgänger des großen Revolutionärs, Imperator Nikolaus II. und sein Nachfolger Josef Stalin, der Wiederhersteller der eurasischen Großmacht, kommen daher weit besser weg. Nicht wenige Linke nehmen Wladimir Lenin/Uljanow (1870-1924) heimlich oder lautstark ebenfalls aus ihrer Ahnengalerie. Der rechtsextreme Steve Bannon dagegen, bis vor kurzem noch Sicherheitsberater Trumps, bezeichnete sich als „Leninist“, sieht sich eins mit dem „Staatszerstörer“, denn auch er wolle ja das System in den USA „krachend kollabieren lassen und das gesamte Establishment gleich mit.“

Wer das jüngste Buch des Berliner Historikers und Politikwissenschaftlers Stefan Bollinger zur Hand nimmt, erhält Klarheit, ein ausgewogenes und differenziertes Bild über den so umstrittenen Lenin. Das Bändchen widmet sich Leben und Werk des mehrheitssozialistischen (bolschewistischen) Parteiführers als dem maßgeblichen Wegbereiter für eine Gesellschaftsformation alternativ zum Kapitalismus. Trug er doch maßgeblich und ausschlaggebend dazu bei, die neue Macht auf einem Sechstel des bewohnten Planeten zu errichten, den mörderischen ersten Weltkrieg zu beenden, das zaristische Völkergefängnis zu zerschlagen und den auf nationale und soziale Ausgeglichenheit ausgerichteten Großstaat UdSSR zu gründen. Der Revolutionär war kein Träumer und Utopist, er war sich der Erstmaligkeit wie der Grenzen, Schwierigkeiten und fast unausweichlichen Irrtümer auf diesem historisch neuartigen und langen Weg zu einer ausbeutungsfreien, friedlichen, sozial und national ausgeglichenen Gesellschaft bewusst. In drei Hauptkapiteln rekonstruiert Bollinger kenntnisreich, kritisch und ausgewogen Lenin als den überragenden Theoretiker, Strategen und Realpolitiker. Der studierte Jurist und Berufsrevolutionär war – bei aller Prinzipienfestigkeit und Unduldsamkeit gegenüber anderen Meinungsführern in der sozialistischen Bewegung – ein dialektisch denkender Mensch, zählt wie kein anderer seiner Zeit zu den großen Erneuerern des Marxismus – auch deshalb, weil er immer wieder seine theoretischen Positionen an der Praxis prüfte und korrigierte sowie die Grenzen seines politischen Handelns erkannte. Doch es tut sich dennoch ein realer Widerspruch auf: Die von ihm maßgeblich geführte sechsjährige Russländische Revolution 1917-1922 war auch zerstörerisch und opferreich. Das ist in den revolutionären Umbrüchen fast immer so. Wer die Verhältnisse der Unterdrückung und Ausbeutung „umwerfen“, also beseitigen will, muss stets davon ausgehen, dass die tatsächlich Herrschenden weder Macht noch Eigentum freiwillig abzugeben bereit sind. Sie tun das auch dann nicht, wenn sozialistische Reformer den Umbruch versuchen. Über Lenin zu richten, heißt daher zugleich auch über die politischen Akteure der bisher herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse, über deren Krieg gegen die Revolution und die Intervention kapitalistischer Staaten gegen Sowjetrussland zu richten. Vor diesem Hintergrund und ohne diesen Zusammenhang zu sehen – so Bollinger – „ist Lenin für viele moderne Linke zur Unperson geworden, fast so schlimm wie sein Nachfolger Stalin“.

Lenins Fähigkeit zur Selbstkritik und zu ständiger Korrektur war dafür entscheidend, dass Sowjetrussland 1921 aus der strategischen Sackgasse herausfand. Lenin erarbeitet in seinen letzten Lebensjahren Ansätze für einen demokratischen, entbürokratisierten, auf genossenschaftlicher Grundlage beruhenden Sozialismus. Der Autor untersucht, welche Seiten der Theorie von Lenin unter den an der Wende zum 20. Jahrhundert gegebenen Weltveränderungen weiterentwickelt wurden. In seiner Schrift analysiert und rekonstruiert Bollinger kenntnisreich Lenins Theorie, dessen Denkweise sowie dessen strategisches und taktisches Handeln. Er prüft, was gegenwärtig noch für eine grundlegende gesellschaftliche Umgestaltung, für den Kampf gegen Krieg und die Sicherung des Frieden, aber auch für die Überwindung noch immer bestehender sozialer und nationaler Ungleichheiten von Nutzen sein könnte. Lenin war ein kritischer Geist und Realist. Er hat die Unzulänglichkeiten des Umbruchs seiner Zeit mit dem Blick auf die Zukunft illusionslos beurteilt: „Dieser Sieg ist noch nicht der endgültige Sieg und unsere Oktoberrevolution hat ihn nur unter unerhörten Qualen, begleitet von größten Misserfolgen und Fehlern unsererseits davongetragen. Als ob es ohne Misserfolge und ohne Fehler einem einzigen rückständigen Volk gelingen könnte, die imperialistischen Kriege der mächtigsten und fortgeschrittensten Länder des Erdballs zu überwinden.“

Dem Leser wird der Zugang zur Persönlichkeit Lenins durch eine Zeittafel, ein Glossar mit Namen, Begriffen und Abkürzungen erleichtert. Der Verfasser verweist auf weiterführende Literatur zum Thema und macht Vorschläge, was man von Lenin lesen sollte.

Karl-Heinz Gräfe

Lenin II

Michael Brie, Lenin neu entdecken, VSA-Verlag, Hamburg 2017, S. 157, 12,00 Euro

Die Früchte einer kompletten Re-Lektüre der Werke Lenins stellt Michael Brie in diesem kurzen, aber äußerst anregenden Band vor, verbunden mit dem Anspruch einer Rekonstruktion relevanter Positionen Lenins. Nicht Biografie oder umfassende Gesamtdarstellung ist das Ziel, sondern der Nachvollzug eines Denkens, das wie kaum ein anderes eingreifende Politik mit strategisch-gesellschaftsanalytischem Denken verband.

Die Darstellung gliedert sich in drei Teile: „Was tun in Zeiten der Ohnmacht?“ (Teil I) umfasst Lenins Jahre in der Schweiz zwischen 1914 und 1917. Brie zeigt hier ein strategisches Denken, dessen Faszination man sich nicht entziehen kann. Umso ernüchternder wird die Darstellung der direkten Periode nach der Oktoberrevolution bis Januar 1918 unter der Überschrift „Was tun im Kampf für eine neue Welt?“ (Teil II): Schon hier werden Weichen gestellt und Konzepte begründet, deren negatives Gewicht der Sozialismus sowjetischer Prägung nie mehr abschütteln konnte. „Was tun mit der Macht“ lautet die Frage des letzten Teils über die Jahre 1920 bis 1923, in denen Lenin nach Auswegen aus selbst- und fremdverschuldeten Sackgassen sucht.

In acht Schritten stellt Brie Lenins strategisches Denken in den Jahren des Schweizer Exils dar, in denen er scheinbar abgeschnitten vom politischen Geschehen die Voraussetzungen für revolutionäres Handeln im Oktober 1917 schuf: „In der Situation der Handlungsunfähigkeit tat er das, was er konnte: die Voraussetzungen für eingreifendes Handeln herstellen.“ (15) Ausgangspunkt für Lenin war die Formulierung eines „konkreten Nein“, das sich auf die unbedingte Ablehnung des Krieges, den Bruch mit der Zweiten Internationale und der „bürgerlichen Richtung im Sozialismus“ bezog. Dieses „Nein“ wurde absolut formuliert und ließ nur die gewaltsame Entscheidung zwischen totalen Gegensätzen zu.

Die Arbeit an einer „Philosophie der dialektischen Praxis“ stellt den zweiten Schritt dieses Programms dar. Brie rekonstruiert hier Lenins Beschäftigung mit Hegel, dessen entscheidender Punkt die Überwindung des linearen Denkens war, das für die Zweite Internationale noch kennzeichnend gewesen sei. Damit wurde es Lenin möglich, scheinbar gegen die marxistische Theorie, die Revolution in einem rückständigen Land wie Russland denkbar zu machen. Mit der „Entwicklung einer eigenen Erzählung“ wird der Bruch mit der Mehrheit der Sozialdemokratie kenntlich gemacht. Das Imperialismus-Buch wird von Brie als Ausdruck einer „strategisch orientierten Gesellschaftsanalyse“ gewertet, mit der Lenin nach Punkten suchte, an denen auch „schwache gesellschaftliche Kräfte größere(r) Veränderungen auslösen könnten.“ (27) Lenin entwickelt hier den Gedanken, dass es keine „reinen“ sozialistischen Revolutionen gebe, sondern es darum gehe, die vorhandenen Bruchstellen zu nutzen: „Radikal linke Politik bestehe darin (…), der Austragung dieser Konflikte eine sozialistische Richtung zu geben, sie dadurch zu führen. Jeder dieser Konflikte habe in sich ein sozialistisches Potenzial, das aktiv freigesetzt werden könne.“ (31)

Mit der „Theorie der Revolution“ begründet Lenin im Nachgang der Februarrevolution die Veränderung seiner eigenen Position über die bestimmte Reife der objektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution, die er jetzt auf der Tagesordnung sieht. Die Definition der Epoche als Zeit des Bruchs begründet Lenins Konzept der Umwandlung des imperialistischen Weltkriegs in den Bürgerkrieg zur Errichtung des Sozialismus: „Die zentralen marxistischen Begriffe wie Kapitalismus, Imperialismus, Klasse, Nation, Revolution usw. wurden so umgestaltet, dass es möglich wurde, die potenziellen Bruchstellen in der Hegemonie auszumachen, aufzuzeigen, wo Risse sich vertiefen können, dass große Gruppen von Menschen sich in Bewegung setzen und die Herrschaftsstrukturen in Frage stellen.“ (40) Brie zufolge ging es Lenin in „Staat und Revolution“ um den Charakter der nachkapitalistischen Gesellschaft, die Rolle des Staats und die Ausgestaltung der „Diktatur des Proletariats“. Die Legitimierung systematischer Gewaltanwendung einer Klasse gegen die andere spielt hier ebenso eine Rolle wie des Staates zur Durchsetzung einer solchen Diktatur. Diese Legitimation erfolgt im Namen des Gemeinwohls, wird jedoch von einer von diesem Gemeinwohl (sprich dem Proletariat) abgetrennten Institution – dem Staat – postuliert. Die Kontrolle dieser Institution und die Verteidigung individueller Rechte gegenüber der Gemeinschaft werden von Lenin nicht thematisiert, was sich nach der Erringung der Macht fatal auswirken wird.

Brie resümiert Lenins Strategie in der Vorbereitung der Revolution als von den Extremen her konzipiert. „Antagonismus“, „unversöhnlicher Gegensatz“, „Ausnahmezustand“ sind die charakterisierenden Begriffe. Was sich auf dem Weg zur Revolution als unbestreitbare Stärke dieser Strategie zeigt, wird mit der Erlangung der Macht zum Ausgangspunkt einer Sackgasse, aus der die Sowjetunion bis ans Ende nicht mehr herausfand.

Mit der undialektischen Sicht auf bürgerliche Demokratie als ausschließlicher „Fassade der Klassenherrschaft und nicht als Widerspruchsverhältnis von Klassenherrschaft und Freiheitsversprechen“ (64) gibt es für Lenin kein zu bewahrendes liberales Erbe der bürgerlichen Gesellschaft. Individuelle Rechte haben nur zur Verteidigung der Klasseninteressen und als Endziel eine Berechtigung. Die Wandlung des Anspruchs der Diktatur des Proletariats in die Realität einer Diktatur über das Proletariat ist für Brie eine Folge dieser Sichtweise. Wer übt die Diktatur im Namen des Proletariats aus und wie ist er legitimiert? Spielten demokratische Rechte vor der Revolution für Lenin eine zentrale Rolle als Voraussetzung der Organisation des Klassenkampfes, so werden sie nach der Revolution zum Hindernis bei der Sicherung der Staatsmacht. Die situative Begründung der demokratischen Einschränkung – Bürgerkrieg, Konterrevolution – wird theoretisch und damit über den konkreten Anlass hinaus gerechtfertigt.

Die Entgrenzung von Gewalt verwischt den Unterschied zwischen staatlichem Zwang und Terror. „Objekt des Terrors werden Menschen nicht aufgrund ihres individuellen Verhaltens oder individueller öffentlicher Äußerungen und auch nicht deshalb, weil von ihnen für andere eine spezifische Bedrohung ausgehen würde. Terror richtet sich gegen Menschen ausschließlich als Symbol.“ (83) Natürlich spielten Bürgerkrieg und die Erfahrungen mit der Konterrevolution eine Rolle, allerdings bestreitet Brie die Vorstellung, „dass der Terror Lenin und den Bolschewiki durch die politischen Gegner aufgezwungen wurde“ (84), sie halte keiner Prüfung stand.

Zwischen Dezember 1920 und März 1923 ist Lenin mit der Entwicklung nach der Revolution konfrontiert, deren Krisenhaftigkeit sich mit den Stichworten Kronstadt, Kriegskommunismus und Bauernaufstände illustrieren lässt. Gemessen an den Erwartungen auch Lenins im Jahr 1917 fielen „Ziel und Resultat (…) weitgehend auseinander.“ (94) Ähnlich wie vor der Revolution setzt laut Brie auch jetzt ein strategischer Suchprozess Lenins ein. Die Neue Ökonomische Politik (NÖP) gehört zu den bekanntesten Einschnitten. Die neue Suche nach einer „nichtantagonistischen Vermittlung der Widersprüche“ (104) scheiterte Brie zufolge jedoch häufig an der „Metaphysik von Herrschaft.“ Während mit der NÖP und der Nationalitätenpolitik Freiheiten ermöglicht wurden, gelang dies nicht im gesellschaftspolitischen Feld. Im Gegenteil: Die schon unter Lenin beschlossenen Einschränkungen konnten unter Stalin eine Dynamik entfalten, durch die jeglicher Streit um bessere Lösungen zu einer unmittelbaren innerparteilichen Machtfrage wurde. Die Verschärfung der Verfolgung und das Fraktionsverbot waren von Lenin mit errichtete Einfallstore für Stalins Herrschaftsmethoden. Selbst der späte Versuch Lenins, durch Erweiterung des ZK und Aufnahme von Angehörigen der Arbeiterschaft den Bürokratisierungstendenzen entgegenzuwirken, erreichte laut Brie das Gegenteil, war es doch Stalin, der sich in der Auseinandersetzung mit der noch eigenständigen Führungsschicht der Bolschewiki auf eben jenes ZK stützte. So kommt Brie zu dem Fazit: „Der Stalinismus war nicht zwangsläufig. Aber schon unter Lenin waren die Gegenkräfte geschwächt, zerschlagen oder sogar vernichtet worden.“ (135) Wer also über den Stalinismus rede, dürfe vom Leninismus nicht schweigen, so die Sentenz über den abschließenden vierten Teil des Buches.

Schonungslos zeigt Brie die Stärken, aber auch die Schwächen in Lenins politischem Denken auf. Dass dabei nicht die historischen Umstände als Rechtfertigungen schwerwiegender Fehlentscheidungen herhalten, ist berechtigt, denn Brie weist nach, dass diese einem Denken entsprachen, dass sich nicht nur situativ autoritärer Mittel bediente. Dennoch würde die Einbettung eines solchen Denkens in die Zeitläufte weiteren Erkenntnisgewinn bringen, denn nur so könnte geklärt werden, woher – nicht nur bei Lenin – die Verbindung von humanistischem Anspruch und in Teilen inhumaner politischer Handlungen kam. Gewalt als elementare Erfahrung prägte politisches Denken im Zuge von Industrialisierung und Imperialismus in vielfältiger Weise. Der Wahrnehmung dieser alltäglichen Gewalt, durch den Arbeitsprozess, im politischen Kampf, schließlich im Weltkrieg blieb auch für das Handeln derer, die die Ursachen dieser Gewalt beseitigen wollten, nicht ohne Folgen.

Gerd Wiegel

1917-1918 – Bilanz eines zwiespältigen Jahrhunderts

Frank Deppe, 1917/2017. Revolution & Gegenrevolution, VSA: Verlag, Hamburg, 256 Seiten., 19,80 Euro

Vor über 50 Jahren stand der Revolutionsbegriff am Anfang des langen Forscherlebens von Frank Deppe. Dutzende Publikationen zu diesem vielfältigen Themenkreis folgten und mit dem vorliegenden Buch schließt sich nun im gewissen Sinne der Kreis. Frank Deppe zieht die zwiespältige Jahrhundertbilanz des revolutionären Weltprozesses seit dem Roten Oktober 1917 und zugleich wirkt das Werk wie ein persönliches Resümee seines Wirkens als marxistischer Theoretiker über ein halbes Jahrhundert. Es ist daher folgerichtig, dass Deppe die Publikation – aus der in Z 109 ein Vorabdruck erschien – seinen akademischen Lehrern und Vorbildern widmet, „die ihr Leben für die Ideale der Oktoberrevolution eingesetzt hatten“ (11).

Nicht nur wegen dieser persönlichen Note nimmt der Text unter den zahlreichen Büchern, die in deutscher Sprache zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution erschienen sind, einen spezifischen Platz ein. Kein anderer Forscher hat im Jubiläumsjahr eine derartig stringent mit Eric Hobsbawms Meisterwerk „Zeitalter der Extreme“ korrespondierende dialektische Gesamtbetrachtung des 20. Jahrhunderts durch das Prisma von „Revolution & Gegenrevolution“ vorgelegt, wie schon der Untertitel programmatisch zum Ausdruck bringt. Allein dafür verdient der Verfasser den Dank des linken Publikums.

Das Werk ist sehr übersichtlich und ausgesprochen leserfreundlich in vier Kapitel sowie diverse Unterabschnitte gegliedert. Im Kapitel 1 „Revolution und Gegenrevolution“ skizziert Deppe die theoretischen Grundlagen seines Herangehens. Darin nimmt das Erbe von 1789 auch deshalb einen wichtigen Platz ein, weil sich nicht nur Marx, Engels und Lenin immer wieder auf die Große Revolution der Franzosen bezogen. Das „lange“ 19. und das „kurze“ 20. Jahrhundert bilden für Deppe eine weltgeschichtliche Epoche gewaltiger Umwälzungen, in der man Revolution und Konterrevolution in Anlehnung an Elie Kedourie stets als „siamesische Zwillinge“ betrachten muss. Es ist eine der Stärken des Buches, das er gegenrevolutionäres Denken und ihre wichtigsten Vertreter (von Carl Schmitt über Oswald Spengler bis Ernst Nolte) ernst nimmt und immer wieder in seine Reflexionen einbezieht. Hier schöpft Deppe aus dem riesigen Fundus seines vierbändigen Opus magnum „Politisches Denken im 20. Jahrhundert“, das 2016 in neuer Auflage und einem Umfang von über 2.000 Seiten erschienen ist. Deppe erweist sich als ein souveräner Kenner der einschlägigen Literatur. Ein wichtiger Bezugspunkt ist Manfred Kossok. Eine weitergehende Rezeption der Leipziger Schule der vergleichenden Revolutionsforschung um Walter Markov und Manfred Kossok – beide starben 1993 – wäre wünschenswert. Hier ruht insbesondere mit Blick auf die strukturellen Ursachen für das Scheitern des europäischen Sozialismus noch viel Unabgegoltenes.

Das Kapitel 2 lautet „Die russische Oktoberevolution und das Zeitalter der globalen Gegenrevolution“ und führt zeitlich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht der Sieg der Bolschewiki im Jahr 1917 mit seinen welthistorischen Folgen. Der geschichtliche Kontext der Revolution „gegen das ‚Kapital’“ (Antonio Gramsci) und ihre extrem schwierigen Ausgangsbedingungen werden von Deppe dabei aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, denn für ihn steht unmissverständlich fest: „Die Oktoberrevolution bewegte sich von Anfang an in Widersprüchen, die sich immer wieder neu konfigurierten und die Geschichte der Sowjetunion bis zum Jahr 1991 begleiteten bzw. belastet hatten.“ (85) Diese Widersprüche bestimmten maßgeblich auch das Denken und Handeln Lenins bis 1923, wie Deppe kritisch nachzeichnet. Im folgenden Unterabschnitt „1924-1945: Stalinherrschaft“ diskutiert Deppe die spezifischen Merkmale des Regimes und kommt in Anlehnung an Milovan Djilas zur Einschätzung: „Stalins Herrschaft und Politik stützte sich auf die Staatsbürokratie.“ (129) Das Kapitel endet mit dem Sieg der Sowjetunion über den Faschismus als „Speerspitze der globalen Konterrevolution“.

Im dritten Kapitel werden „Revolution und Gegenrevolution im Kalten Krieg“ betrachtet. Hier diskutiert Deppe in jeweils eigenen Unterabschnitten – dabei das Jahr 1956 als weithin „prägenden Einschnitt für die kommunistische Bewegung“ (172) betrachtend – sowohl die „neuen Wege zum Sozialismus“ in Osteuropa und die Periode der „Entstalinisierung“ der Sowjetunion unter Chruschtschow als auch die gesellschaftliche Entwicklung in den kapitalistischen Hauptländern. Unter revolutionstheoretischem Aspekt gilt dabei Italien mit der Linie Gramsci-Togliatti seine besondere Aufmerksamkeit. Das Kapitel endet mit der Analyse jener „Strukturelemente des sowjetischen Modells, die im nachfolgenden Jahrzehnt der 1980er Jahre seinen Untergang beschleunigten“ (178).

Das letzte Kapitel unter der fragenden Überschrift „2017: Ende der Revolution?“ ist zweifellos der spannendste und theoretisch anspruchvollste Abschnitt des Werkes. Er bietet vielfältigen Stoff zur kontroversen Diskussion. Überzeugend wirkt Deppes Plädoyer, die entscheidenden weltpolitischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts nicht zu stark mit dem Epochenjahr 1989/90 zu fixieren. Der fundamentale Wandel der globalen Kräftekonstellation zwischen Kapitalismus und Sozialismus setzte schon in den 1970er Jahren ein, als die Macht der Arbeiterbewegung zunehmend erodierte und der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus begann. Letzterer führte spätestens am Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer grundlegenden Veränderung der Dialektik von Revolution und Gegenrevolution: „Nunmehr treten die immanenten Widersprüche der Kapitalakkumulation und die inneren Kräftekonstellationen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Eliten und Volk erneut ins Zentrum.“ (227)

An der stark in Mode gekommenen Debatte um das angeblich bald bevorstehende Ende des Kapitalismus beteiligt sich Deppe erfreulicherweise kaum, auch wenn er auf die entsprechende Literatur Bezug nimmt. Er beruft sich bei seinen Zukunftsüberlegungen lieber auf das berühmte Gramcsci-Zitat vom „Interregnum“ als eine krisenhafte Übergangsperiode, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“. Gramsci fragt in dieser Passage seines Gefängnisheftes von 1930 auch: „Wird das Interregnum, die Krise (…) notwendig zugunsten einer Restauration des Alten gelöst werden?“ Bei aller Sympathie für einen optimistischen und kämpferischen Ausklang des Buches – der linken Kräften Hoffnung und Mut spenden kann und soll – hätte man sich hier gewünscht, dass diese überaus bittere Option intensiver beleuchtet worden wäre. Eine dystopische Variante der Zukunft ist angesichts der multiplen Krise des globalen Kapitalismus und der gravierenden Schwäche der Linken zweifellos möglich. Das Verlangen nach progressiven (noch nicht zwingend sozialistischen) Alternativen zur Teufelsmühle des totalitären Neoliberalismus ist durchaus vorhanden, derzeit gewinnen jedoch die Scheinlösungen von rechts zunehmend an Stärke. Völkisch-nationalistische Massenbewegungen sind auf dem Vormarsch und die Errichtung einer regressiven „Festungsgesellschaft“ als neue Herrschaftsvariante des autoritären Kapitalismus wird auch in kapitalistischen Hauptländern vom „herrschenden Block“ zunehmend in Erwägung gezogen. Insofern ist Deppes Diktum auf der letzten Textseite völlig zutreffend: „Die Klasse der Kapitalisten wird niemals freiwillig auf ihre Macht verzichten. Sie muss enteignet werden.“ (247).

Volker Külow

Briefe von Clara Zetkin

Marga Voigt (Hrsg.), Clara Zetkin. Die Briefe 1914 bis 1933. Band 1: Die Kriegsbriefe (1914 -1918), Karl Dietz Verlag Berlin 2016, 560 S., 49,90 Euro.

Marga Voigt hat, gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, mit 200 Kriegsbriefen und 10 Dokumenten aus der Feder Clara Zetkins der Öffentlichkeit eine wichtige Quelle zugänglich gemacht. Die Kriegsbriefe sind der erste Band einer Briefausgabe von 1.000 Korrespondenzen bis zum Todesjahr der Verfasserin 1933. Und auch die partiell vor Jahrzehnten in verschiedenen ausgewählten inhaltlichen Zusammenhängen herausgegebene Publizistik der unbestrittenen Gallionsfigur der Frauenbewegung ist noch lange nicht erschlossen und verdient vollständige Rezeption, selbst wenn relevante Schriften, so auch Briefe, schon bekannt sind. Marga Voigt verweist darauf in ihren Vor- und Nachbemerkungen wie auch auf die existierenden Zetkin-Biografien und die Forschungen zur Sozialismusgeschichte in diesem Kontext.

Brief- und Werkausgaben haben als authentische Quellen der Geistesgeschichte hohen Erkenntniswert. Sieht man einmal von den antiquierten ideologischen Grabenkämpfen des 20. Jahrhunderts ab und blickt auf den inneren Zusammenhang des neuzeitlichen Ringens um das Verständnis der Dialektik von Natur, Gesellschaft und Individuum in ihrer Geschichtlichkeit von der Reformation über die Aufklärung bis zu den philosophisch, ökonomisch und sozialwissenschaftlich begründeten revolutionären Bewegungen, dann dürfte der Gewinn auch für diejenigen nicht zu übersehen sein, die die Ideologiegeschichte mit Luther, Kant, Schopenhauer und Nietzsche als beendet betrachten. Dennoch dreht sich jeder Erkenntnisfortschritt allein um die Erkenntnis des Weltganzen in seinem Gesamtzusammenhang.

Auch dieser Briefband lässt das erkennen. Clara Zetkins Brief an Bertha Thalheimer vom 11.11.1914 greift abseits von den existentiellen Fragen des drei Monate alten Weltkrieges erkenntnistheoretische Probleme auf. Die 31-Jährige, die am Stuttgarter Polytechnikum methodische Anleitung zur Welterkenntnis suchte, tröstet sie mit dem Hinweis, sich auf das Handwerk der Wissensaneignung zu konzentrieren: „Einheitliche Auffassung können Sie heute nur finden beim ‚Modernen Marxismus‘ und religiösen Mystizismus. Dazwischen gibt’s nur eklektisches Flickwerk.“ (37 f.) Und geradezu bewegend ist ihr Brief an Kurt Eisner vom 27.6.1918. Fünf Monate vor Kriegsende reklamiert dieser Brief mit höchstem moralischem Anspruch das Menschheitsbewusstsein für die Linke. Die „ewige“ Wahrheit universaler klassenmäßig bürgerlich begrenzter Freiheitsrechte hat dem nichts entgegenzusetzen. Allein hier war die Bruchkante des zweiten ideologischen Schismas der abendländischen Welt, die die politisch-ideologische Richtung der europäischen Linken zum heute noch achtungsgebietenden Kulturträger machte, auch wenn ihr unter dem initiierten Mainstream die Öffentlichkeit wegbrach. Es ist die Bruchkante Erkenntnis der materiellen Wurzeln des Weltkrieges, der Notwendigkeit der Massenaufklärung und der konsequenteste Kampf für eine gesellschaftliche Alternative außerhalb populistisch verbrämter elitärer, religiöser, nationaler oder rassistischer Egoismen.

Clara Zetkins Rolle als Nummer 1 der Frauen-Internationale offenbarte dieser Krieg, der die Frauen in die bisherige Männer-Domäne stellte und die „verfeindeten“ Männer-Sozialisten in den Schatten ihrer politischen Initiative, der Berner Konferenz im März 1915. Aber auch ihre individuelle Position stellte Clara Zetkin als gebildete Politikerin in eine Reihe mit ihren engsten geistig verwandten Gefährten. Bereits der zweite Brief dieses Bandes an Rosa Luxemburg und Franz Mehring vom 5.8.1914, in dem sie den beiden eine Absage erteilte, sich öffentlich von den Kriegskreditbewilligern ihrer Partei zu distanzieren, ist die Erhebung aus der bisherigen scheinbar bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber ihrer am nächsten stehenden Freundin. Clara Zetkins Kriegsbriefe spiegeln ihren Anteil am Zusammenhalt der Fraueninternationale, ihr Eingreifen in die württembergischen Parteiverhältnisse, ihr Ringen um den Gesamtüberblick über die historischen Ereignisse, ihre Kommunikation mit Freunden über den Kriegsalltag, die damit verbundenen Ängste, Zweifel aber auch Zuversicht. In knappen Einzelpassagen werden Zeitkolorit, Haltung aber auch Politik- und Gesellschaftsverständnis erkennbar. Die Rede ist vom „reißenden Schmutzstrom des beschränkten Chauvinismus“ und der „innere(n) Hohlheit recht vieler Redakteure und führender Genossen“ (24). Der Weltkrieg wird charakterisiert als das „furchtbarste Verbrechen an der Menschheit, dessen sich der kapitalistische Imperialismus schuldig macht“ (30). Das war die Logik des Denkens und Handelns des linken Flügels der internationalen Sozialdemokratie von der Atlantikküste bis zum Finnischen Meerbusen und zur Schwarzmeerküste. Und es war kein Zufall, dass vier nationale Parteifraktionen mit ihrer Kriegsverweigerung das sog. „August-Erlebnis“ 1914 relativierten und ein historisches Beispiel gaben. Allein die gegensätzliche Beurteilung des Charakters dieses Krieges und die gegensätzliche Auffassung von den Notwendigkeiten seiner Beendigung, erstmals 1907 vom Stuttgarter Weltkongress der II. Internationale unmissverständlich und auf den nachfolgenden Kongressen in Kopenhagen und Basel bekräftigt, war der Grund für das „Große Schisma“ des Sozialismus. Das war auch der letztendliche Grund, weshalb Clara Zetkin am 5.4.1917 hoffnungsvoll die „gewaltige Volkstat in Russland“ (297) begrüßte und am 9.2.1918 gegenüber Mathilde Jacob bekannte: „Seit der Erhebung der Bolschewiki, glaube ich an das Leben.“ (378) Mehr sagen die Briefe zu den Ereignissen im Osten nicht aus.

Clara Zetkins erste konkretere Stellungnahme zur Revolution der Bolschewiki inspirierte die sie „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“ treffende Amtsniederlegung ihrer Freundin Helen Ankersmit im Gefolge parteitaktischer Differenzen. In diesem Zusammenhang gab sie, den Bedenken ihrer Freundin widersprechend, nicht nur ein meisterhaftes Beispiel undogmatischer prinzipieller parteitaktischer wie auch methodischer Charakterisierung der holländischen Parteiführung, sondern auch der Kritiker der Bolschewiki in Persona Karl Kautskys. Indem sie diesem vorhielt, „westeuropäische Entwicklungsschemas“ mechanisch auf völlig andere Verhältnisse zu übertragen und damit das Wesen historischer Transformationen zu verkennen (386), erinnert dies an die heutigen untauglichen Versuche des Westens, die Demokratie in außereuropäische Kulturen zu exportieren, ohne die historischen Voraussetzungen zu berücksichtigen. Das war der geschichtsphilosophische, keineswegs parteitaktische Kern der Einwände Clara Zetkins gegen die voreilige Kritik der sozialdemokratischen Kriegskreditbewilliger an dem Versuch der Bolschewiki, unter den konkreten russischen Verhältnissen, den Krieg zu beenden und eine Militärdiktatur zu vermeiden. Den tiefen Sinn dahinter sah sie in der Ergänzung der am 4. August 1914 vollzogenen Verabschiedung vom originären sozialdemokratischen Standpunkt durch die Absage an den revolutionären Frieden. Darin unterschied sich die Bolschewiki-Kritik Clara Zetkins und Rosa Luxemburgs von der rechten und gemäßigten. Beide hängten das historische Versagen der westlichen Sozialisten höher als die historischen Fehler der Bolschewiki. Die historische Hauptverantwortung für die russische Misere und deren Folgen verwiesen beide begründet an die sozialdemokratische Rechte im Westen.

Diese Zusammenhänge hätten in einem fundierten Vorwort erörtert werden können. Demgegenüber wurde der Briefband 1 am Ende mit acht Pressebeiträgen von Karl Kautsky (2), Franz Mehring, Julius Martow, Rudolf Breitscheid, Heinrich Ströbel, Wilhelm Düwell und Edwin Hoernle überfrachtet, die die verschiedenen Ansichten der Parteirichtungen zum Demokratiedefizit der Bolschewiki-Revolution reflektieren. Davon abgesehen, dass mit Ausnahme Franz Mehrings und Edwin Hoernles diese Stellungnahme ebenso wenig unbekannt sind wie Clara Zetkins September-Brief an die USPD-Konferenz 1918, in dem sie die Parteiposition zu den Bolschewiki einer ausführlichen Analyse unterzieht, wirft Jörn Schüttrumpfs Anhang-Beitrag „Auf dem Weg zu den Bolschewiki“ als Kommentar dazu die Frage nach dem Zweck dieser Band-Konstruktion auf. Am Ende bleibt die simple Aussage, das während des Krieges legal erscheinende linke Presseorgan „Der Sozialdemokrat. Mitteilungsblatt des Sozialdemokratischen Vereins Stuttgart (USPD)“ sei vom SED-Parteiarchiv aus ideologischen Gründen unterschlagen worden. Da diese Vermutung weder in den „Kriegsbriefen“ Clara Zetkins noch durch den Anhang zu diesem Briefband plausibel wird, darf an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Quellenbeschaffung unter den von Schüttrumpf beanstandeten Verhältnissen nicht zuletzt aus Devisengründen mitunter abenteuerlich war – wohl auch ein Grund für mangelnde Transparenz.

Hartmut Henicke

German Angst

Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Propyläen-Verlag Berlin 2017, 432 S., 26,00 Euro.

Die 2017 aus Anlass ihres einhundertsten Jahrestages vielfältig behandelten russischen Revolutionen von 1917 waren historisch wirkmächtiger als die deutsche 1918/1919, aber letztere ist insofern lehrreicher gewesen, als an ihr Möglichkeiten und Grenzen von Umwälzungsversuchen in hochentwickelten kapitalistischen Länder beobachtet werden können.

In seinem so genannten politischen Testament von 1895, der Einleitung zu Marx‘ Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, hat sich bekanntlich Friedrich Engels mit diesem Problem befasst. Zentral stand dabei die Notwendigkeit, dass schon vor einem Umsturz die Mehrheit der Volksmassen für diesen gewonnen sein muss. In Briefen zog er auch außenpolitische Umstände in Betracht, insbesondere einen etwaigen künftigen Zweifrontenkrieg des kaiserlichen Deutschland gegen die französische Republik und das mit dieser verbündete Zarenreich. 1889 schrieb er an Laura Lafargue, in diesem Fall sei „unsre einzige Chance die, daß die Russen geschlagen werden und dann Revolution machen“. (MEW 37: 199) Hervorhebung: Engels) Das Wort „Russen“ hat er unterstrichen und damit verdeutlicht, welcher Kriegsausgang für ihn das kleinere Übel war.

Eine andere Überlegung hat Engels nicht angestellt: dass „die Deutschen“ geschlagen werden und anschließend Revolution machen würden.

Genau dies aber geschah im November 1918: Das Reich kapitulierte, und es kam zu einer bürgerlichen Revolution mit einigen Vorteilen für die Arbeiterklasse: Achtstundentag (vorläufig), allgemeines Wahlrecht auch für die Landtage und die kommunalen Vertretungskörperschaften, Betriebsräte. Die Entscheidung des Reichsrätekongresses vom Dezember 1918 zur Machtübergabe an eine Verfassunggebende Versammlung, das Ergebnis der Wahl zu dieser Konstituante und das militärische Vorgehen des Rates der Volksbeauftragten gegen die äußerste Linke waren – anders als Sebastian Haffner 1969 befand – kein Verrat an der Revolution, sondern die Verteidigung der bürgerlich-mehrheitssozialdemokratischen Revolution gegen die sozialistische.

Der irische Historiker Mark Jones hat aus diesem Zusammenhang einen Teilkomplex herausgelöst und untersucht: die Gewalt.

Einleitend fasst er das Ergebnis zusammen: „Eine der zentralen Überlegungen dieses Buches ist die, dass die politischen Führer der im Entstehen begriffenen Weimarer Republik und große Teile der damaligen deutschen Gesellschaft aus Angst, Opfer revolutionärer Gewalt zu werden, am Ende die Anwendung bis dahin unerhörter Mittel kriegsmäßiger Gewalt durch Regierungstruppen und Freikorps gegen den (wirklichen oder vermeintlichen) inneren Feind guthießen.“ (14) Dabei seien exzessive Mittel angewandt worden: standrechtliche Erschießungen (15) und Fliegerbomben gegen von Zivilisten bewohnte Wohngebiete (16). Die Novemberrevolution habe in ihren ersten sechs bis acht Wochen „einen bemerkenswert geringen Blutzoll“ (15) gefordert, erst danach sei es durch Regierungshandeln zur massiven Gewalt gekommen – ein Tatbestand, der aufgrund von „Lücken im Wissen der heutigen Deutschen“ (16) nicht mehr bekannt sei. Hier sei sichtbar geworden, „welches große gesellschaftliche und politische Potential für brutale Gewalt in Deutschland schon 14 Jahre vor der Errichtung des NS-Staates und 20 Jahre vor den Eruptionen der Jahre 1939-45 schlummerte“ (17). Sein Erkenntnisinteresse formuliert der Autor so: „Verstehen zu lernen, wie es dazu kam, dass große Teile der deutschen Bevölkerung in staatlich angeordneter Gewalt eine gute Sache sahen und sie akzeptierten, ist die zentrale Aufgabe dieses Buches.“ (Ebd.)

Es geht also auch um Mentalitätsgeschichte. Als hauptsächliche Triebkraft für Gewalt wirkte auf dieser Ebene die Angst vor drohender, aber noch gar nicht ausgeübter Gewalt der Gegenseite: „Gewalt und die große Angst vom November 1918“. (46)

Als am 4. November revolutionäre Matrosen in Kiel die Herrschaft übernommen hatten, waren sie ungläubig erstaunt über das Ausbleiben von Gegenwehr. Zufällig ausgelöste Schüsse aus den Gewehren von Kameraden hielten sie irrtümlich für Attacken von Offizieren aus dem Hinterhalt und feuerten ins Leere zurück.

Ähnliches geschah bald danach in der Reichshauptstadt. Der tatsächliche Sachverhalt wird in der bisherigen Literatur – so nach dem Befund von Jones in dem Standardwerk von Heinrich August Winkler: „Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924“ von 1984 – verdeckt durch die „Verwendung von Quellen, die den Inhalt von Gerüchten zur Erklärung dessen heranzogen, was sich am 9. November 1918 in Berlin ereignete.“ (69)

Der Autor konstatiert, „dass in den ersten beiden Novemberwochen 1918 im Gegensatz zu dem, was sich nur wenige Monate später vollzog, die kulturellen und politischen Hemmschwellen, die später versagten und damit ein Einfallstor für zunehmend häufiger vorkommende gewaltsame Übergriffe öffneten, intakt blieben.“ (71) Eine weitgehend friedliche Umwälzung hatte ihre Ziele über Nacht erreicht. „Und doch war die Angst, dass die Revolution am Ende von einer Welle revolutionärer und konterrevolutionärer Gewalt überflutet würde, so groß, dass sie die ganze Zeit über ein Wesensmerkmal des politischen Lebens in Deutschland blieb.“ (73)

Angst also rechts und in der Mitte. Was Letztere angeht, so nährte sie sich von der Projektion auf eine mittlerweile zum Mythos gewordene Figur: Karl Liebknecht. (74-94). Er war zwar schon im Oktober 1918 entlassen und in der russischen Botschaft Unter den Linden mit einem Empfang geehrt worden (77/78), blieb aber in der Stadt einflusslos: umgeben von Anhängern, die ihm, sich selbst und einem angstgeschüttelten Bürgertum als Machtfaktor erscheinen mochten, war aber in Wirklichkeit isoliert nicht nur – was selbstverständlich war – von der MSPD, sondern letztlich auch von der Hauptströmung der USPD und von den Revolutionären Obleuten. Er hatte „eher den Status einer Randfigur“ (78).

Die Angst vor ihm war gleichermaßen unbegründet wie pathologisch und gerade auch bei Linksliberalen verbreitet. Erstaunt liest man Zitate von Theodor Wolff, dem Herausgeber des „Berliner Tageblatts“, der das Vorgehen der Regierungstruppen und der Freikorps billigte. Die Besetzung und Beschlagnahmung von Zeitungen mag ihm einen zusätzlichen professionellen Anlass gegeben haben, aber das war es nicht allein: für einen Linksliberalen ging es, wenn es sich um den Kampf gegen angebliche oder tatsächliche Kommunist(inn)en handelte, ums Ganze.

Der Historiker Gustav Mayer schrieb damals am ersten Band seiner so empathischen Biografie von Friedrich Engels. Seinem Tagebuch vertraute er seine Furcht vor Spartakus an. Es waren aber Regierungssoldaten, die Anfang 1919 die Tür seines Hauses in Zehlendorf eintraten und Verwüstungen dort anrichteten. Sie waren auf der Suche nach Karl Radek.

Zu denjenigen, die Angst vor Spartakus hatten, gehörte auch Eduard Bernstein. 1921 veröffentlichte er das Buch „Die deutsche Revolution von 1918/19. Geschichte der Entstehung und der ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik“. Für ihn war Karl Liebknecht der Hauptschuldige an der Eskalation der Gewalt, der dieser schließlich selbst zum Opfer gefallen ist.

Die Angst der äußersten Linken hatte keinen Machtfaktor außerhalb ihrer eigenen Reihen, auf den sie hätten hoffen können. Anders stand es mit der Panik der Mitte. Wer von ihr gepackt war, durfte hoffen: Dadurch, dass Ludendorff erfolgreich auf ein schnelles Waffenstillstandsangebot gedrängt hatte, konnte er die Armee intakt halten und geordnet ins Reich zurückführen, wo sie alsbald – neben den abgewickelten Offizieren und Soldaten der Freikorps – als Bürgerkriegstruppe zur Verfügung stand.

Die zweite Zuflucht für geängstigte Bürger einschließlich der Linksliberalen war die Mehrheitssozialdemokratie. Sie bewahrte das, was sie seit dem 4. August 1914 für ihre staatsbürgerliche Verantwortung hielt. In seinem 1921 erschienenen Rapport „Von Kiel bis Kapp“ nannte Gustav Noske die Gefahr des Chaos und des Zusammenbruchs der Versorgung als Grund für sein Durchgreifen. Er argumentierte sogar mit dem Grundwissen des Historischen Materialismus, das er sich in der Vorkriegssozialdemokratie angeeignet hatte: „Marx hat uns gelehrt, das politische Verhalten der Völker werde in der Hauptsache von ihren materiellen Interessen oder Zielen bestimmt.“1 Daraus folge, dass die Produktion wieder in Gang gebracht und vor tumultuarischen Störungen gesichert werden müsse.

Ein weitere Angst kam hinzu: vor der Entente. Als Anfang 1919 Revolutionäre das Berliner Zeitungsviertel besetzt hatten, galt nicht nur Spartakus als Gefahr für Ruhe und Ordnung, sondern: „Die Außenpolitik lieferte ein weiteres Motiv für die finstere Entschlossenheit der Sozialdemokraten, den Aufstand gewaltsam zu beenden. Nach ihrer Überzeugung hingen vom Ergebnis des Aufstands die Beziehungen Deutschlands zu den Siegermächten ab. Manche Beobachter fürchteten, falls es der Regierung nicht gelinge, mit den Spartakisten fertig zu werden, könne dies zu einer Besetzung Deutschlands durch die Siegermächte führen, und das deutsche Volk werde dann die ‚harten Fäuste des Siegers´ und alle Schrecken der Besatzungsherrschaft zu spüren bekommen.“ (180)

Diese Situation ließ sich im Bedarfsfall hausgemacht herbeiführen. Bis zum Dezember – also zunächst noch unter dem Rat der Volksbeauftragten – blieb der letzte Staatssekretär des Auswärtigen (Außenminister), Wilhelm Solf, im Amt. Er hatte „am 13. November eine geheime Note an die Ententemächte gesandt, in der er die Siegermächte um eine ausdrückliche Erklärung bat, daß sie, sollten die radikalen Kräfte in Deutschland überhand nehmen, vor einer Invasion nicht zurückschrecken würden.“2

Mark Jones zitiert und kommentiert kritisch Artikel Rosa Luxemburgs in der „Roten Fahne“ zwischen dem 6. und 11. Januar 1919, die tatsächlich die Annahme nahe legen, dass sie sich nicht auf der Höhe der Situation befand, von den Ereignissen mitgerissen wurde und die Stimmung und Interessenlage der Mehrheit der Volkmassen falsch einschätzte (173/174; 185-187) – wie bei Karl Liebknecht wohl Ausdruck ihrer Isolierung.

Gegen die teils imaginierten, teils als letzte Rettung in Rechnung gestellten Gefahren wurden vom Rat der Volksbeauftragten reguläre Truppen und Freikorps aufgeboten. Diese verfügten nicht über die Fertigkeiten, die bei polizeilichen Einsätzen angebracht waren, sondern verhielten sich wie im Krieg gegen einen äußeren Feind, zum Beispiel durch den Einsatz von Artillerie gegen die Volksmarinedivision im Berliner Schloss zu Weihnachten 1918. Das Militär scheiterte, denn zwischen ihm und seinen Gegnern befanden sich auch Zivilpersonen, darunter Frauen, und machten die Lage unübersichtlich. Dass die Räumung des Schlosses nicht gelang, wurde von den Angreifern als Blamage aufgefasst. Reguläre Truppen und Freikorps zogen daraus den Schluss, in Zukunft noch rücksichtsloser vorzugehen. Nachdem im Januar 1919 das Zeitungsviertel geräumt und Luxemburg und Liebknecht ermordet worden waren, kam es zwei Monate später zum Höhepunkt der Gewaltanwendung. Zwischen dem 3. und 9. März „fanden nach Schätzungen 1200 Menschen den Tod, eine Zahl, aus der sich ergibt, dass die erste Märzhälfte das blutigste Kapitel in der Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg war – an das sich aber in der heutigen Bundesrepublik dennoch kaum jemand mehr erinnert.“ (238)

Ausgangspunkt war ein Generalstreik für „eine offizielle Anerkennung der Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte, mehr soziale Nivellierung bei den Streitkräften, die Auflösung aller Regierungstruppen und Freikorps und ihre Ersetzung durch ein Heer revolutionärer Arbeiter, die Freilassung aller politischen Häftlinge und ein Ende der Militärgerichtsbarkeit, die so nachsichtig mit den Mördern Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs umgegangen war.“ (239) Allerdings begannen die Verfahren gegen die Täter erst im Mai (228). Gerüchte über das Verhalten „eines außer Kontrolle geratenen Straßenpöbels“ (244) wurden aufgebauscht und bildeten den Vorwand zu militärischem Eingreifen. Gewiss gab es Besetzung von Gebäuden und Plünderungen. Vom Scheunenviertel in Berlin-Mitte nach Osten über Friedrichshain bis nach Lichtenberg erstreckte sich ein Gebiet, das man heute wohl als „sozialen Brennpunkt“ bezeichnen würde – vergleichbar den Pariser Banlieues und ähnlichen Quartieren in London und US-amerikanischen Städten, aus denen im Anfang des 21. Jahrhunderts immer wieder Riots gemeldet werden.

Auch nachdem der Streik rasch zusammengebrochen war, wurden keine Versuche einer ausschließlich polizeilichen Eindämmung unternommen. Noske unterzeichnete einen Schießbefehl, das Militär drang mit schwerem Gerät bis Lichtenberg vor, setzte Fliegerbomben ein und nahm zahlreiche standrechtliche Erschießungen vor. Vorwand waren Gerüchte über so genannte „Lichtenberger Gräuel“, es handelte sich um eine „groteske Übertreibung“. (283)

Mark Jones kann sich in seiner Schilderung dieser Vorgänge u.a. auf eine Pionierstudie von Dietmar Lange aus dem Jahr 2012 stützen, die aus einer bei Wolfgang Wippermann angefertigten Magisterarbeit hervorging.3

Bernstein lässt seine Darstellung der Revolutionsmonate mit der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 enden, also vor den Gewalttaten des Militärs in Lichtenberg.

Nach Kiel und Berlin ist München die dritte von Jones untersuchte Stadt. Es zeigt sich hier das gleiche Muster: die Erwartung von Gewalt löst diese aus und führt zu Steigerung. Als sich zur Niederschlagung der Räterepublik Regierungstruppen der Stadt näherten, erwarteten Revolutionäre eine Wiederholung des Massakers von Lichtenberg, sie ermordeten Geiseln. Es folgte nach dem Einmarsch des Militärs ein Blutbad.

Die Revolution 1918/1919 wird immer wieder als Geburt der deutschen Demokratie dargestellt. Nach Mark war dieser Anfang zugleich durch ein staatliches Gründungsverbrechen bestimmt, das auch alle folgenden Jahre mitprägte: „Die von Regierungstruppen und Freikorps begangenen Gewaltexzesse waren Teil des Gründungsaktes der Weimarer Republik.“ (336)

Noske und die Militärs reagierten nicht reflexhaft auf Gerüchte, sondern benutzten sie zur Legitimation ihres strategischen Handelns. Immer wieder wurde russischer Einfluss auf die Besetzung des Zeitungsviertels Anfang Januar 1919 behauptet: „Das Beharren auf einer maßgeblichen Beteiligung von Russen am Aufstand lässt interessante Rückschlüsse darauf zu, wie der Zusammenbruch des russischen Reiches auf die deutsche Volksseele wirkte, genauer auf die Art und Weise, wie die Deutschen mit der revolutionären Umwälzung, die sich im Winter 1918/19 in ihrem eigenen Land vollzog, zu Rande kamen.“ (210) Der Autor zieht einen weiteren Bogen: Seiner Meinung nach wurde ab 1933 „die Erinnerung an 1918/19 als geschichtlicher Bezugspunkt für den Aufbau des KZ-Systems genutzt.“ (341)

Jones stützt sich auf Archivalien, mehr noch aber auf Zeitungsberichte. Für eine mentalitätsgeschichtliche Studie ist dies naheliegend. Doch dieses Material hat Grenzen: Es gibt ausschließlich Erwartungen, Wahrnehmungen, Urteile und Vorurteile des Milieus wieder, in dem Presseartikel verfasst und rezipiert wurden.

Erich Ludendorff, Sohn eines bürgerlichen Rittergutsbesitzers, erscheint auf Seite 18 und im Register als Erich von Ludendorff (richtig dagegen an anderer Stelle auf derselben Seite 18). Der MSPD-Politiker Robert Leinert heißt auf Seite 114 Robert Kleinert, ebenso – neben dem korrekten Namen – auch im Register. Im Literaturverzeichnis fehlt und wohl auch nicht benutzt wurde die bereits 2008 erschienene Monografie von Ralf Hoffrogge über Richard Müller.[1]

Georg Fülberth

Gedächtnis der Arbeiterbewegung

Günter Benser, Dagmar Goldbeck, Anja Kruke (Hrsg.), Bewahren – Verbreiten – Aufklären. Archivare, Bibliotheken und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung. Supplement, Bonn 2017, 168 Seiten. Kostenloser Bezug gegen Portogebühr bei d.goldbeck@web.de.

Keine Geschichtsforschung ohne Quellensammlungen, Archive und Bibliotheken. Für die Dokumente der Herrschenden gab es schon immer Archive – seit den Tontafelsammlungen des klassischen Altertums mit Aufzeichnungen über die Ablieferung von Abgaben, Berichten über Zählung der Untertanen, über Feldzüge, Eroberungen und Gesetzeserlasse,. Wer aber sammelt die Dokumente der unteren Klassen? Nirgendwo zeigt sich die Wirklichkeit der „zwei Kulturen“ vielleicht so deutlich. In den staatlichen Archiven der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft kommen sie in erster Linie als „Staatsbürger“ vor (z.B. Personenstands-, Gewerbe- und Steuerregister), als Beherrschte und Bespitzelte (Polizei- und Gerichtsakten) – nutzbar z.B. für Studien über die Herausbildung des Proletariats oder für die Geschichte der Klassenkämpfe. Materialien und Dokumente der (gewerkschaftlichen und politischen) Arbeiterbewegung wurden aber nur sporadisch gesammelt, sie gingen oft verloren oder wurden von ihren Gegnern vernichtet. Das Protokoll des Gründungsparteitags der KPD von 1918 z.B. galt über Jahrzehnte als verschollen, bis es nach einem halben Jahrhundert im Nachlass des KPD-Mitbegründers Paul Levi in New York gefunden wurde (142). Entdecker war übrigens Hermann Weber, der sich ansonsten im Kalten Krieg in der Bundesrepublik eher als DDR-Kritiker und Verfechter der These der von Moskau gesteuerten „Stalinisierung der KPD“ Anerkennung (Bundesverdienstkreuz 1. Klasse) erwarb. Über ihn berichtet (etwas überschwänglich) Andreas Herbst (138ff.).

Der vorliegende (in Kooperation des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung und des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung erarbeitete) Band ergänzt als „Supplement“ den 2009 von Günter Benser und Michael Schneider herausgegebenen Band gleichen Titels (vgl. Z 102 [Juni 2015], S. 175ff.). Er gibt Auskunft über fünfzehn „Archivare, Bibliothekare und Sammler“ von Dokumenten der deutschsprachigen Arbeiterbewegung unterschiedlicher politischer Richtung – Sozialisten und Kommunisten, Anarcho-Syndikalisten, linke und rechte Sozialdemokraten. Darunter sind fünf Frauen wie z.B. die Buchhändlerin und Frauenrechtlerin Amelie Pinkus-De Sassi (vorgestellt von Gisela Notz), Gewerkschafter und Intellektuelle, Arbeiter-Autodidakten und akademisch qualifizierte Bibliothekare.

Nur wenige Beispiele: Der Brauereiarbeiter Eduard Backert (1874-1960), seit 1892 Mitglied im Zentralverband deutscher Brauer und später dessen Vorsitzender, „sammelte nahezu alles, was nur irgendwie mit dem Verband der Brauereiarbeiter und dem Braugewerbe zu tun hatte“ (W. Buschak, 15). Am 2. Mai 1933 wurde er als Vorsitzender des 1927 durch Zusammenschluss mit verschiedenen anderen Gewerkschaften gebildeten „Verbandes der Nahrungsmittel- und Getränkearbeiter“ verhaftet, Archiv und Bibliothek der Gewerkschaft wurden weitgehend von den Nazis vernichtet. Backert betätigte sich als Chronist der Brauereiarbeiterbewegung (Berlin 1916; Teil II Hamburg 1962), beteiligte sich am Neuaufbau der Gewerkschaft NGG nach 1945. Seine Bibliothek und Dokumentensammlung ging in den Fundus der NGG ein und befindet sich heute im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich Ebert Stiftung. Der von Rainer Holze porträtierte Schmied Emil Basner (1852-1918), der erste Vorsitzende des 1877 gegründeten „Verbands der Deutschen Schmiede“ und Redakteur ihrer Zeitung „Der Ambos“ – in der ersten Ausgabe ruft er „die Cyklopen des Jahrhunderts (…), Sklaven des Kapitals, (…) zu schmieden auf unserem Ambos den letzten Nagel zum Sarge der Noth, zu sprengen die Ketten der Knechtschaft, unter denen die Arbeit seufzt“1 – war später aktiver Sozialdemokrat, Delegierter auf den Kongressen der Sozialistischen Internationale 1907 und 1910, hatte Kontakt zu Marx, Engels, Jaurès, war Autor einer zweibändigen Geschichte der Schmiedebewegung (1912). Dieser „organische Intellektuelle“ der Arbeiterbewegung hatte eine umfangreiche Bibliothek sozialistischer, anarchistischer und gewerkschaftlicher Literatur gesammelt, die nach seinem Tode von der Berliner Stadtbibliothek (gegen ein Gebot Sowjetrußlands) aufgekauft wurde, wo sie bis heute – allerdings dezimiert durch Kriegsauslagerung – der Öffentlichkeit zugänglich ist.

Dargestellt werden u.a. von Agnieszka Brockmann die Sammlungstätigkeit und die Bibliotheken der Kuczynski-Familie (49-61); des österreichischen Spanienkämpfers Hans Landauer (1921-2014; Begründer einer Spezialsammlung zum Spanischen Bürgerkrieg im Wiener Dokumentationszentrum des Österreichischen Widerstands) von Dagmar Goldbeck (72-79); des Anarcho-Syndikalisten Arthur Lehning (1899-2000), der in der Emigration zeitweilig am Amsterdamer IISG bzw. dessen 1939 nach Oxford ausgelagerter Filiale gearbeitet hatte (Andreas Diers/Rudolf Steffens, 80-89). Über die Sammlungs- und Rechercheaktivitäten des Kölner Kommunisten Rudolf Stein (1894-1941) für die erste Marx-Engels-Gesamtausgabe, die ihn im Auftrag des Moskauer Marx-Engels-Instituts in zahlreiche Länder führte und in Kontakt mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung wie dem Amsterdamer Institut brachte, berichtet Rolf Hecker (131-137).

Einer der beiden Beiträge des Mit-Herausgebers Günter Benser ist der Sicherung von Archivbestände der DDR nach 1990 gewidmet. Benser informiert über die Aktivität des damaligen Präsidenten des Bundesarchivs, Friedrich B. Kahlenberg, unter dessen Regie und in Zusammenarbeit mit dem „Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ die Archivbestände des Zentralen Parteiarchivs der SED und anderer DDR-Institutionen entgegen anderen Plänen und möglichen Auflösungsabsichten zusammengehalten und in eine spezielle (unselbständige) „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv“ (SAPMO-BArch) eingebracht wurden, die „die Eigenheiten der Archive der Parteien und Organisationen der DDR respektierte und den spezifischen Belangen der Forschung und der Medien Rechnung trug, indem nicht die für das Bundesarchiv üblichen Sperrfristen verhängt wurden.“ (34)

André Leisewitz

Das „Kind von Buchenwald“

Sonia Combe, Ein Leben gegen ein anderes. Der ‚Opfertausch‘ im KZ Buchenwald und seine Nachgeschichte. Aus dem Französischen von Marcel Streng. Neofelis Verlag Berlin 2017, 284 S., 29,- Euro

Das Thema ist anspruchsvoll und auch in mancher Hinsicht brisant. Wer erinnert sich nicht an Lutz Niethammers problematische Schuldverschiebung in der von ihm herausgegebenen Publikation über die „roten Kapos“ im KZ Buchenwald? Sonia Combe recherchierte mit Akribie in zahlreichen Archiven. Sie weicht schwierigen Fragestellungen nicht aus. Als roter Faden zieht sich durch die Untersuchung die Geschichte des ‚Buchenwald-Kindes‘ Stefan J. Zweig. Politische Häftlinge hatten seinen Abtransport nach Auschwitz und damit seinen sicheren Tod verhindert. Diese Geschichte erlebte eine zweifache Instrumentalisierung. In der DDR wurde Jerzy Zweig als Symbol der Menschlichkeit der kommunistischen Gefangenen überhöht. Nach der Wiedervereinigung wurde mehr und mehr daraus der konstruierte „Mythos des antifaschistischen Widerstands“ in der DDR.

Im Prolog wird der Leser mit dem Bericht von Zacharias Zweig bekannt gemacht, den dieser 1961 der Gedenkstätte Yad Vashem übergeben hat. Die Familie Zweig wurde am 5. August 1944 ins KZ Buchenwald deportiert. Mutter und Tochter wurden vom Vater und dem dreieinhalbjährigen Sohn getrennt. Dem SS-Kommandanten erklärte Zacharias, dass ihm die deutschen Behörden in Krakau erlaubt hätten, Jerzy bei sich zu behalten. Die Ernährung des Kindes werde er von seiner eigenen Ration bestreiten. Politische Häftlinge nahmen sich des Kindes an und brachten es im Deutschen Block in Sicherheit. Sie sahen in der Rettung des Kindes ein Symbol des Widerstandes gegen Hitler. In den Werkstätten wurde ein für Jerzy zugeschnittener Anzug angefertigt. Er trug auch eine extra für ihn zugeschnittene Bluse aus neuem Stoff, dunkelblau mit weißen Streifen und extra für ihn angefertigte Schuhe. Nach einer „Entwöhnungsphase“ durfte der Vater jeden Sonntag seinen Sohn besuchen. Der gut ernährte Sohn teilte mit dem hungernden Vater seine Mahlzeit. Manchmal besuchte Jerzy die „Muttis“, die ihm Leckereien zusteckten. Es handelte sich dabei um die zur Prostitution gezwungenen Frauen des Lagerbordells.

In ihrer Einleitung geht Combe auf einen Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ vom 25. Februar 2012 über einen Rechtsstreit ein, bei dem es um den Gebrauch des Wortes „Opfertausch“ ging. Kommunistische Häftlinge hatten am 25. September 1944 Jerzy vor dem Abtransport nach Auschwitz gerettet, indem sie seinen Namen von der Deportationsliste gestrichen hatten. Der sechzehnjährige Sinto Willy Blum nahm seinen Platz ein. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald leitete daraus den Schluss ab, dass Stefan J. Zweig nur um den Preis eines „Opfertauschs“ gerettet worden sei. Dagegen klagte der 71-jährige Stefan J. Zweig. Der Richter kam zu dem Schluss, dass das Wort „Opfertausch“ nahe lege, dass die Opfer selbst den Tausch vorgenommen hätten. Der Gedenkstättenleiter willigte schließlich ein, das Wort im Zusammenhang mit Stefan J. Zweig nicht mehr zu gebrauchen. Zuvor hatte die Presse die von Historikern angestoßene Debatte um den „Opfertausch“ in die Öffentlichkeit gebracht. Combe konnte nicht verstehen, warum jemand die ganze Verantwortung für die Umstände seiner Rettung tragen soll, der dafür nicht das Geringste kann. Reiche es nicht, seine früheste Kindheit in einem Konzentrationslager verbracht zu haben, um sich nicht plötzlich den Tod eines anderen vorwerfen lassen zu müssen? Dieses Unverständnis war der Auslöser für die vorliegende Untersuchung.

Sie konzentriert auf die Schwerpunkte:

- Buchenwald, Labor der Grauzone

- Buchenwald und der politische Gebrauch der Grauzone.

Combe prüfte, inwieweit die Ersetzung einer Person durch eine andere in den Konzentrationslagern eine Modalität des Überlebens gewesen ist. Zum anderen wird die revisionistische Geschichtsschreibung über den antifaschistischen Widerstand kritisch diskutiert, zu der die Praxis des „Opfertauschs“ nach der deutschen Wiedervereinigung und der Bewertung von Archivmaterial geführt hat, das vor dem Mauerfall nicht zugänglich war.

Combe fordert dazu auf, die der Totalitarismustheorie zum Opfer gefallene und heute brachliegende Forschung zum antifaschistischen Widerstand wieder aufzunehmen, der Teil der kollektiven europäischen Erinnerung ist. Buchenwald sei kein nur deutsches Konzentrationslager. Es ist vielmehr auch ein europäischer Gedächtnisort, da hier aus allen Ländern stammend Akteure des antifaschistischen Widerstands interniert waren. Buchenwald ist jenseits der verschiedenen Nationalgeschichten Bestandteil jener „großen Ursprungserzählung“, die für Europa erst noch geschrieben werden muss.

Dieses lesenswerte Buch sollte in keiner linken Bibliothek fehlen.

Siegfried Prokop

Kapitalismusformen und Machtverhältnisse

Mohssen Massarrat, Braucht die Welt den Finanzsektor? Postkapitalistische Perspektiven, VSA: Verlag Hamburg 2017, 304 S., 24,80 Euro

Dass der Kapitalismus ungeheuer anpassungsfähig ist und auch die größten Krisen unbeschadet überlebt hat, ist eine Binsenweisheit. Betrachtet man heute die (kapitalistische) Welt, so scheint Kapitalismus kompatibel zu sein mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen und Rahmenbedingungen – die Umverteilung des Mehrprodukts durch den Staat, die Abwesenheit von Privateigentum im europäischen Sinn, sogar die politische Führung durch kommunistische Parteien wird von diesem ökonomischen System integriert.

Merkwürdigerweise wurden aus dieser Tatsache bislang kaum analytische Schlussfolgerungen gezogen. Dies in Angriff genommen zu haben ist das Verdienst des vorliegenden Buches, das im Übrigen mehr leistet als der Titel ankündigt. Die sieben Kapitel lassen sich in drei Komplexe einteilen: In Kapitel 1 und 2 entwickelt der Autor zwei zentrale analytische Kategorien: die Unterscheidung zwischen „logischem“ und „historischem“ Kapitalismus einerseits und den Zusammenhang zwischen Macht und kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten andererseits. Die Kapitel 3 bis 6 schildern – belegt mit gut ausgewähltem empirischem Material – drei historische „Kapitalismusformationen“ (234), den Freihandelskapitalismus, den keynesianischen Kapitalismus und den aktuell herrschenden Finanzkapitalismus. Dies sind nach Ansicht des Autors nicht einfach Entwicklungsstufen des Kapitalismus, sie werden vielmehr von wechselnden „Machtbeziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit einerseits und Machtbeziehungen unter den Kapitaleigentümern andererseits“ bestimmt (287). Wichtig ist die These, dass die Krise des keynesianischen Kapitalismus in den 1970er Jahren auch mit den „schrumpfenden Wachstumsressourcen“, also den „ökologischen Grenzen des Wachstums“ zusammenhängt. Schon deshalb ist der an anderer Stelle (junge Welt v. 30.10.2017) geäußerte Vorwurf, der Autor wolle „zurück zum Keynesschen Kapitalismus“, unzutreffend. Leider behandelt Massarrat die Kapitalismusformen in den aufstrebenden Schwellenländern nicht, sodass unklar bleibt, ob bzw. wie diese in die an der europäischen Geschichte orientierten Formationsbeschreibungen eingeordnet werden können. So gibt es z.B. auch in China Momente des Finanzkapitalismus, die sich bislang allerdings nicht verselbständigt haben. Im 7. Kapitel befasst sich der Autor mit Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus und zu postkapitalistischen Gesellschaftsordnungen. Dabei sollen hier nur zwei Aspekte hervorgehoben werden: Die Überwindung des Kapitalismus kann nach Ansicht des Autors nur „in zwei evolutionären Schritten erfolgen“, wobei es im ersten Schritt um die „friedliche Zerschlagung des (…) Finanzkapitalismus“ geht (235). Nur so könne es gelingen, gesellschaftliche Mehrheiten zu mobilisieren – ohne Zwischenschritte würde man mit dem Kapitalismus verbundene Gruppen wie „Mittelschichten, Teile der Arbeiterschaft und die liberale Zivilgesellschaft“ (ebd.) an die Seite der Finanzoligarchie treiben.

Veränderungen im Kapitalismus benötigen gesamtgesellschaftliche Perspektiven, die die unterschiedlichen Interessen der Lohnabhängigen bündeln: Nach Ansicht des Autors ist die „radikale Verkürzung der Arbeitszeit“ ein Konzept, das zum Kern eines neuen „gegenhegemonialen Projekts“ werden kann. Innovative Formen der Arbeitszeitverkürzung verbinden den Kampf um Wohlstandsgewinne mit dem ökologisch gebotenen Ende von quantitativem Wachstum und Ressourcenverbrauch.

Das Buch ist klar strukturiert und verständlich geschrieben. Die Kernthesen sind schlüssig entwickelt und skizzieren m.E. Grundzüge eines realistischen und modernen Konzepts zur Überwindung des Kapitalismus. Auch wer nicht alle Aussagen des Buchs teilt, wird in Zukunft nicht umhinkommen, sich an Massarrats Thesen abzuarbeiten. Es ist eine Arbeit, die auch über die aktuelle Situation hinaus Gewicht besitzt. Die Erkenntnis, dass es sich hier um eine grundlegende Arbeit, einen bedeutenden Beitrag zur Analyse des modernen Kapitalismus handelt, wird durch die Wahl des Titels nicht unbedingt erleichtert: Dieser spricht etwas irreführend vom „Finanzsektor“, wobei der Leser immerhin im Vorwort erfährt, dass damit nicht der Bankensektor gemeint ist, welcher natürlich „für die Kreditversorgung der Ökonomie unverzichtbar“ ist (204). Die oben erwähnte Buchbesprechung in der Jungen Welt rennt offene Türen ein, weil sie die vom Autor im Text herausgearbeitete Unterscheidung zwischen Kreditversorgung und Investmentbanking, zwischen Finanzsektor und Bankensektor, nicht zur Kenntnis nimmt.

Einige Darstellungs- bzw. Diskussionsprobleme seien abschließend erwähnt. Das erste betrifft die Unterscheidung zwischen „logischem“ und „historischem“ Kapitalismus. Diese Kategorien sind in meinem Verständnis auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen angesiedelt. Massarrat formuliert eingangs: „ (…) die Realität kapitalistischer Gesellschaften ist immer eine Synthese aus der Wechselbeziehung zwischen konkreten (? JG) Verwertungsmechanismen des Kapitals und dessen jeweils historischem Umfeld.“ (16) Dem könnte man zustimmen, wenn der Autor nicht im weiteren Gang stellenweise den Eindruck erweckt, als gäbe es Kapitalismen, die dem „logischen“ Kapitalismus näher oder ferner wären – Formulierungen wie „vom Kapitalismus in seiner kristallklaren Reinheit“ (94) sind diesbezüglich zumindest missverständlich. Die Frage, was genau die „kapitalistischen Funktionsmechanismen“ (16) sind, die universal gelten und die sich in unterschiedlichen gesellschaftlich-geografischen Umfeldern unterschiedlich ausprägen wird nicht behandelt. Die Formulierung, der „Logische Kapitalismus“ werde durch „äußere Faktoren“ modifiziert (16), wirkt eher verwirrend – als sei der „logische“ Kapitalismus doch irgendwie ein Idealtyp, dem die kapitalistische Wirklichkeit näher oder ferner stehen könne. Dass an mehreren Stellen vom „gleichgewichtigen Kapitalismus“ (141/238) gesprochen wird, dass so der Eindruck entstehen kann, ein nach den Wertgesetzen funktionierender Kapitalismus sei widerspruchsfrei, ist m.E. ein Darstellungsproblem – denn bei der konkreten Analyse der keynesianischen Kapitalformation wird ja deutlich, dass diese alles andere als „gleichgewichtig“ ist.

Ein Dissens sei zweitens auch hinsichtlich Massarrats Einordnung des klassischen Imperialismusbegriffs angemeldet – obwohl ich inhaltlich der Kritik an der Missdeutung der leninschen/luxemburgischen Imperialismusdefinition als „höchste“ Entwicklungsetappe zustimme: M.E. haben Hedeler/Külow in ihrer kritischen Neuausgabe der leninschen Schrift diese in den richtigen historischen Kontext gestellt und gezeigt, dass sie in den revolutionären Zyklus der Periode des Ersten Weltkriegs gehört (Vgl. Z 107, S. 198 ff.). Auch ist es m.E. nicht richtig und nicht durch den leninschen Text gedeckt, das Monopol durch Abwesenheit von Konkurrenz zu definieren (87) – Monopole im marxistischen Sinn sind ein Formwandel der Konkurrenz. Die Konkurrenz – im Sinne des Aufeinanderwirkens von Einzelkapitalen – gehört zu den grundlegenden Funktionsmechanismen des Kapitalismus, also zum „Logischen Kapitalismus“. Richtig ist dagegen die Kritik an der Vorstellung von Kapitalkonzentration als „lineare Entwicklung“ – dies aber vor allem deshalb, weil Konkurrenz und Monopol eben kein Gegensatz sind. Etwas ärgerlich (jedenfalls für einen Anhänger der SMK-Theorie) die unzutreffende Behauptung: „Diese Theorie lässt zwischen dem keynesianischen Sozialstaat und seinem neoliberalen Gegensatz genauso wenig Unterschiede zu wie sie auch ausschließt, differenzierte Reformstrategien herauszuarbeiten.“ (61) Genau das hat die SMK-Theorie getan, wenn auch eingeräumt werden muss, dass sie selbst dazu beigetragen hat, den Blick auf diese Leistungen durch die Verbindung zum politischen Konzept der ‚allgemeinen Krise des Kapitalismus‘ zu verstellen.1 Massarrats Strategie der Überwindung des neoliberalen Kapitalismus ähnelt doch ziemlich dem antimonopolistischen Bündnis der SMK-Theorie.

Diese kritischen Anmerkungen (über die man natürlich diskutieren kann) mindern den Wert des Buchs nicht: Massarrat macht deutlich, dass die reale Entwicklung des Kapitalismus, seine konkret-historische Ausprägung und Entwicklungsrichtung wesentlich vom Kräfteverhältnis der kämpfenden Klassen geprägt wird, dass ökonomische Prozesse, wie z.B. die relative Verselbständigung der Finanzsphäre gegenüber der Produktionssphäre im Finanzmarktkapitalismus, eng mit den Verteilungsverhältnissen und damit mit den Machtverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit verbunden sind. Es wird gezeigt, dass eine Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit ohne eine Einbeziehung des Klassenkampfes und der Kräfteverhältnisse in die Irre führen muss.

Jörg Goldberg

Soziale Marktwirtschaft

Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, UVK, Konstanz/München 2017, 360 S., 39,00 Euro.

Dass Ludwig Erhard die Währungsreform vom 20. Juni 1948 nutzte, um gegen die Auffassung der Mehrheit der amtierenden Wirtschaftspolitiker und gegen ablehnend eingestellte Besatzungsmächte die „Soziale Marktwirtschaft“ einzuführen, erfährt heute jeder Bundesbürger bereits in der Schule; auch dass nur auf dieser Grundlage das „Wirtschaftswunder“ und „Wohlstand für alle“ möglich wurden.

Gegen diese Schulweisheit ist Uwe Fuhrmanns Buch geschrieben. Er verweist die den Bundesbürgern lieb gewordene Geschichte ins Reich der Legende und bedient sich bei ihrer Widerlegung einer speziellen Herangehensweise, der Dispositivanalyse. Fuhrmann beschränkt seine Untersuchungen dementsprechend nicht auf die Darstellung der 1948/49 diskutierten Konzepte der Wirtschaftstheoretiker und -politiker, sondern nimmt in seine Analyse die sich zeitgleich vollziehenden Ereignisse an der Basis auf; er schreibt zur Sozialpolitik dieser bewegten Jahre und deckt eine vergessene Protestbewegung auf, die von Krawallen an Marktständen bis zum (bis dato letzten) Generalstreik in Deutschland führte. Gekonnt führt er in seinem Buch beide Ebenen zusammen, die der Konzeptionen und Debatten der Wirtschaftspolitiker und die Aktionen der politisch wirksam handelnden Massen. Diese äußerten auf der Straße ihre Unzufriedenheit über ihre soziale Lage und protestierten gegen Politiker, die ihre Vorstellungen ohne Rücksicht auf die Folgen für die soziale Lage der Bevölkerung verkündeten und zu realisieren begannen. Dazu gehörte etwa die Preisfreigabe, die zu Preissteigerungen, zu einer Verschlechterung der materiellen Lage der Bevölkerung und zu Reaktionen der Betroffenen führte, z.B. in Form von „Käuferstreiks gegen Wucherpreise“.

Fuhrmann untersucht akribisch die Ereignisse im zweiten Halbjahr 1948, dabei teilweise auch auf das Jahr 1947 zurückblickend. Allein den in der späteren Geschichtsschreibung der Bundesrepublik gern totgeschwiegenen Generalstreik in der Bizone vom 12. November, den er als politischen Streik charakterisiert, beschreibt Uwe Fuhrmann auf 17 Seiten und entreißt damit diesen Höhepunkt der Protestbewegung gegen die von Ludwig Erhard verkündete Wirtschaftspolitik dem Vergessen.

Der sich gut unterrichtet glaubende Leser mag fragen: Gab es das: Massenproteste gegen Erhards „Soziale Marktwirtschaft“? Von Uwe Fuhrmann erfährt er, dass Erhard an jenem 20. Juli 1948 keineswegs eine soziale Marktwirtschaft im Auge hatte, sondern eine „freie Marktwirtschaft“, die die durch Staatseinmischung gekennzeichnete „Zwangswirtschaft“ der Nachkriegsjahre zugunsten der unbeschränkten Handlungsfreiheit der Wirtschaftsunternehmen ablösen sollte. Preiserhöhungen als Ergebnis der „Marktanpassung“ hielt Erhard für unvermeidlich. Angesichts der Proteste vom Herbst 1948 stellten sich DGB und SPD hinter die Forderungen der Volksmassen und befürworteten eine „soziale Marktwirtschaft“ auf der Grundlage „planvoller Regulierung“. Erhard schloss sich im Februar 1949 dieser Argumentation an. Die CDU bekannte sich ein knappes halbes Jahr später zur „sozialen Marktwirtschaft“ als Leitvokabel für ihre zukünftige Wirtschaftspolitik. Das alles hat Uwe Fuhrmann anhand eines umfangreichen Quellenstudiums dargestellt, das die Auswertung von Monographien, Sammelbänden, Aufsätzen sowie von Zeitschriftenbeiträgen, Filmen und Audioquellen jener Jahre umfasst.

Bieten die Kapital 2 bis 9 dem sozial- und wirtschaftshistorisch Interessierten viel Neues, so ist Kapitel 10 des Buches, vom Autor als Epilog bezeichnet, vor allem für diejenigen interessant, die sich mit der Geschichte des ökonomischen Denkens befassen. In jenem Kapital stellt sich Uwe Fuhrmann unmittelbar die Aufgabe, Aussagen zum Thema „Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft“, die als gesichertes Wissen gelten, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Dabei handelt es sich z.B. um die Behauptung, dass das neue Wirtschaftssystem Ergebnis eines länger vorbereiteten Vorhabens gewesen ist (319-20). In diese Richtung wurde, entgegen allen Tatsachen, bereits ab Ende November 1948 von Politikern wie Hermann Pünder, dem Wirtschaftsratsvorsitzenden der Bizone, in Reaktion auf den Generalstreik argumentiert. Die Regierenden begannen damals damit, die vom Zonenwirtschaftsrat ergriffenen Maßnahmen zur Beschwichtigung der empörten Massen, wie z. B. das „Gesetz gegen Preistreiberei“, das im Oktober 1948 verkündet wurde, um Monate vorzudatieren. Damit wollten sie nachweisen, dass die mit der Wirtschaft befassten Regierungsinstitutionen von vornherein, wie Pünder es formulierte, „keine freie, sondern nur eine soziale Marktwirtschaft“ einzuführen beabsichtigt hätten.

In engen Zusammenhang damit steht eine zweite Aussage, die Fuhrmann als reine Erfindung beschreibt: Sie besteht in der Behauptung, es habe von vornherein einen Plan zur Einführung der sozialen Marktwirtschaft gegeben. Dieser Plan sei von Alfred Müller-Armack entworfen und von Ludwig Erhard bewusst verfolgt und erfolgreich umgesetzt worden. Tatsächlich hat sich Erhard erst fast ein Jahr später – im Juni 1949 – hinter die Aussage gestellt, dass er die „soziale Marktwirtschaft“ eingeführt habe. „Wenn ich den Begriff ‚Soziale Marktwirtschaft’ geprägt habe“, gab sich Erhard im Juni 1949 bescheiden, als sich die CDU bereits die „Soziale Marktwirtschaft“ auf ihre Fahnen geschrieben hatte, „dann war das keine leere Umschreibung, es war und ist von mir ernst gemeint“ (321). Diese Behauptung hat Erhard des Öfteren wiederholt. Durch seine 1957 erschienene Publikation „Wohlstand für alle“ hat sie weite Verbreitung gefunden. Auch Hermann Pünder hat mit seinen 1968 veröffentlichen „Lebenserinnerungen“ zur weiteren Verbreitung von Erhards Aussage beigetragen, als er über die Vorbereitung der Währungsunion vom Juni 1948 schrieb: „Wir wussten genau, was in der Linie der neuen ‚sozialen Marktwirtschaft’ jeweils nötig war, und insbesondere wusste es unser Kollege Erhard“ (324). Im Ergebnis dieser „Bearbeitung“ des realen Geschehens um die Währungsreform vom Juni 1948 bestehe derzeit, schreibt Fuhrmann, „ein etablierter Diskurs, der weite Teile der politischen Akteure hinter sich vereinigt“ (330).

Doch nicht nur die Wirtschaftspolitiker haben mit ihren Reden und Memoiren zu dem falschen Bild über die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ beigetragen, sondern auch Wissenschaftler, die Werke zur Geschichte der Bundesrepublik verfasst haben. Während man den Politikern unterstellen kann, dass sie die Umstände der Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ aus wahltaktischen Gründen oder um ihre Laufbahn ins rechte Licht zu rücken, geschönt haben mögen und dass das so entstandene Bild aus ähnlichen Gründen von CDU-Politikern wie Helmut Kohl und Angela Merkel weiterhin gepflegt wurde bzw. wird, gibt es für Geschichtswissenschaftler keine Gründe, an entstandenen Legenden festzuhalten. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, diese zu zerstören, um Platz zu schaffen für die Wiederherstellung eines realistischen Bildes vom damaligen Geschehen, meint Fuhrmann. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass die von CDU-Politikern wie Erhard und Pünder geschaffenen Legenden auch Eingang in die Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik gefunden haben. Uwe Fuhrmann macht dies am Beispiel der Werke zur Geschichte der Bundesrepublik von Werner Abelshauser und Christoph Klessmann deutlich und führt vor, wie „verschiedene Unsauberkeiten“ der Autoren beim Umgang mit den Quellen bei ihnen zu „gravierenden Fehlern“ bei der Beurteilung des historischen Geschehens in Wirtschaft und Politik der Jahre1948/49 führten. Hier korrigierend einzugreifen, Legenden zu zerstören, indem er ihre Entstehungsgeschichte beleuchtet und dabei die Vorzüge der historischen Dispositivanalyse demonstriert, ist die Absicht, mit der Uwe Fuhrmann sein Buch geschrieben hat. Ich bin der Meinung, dass ihm das dank seines außerordentlichen Engagements bei der Arbeit mit den Quellen vollauf gelungen ist.

Jörg Roesler

Ehrliche Bestandsaufnahme

Jean Ziegler, Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. Aus dem Französischen übertragen von Hainer Kober, München 2017, C. Bertelsmann Verlag, 319 S., 19,99 Euro.

Widersprüche treiben an, fordern heraus, nötigen zur Entscheidung – über sich selber sagte Jean Ziegler im Interview in der ver.di publik-Ausgabe 4/2017: „Ich bin ein Bolschewik, der an Gott glaubt. Ich möchte mich Victor Hugo anschließen, der gesagt hat: ‚Ich hasse alle Kirchen, ich liebe die Menschen, ich glaube an Gott.‘ Die Liebe, die ich in meinem Leben erfahren habe, sowie die Liebe, dich ich in den weltweiten Befreiungsbewegungen gesehen habe, die zeigt, zu welch großen Taten der Mensch fähig ist.“ (Alexander Behr/Jean Ziegler: „Ich bin der andere, der andere ist ich“, in: ver.di publik 4/2017, S. 16). Jean Ziegler lebt und vertritt wie kaum ein anderer linksbewegter Protagonist seines Formats einen historischen Optimismus, der in der Konsequenz nichts weniger als die Mobilisierung gegen den herrschenden „Klassenkampf von oben“ herbeisehnt. Seit seiner aktiven Zeit als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung zwischen 2000 und 2008 hat der gebürtige Schweizer mehrere einflussreiche Bücher veröffentlicht, darunter solche Klassiker wie „Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ (2012) oder die pro-grammatische Schrift „Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (2015). Seine herausragende Stellung innerhalb der internationalen Gemeinschaft nötigte selbst bürgerlichen Blättern und Kommentatoren einen gewissen Respekt für seinen energischen Einsatz gegen die gravierenden Folgen neoliberalen Wirtschaftens im Weltmaßstab ab. Vielleicht ist Ziegler, seit Jahrzehnten aktives Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, einer der letzten gehobenen Sozialdemokraten, der es wagt, voller Überzeugung und ohne Rücksicht auf die eigene Reputation kapitalismuskritische Kampagnen zu vertreten. Zudem ist er ein gefragter wie eloquenter Interviewpartner, dessen Analysen und Kommentare sozialdemokratische Realpolitiker vom Schlage Hollandes, Schulz‘ oder Renzis insgeheim nur zu träumen wagen.

Mit seinem jüngsten Werk beschreitet Ziegler autobiografische Pfade, die ihn unumwunden stets zu seiner Grundlinie des erwähnten historischen Optimismus zurückführen. Ganz wesentlich kreisen seine Ausführungen und philosophischen Einwürfe um die wechselvolle Geschichte der UN, deren Gründung im Jahre 1945 er „am Horizont der Menschheitsgeschichte“ ansiedelt (95). Ein eigenes Kapitel widmet der Autor der Analyse des Völkerbundes als unmittelbares Vorbild der Vereinten Nationen, zugleich als ein Mahnmal des Scheiterns internationaler Zusammenarbeit im Zeichen der Krise(n). Beide Organisationen wurden in ihrem Entstehungsprozess von widersprüchlichen Protagonisten und konkurrierenden Interessensblöcken geformt: So war Wilson bei seinem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach den ersten Weltkrieg zugleich ein von antibolschewistischen Eindämmungsplänen Getriebener; tief brannte sich der verschärfende Systemkonflikt nach 1945 in die Selbstdefinition der Vereinten Nationen ein, setzten sich doch die westlich-kapitalistischen Staaten mit ihrem Pochen auf Freiheitsrechte gegenüber der Sowjetunion und ihrer Verbündeten durch, die die Festschreibung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Menschenrechte festgeschrieben sehen wollten. Ziegler schildert den harten Kampf des UN-Generalsekretärs Boutros-Ghali Anfang der 90er Jahre um die Aufnahme der „fehlenden“ sozialen Menschenrechte in die UN-Charta, deren Aufnahme in der „Erklärung von Wien“ im Jahre 1993 von den USA nicht anerkannt wurde. Auch andere westliche Staaten wie Großbritannien verweigern sich nach wie vor einer Anerkennung des Menschenrechts auf Nahrung, obgleich doch bereits Roosevelt und Churchill in ihren 1941er-Thesen – ein vorbereitender geistiger Impuls für die Gründung der UN – die „Freiheit von der Not“ als notwendigen Bestandteil einer kommenden Menschenrechtscharta definierten (vgl. 101f.). Diesen grundlegenden und lähmenden Widersprüchen der UN zum Trotz sah und sieht Ziegler seine Arbeit in der internationalen Organisation im Lichte einer eschatologischen Dimension, deren Grundgedanken den Werken Adornos, Marcuses, Benjamins und Horkheimers entstammen. Es sei die „Sehnsucht nach dem Anderen“ – Ziegler zitiert den letztgenannten Vertreter der Frankfurter Schule – die ihn antreibe (99) – und das von Bloch beschriebene „Prinzip Hoffnung“, das ihn weiterkämpfen lasse.

Jean Ziegler erliegt nicht der autobiografischen Verlockung, seine „gewonnenen und verlorenen Kämpfe“ zeitlich linear geordnet zu erzählen. Vielmehr verwebt der UN-Funktionär Persönliches, mitunter Anekdotenhaftes (beispielsweise wie durch einen Geistesblitz Simone des Beauvoirs aus dem jungen Hans Ziegler „Jean“ wurde), mit faktisch sehr präzise unterfütterten Passagen, in denen er eine nachvollziehbare Analyse aktueller Konflikte sowie internationaler Notlagen vornimmt. Seine detaillierten Einsichten in die „Galaxie“ UN (62) ermöglichen dem Autor, deren institutionelle Prozesse und Entscheidungsfindungen in Verbindung mit globalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen zu setzen. Dies wird besonders im Kapitel „Die Reichen gegen die Völker“ deutlich, das als regelrechter Querschnitt des Zieglerschen Denkens und Handels gelten kann. Am Beispiel der argentinischen Schuldenkrise (seit 2003) dekliniert der Schweizer Globalisierungsgegner das zerstörerische Handeln weltweit agierender Geierfonds und zeigt die Versklavung des Südens durch den Norden an (vgl. 20f.). Zudem sieht Ziegler in den Plänen der UN, bis 2030 den Hunger in globalen Süden zu beseitigen, durch die stetig an politischem Einfluss zunehmende transnationale Oligarchie in akuter Gefahr. Ziegler möchte sich nicht mit dem Habermasschen Lob der EU aufhalten – sie sei nur „Clearingstelle für Unternehmerwünsche“ (49) – er glaubt an die UN als „einzige potentielle Quelle internationaler Normsetzung“ (52), die der etablierten „kannibalistischen Weltordnung“ (18) aktiv entgegentreten könne.

Zugleich gibt sich der Autor keinen Illusionen hin, was die Durchsetzungsfähigkeit „seiner“ universellen Lösung anbelangt. Im Kapitel „Krieg und Frieden“ steht die Kritik an der Durchsetzungskraft der UNO (und damit verbunden der Blauhelmtruppen) im Mittelpunkt. Der zeitliche Bogen spannt sich vom Koreakrieg der beginnenden 50er Jahre bis zum aktuellen Einsatz im Südlibanon, wo Ziegler 2006 als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung in größter Gefahr beobachtend unterwegs war (vgl. 164-167). Extrem kritisch bewertet der Autor die „imperiale Strategie“ der USA, deren Symbolfigur der langjährige und noch immer medial hofierte ehemalige Außenminister Henry Kissinger war und ist. Dabei sah sich der UN-Funktionär im komplexen „diplomatischen Spiel der herrschenden Klassen“ (143) verschiedenen Diffamierungskampagnen ausgesetzt: Am eindrucksvollsten verdichten sich (Ohn-)Macht der UN, der institutionelle wie persönliche Kampf Zieglers gegen die vereinigten Reichen dieser Welt, gegen egoistische agierende Staaten des Weltsicherheitsrates u.a. im Falle des Nahostkonflikts und des seit Jahren tobenden Bürgerkriegs in Syrien. Der persönliche Bezug bricht sich Bahn, wenn der Autor gegen Vorwürfe zu Felde zieht, er würde antiisraelische, in Teilen antisemitische Positionen vertreten, was ihm die Schmähung „Schande der UNO“ (275) seitens Samantha Power, der Botschafterin der Obama-Administration bei der UN einbrachte. Als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung bereiste er im Jahre 2003 Palästina, sprach mit beiden Seiten (bspw. Arafat sowie einem israelischen Militär) und legte einen Bericht vor, dem energisch widersprochen wurde (vgl. 265-267).

Ziegler gelingt es mit seinen Ausführungen, persönliche Erfahrungen und erfahrene Widersprüche innerhalb der UN-“Galaxie“ in konkrete Kritik an Bürokratie, Wirtschaftsegoismus, nationalen Machtstreben und diplomatischen Winkelzügen mit direkten tödlichen Folgen für die Menschen in Krisensituationen und -gebieten umzumünzen. In Zeiten von internationaler Steuertrickserei (Stichwort: Paradise Papers) und machtstrategischer Vetokriege im UN-Sicherheitsrat (bspw. bezüglich des Syrienkrieges), sind sein kritisches Hoffen auf eine starke UN und auf internationalen Dialog mehr als naives Wunschdenken eines „Genfer Kleinbürgers“ (Ziegler). Das vorliegende Werk ist eine ehrliche Bestandsaufnahme von Schwächen und Möglichkeiten der Organisation, ein Blick in den Werkzeugkasten eines kritischen Praktikers und eine Aufforderung, gemeinsam aktiv zu werden.

Valentin Hemberger

Weder pro- noch anti-
europäisch

Attac (Hrsg.), Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist, Wien 2017, Mandelbaum, 272 S., 15 Euro

Die Position von Linken zur EU scheint verfahren: Bekennen sie sich zu ihr, unterscheidet sie wenig vom neoliberalen Mainstream. Allenfalls, dass sie sich die EU etwas sozialer, demokratischer und ökologischer wünschen. Lehnen sie die Union etwa wegen ihrer neoliberalen Politik ab, schallt ihnen angesichts von Brexit und Aufstieg des Nationalismus entgegen: Ihr seid ja wie die Rechten. Eine neue Veröffentlichung von Attac Österreich begibt sich zwischen diese diskursiven Fronten. Auslöser dazu war auch die Erfahrung von 2015. Damals wurde am Beispiel Griechenlands klar, dass selbst eine linke Regierung nicht die Möglichkeit hat, mit dem neoliberalen Kürzungsdiktat der EU zu brechen.

Zunächst werden in dem Band zwölf Politikfelder, darunter wirtschafts-, sozial- und migrationspolitische, analysiert. Der Neoliberalismus ist so stark in den EU-Institutionen und Verträgen verankert, lautet das Resultat, dass eine Wendung zum Besseren illusorisch sei. Doch daraus ziehen die AutorInnen nicht die Schlussfolgerung, die mittlerweile nicht nur von Rechten, sondern auch von einigen Linken gezogen wird: raus aus der EU und/oder dem Euro. Allerdings stellt Attac Österreich seine bisherige grundsätzliche Befürwortung der EU in Frage.

Der Sammelband macht Vorschläge, wie aus linker Perspektive mit der EU umzugehen ist. Die AutorInnen wollen die falsche Gegenüberstellung von „pro- und antieuropäischen“ Kräften überwinden. Im Kern geschieht dies durch eine neue Grenzziehung: eine fortschrittliche Politik, die ein gutes Leben für alle anstrebt, steht einer solchen entgegen, die das Profitinteresse der Mächtigen und Reichen bedient. Alternativen für eine progressive Politik müssten von unten, aus den Städten, Gemeinden und Regionen kommen und mit konkreten Projekten verknüpft sein. Konzepte wie die sozial-ökologische Wende oder gar der Begriff Sozialismus seien zu allgemein. „Wir müssen Alternativen von unten aufbauen, mit denen wir die Vision einer anderen Gesellschaft sichtbar machen“, heißt es.

Beispiele gefällig? Einer von mehreren pointiert und gut zu lesenden Interviewbeiträgen widmet sich dem Munizipalismus. Der nicht gerade eingängige Begriff wird als Ansatz definiert, „Politik im Alltagsleben und Umfeld der Menschen zu verankern“. Beispiele finden sich in Barcelona und Madrid, wo jenseits des Nationalstaats Politik in Nachbarschafts- und Themengruppen gemacht wird und feministische Ansätze eine wichtige Rolle spielen.

Ein anderes Beispiel ist der Widerstand gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Nicht die EU-Kommission war der Adressat politischer Forderungen, sondern es wurden Gemeinden mobilisiert, die Druck auf die nationalen Regierungen machten.

Die AutorInnen plädieren freilich auch für Internationalismus, aber für einen, der dem Internationalismus des Kapitals einen der Solidarität und Zusammenarbeit gegenüberstellt. ALBA, das lateinamerikanische Integrationsprojekt linker Regierungen, versucht, Handel als komplementären Austausch und nicht als Verdrängungswettbewerb zu organisieren. Importiert werde, was nicht selbst hergestellt werden kann.

Spannend ist das Plädoyer für „strategischen Ungehorsam“ im Umgang mit der EU: „Dort, wo EU-Regeln einer emanzipatorischen Politik im Weg stehen, sollten wir sie brechen und Gestaltungsmacht zurückgewinnen“. Hier allerdings bleibt nicht nur das „wir“ nebulös, man hätte sich auch konkretere Ausführungen gewünscht, wie das aussehen könnte. Nichtsdestotrotz: Das Buch überzeugt mit seiner Analyse, wonach der Neoliberalismus fest in den EU-Institutionen verankert ist, und stellt bedenkenswerte Antworten zur Diskussion. Es zeigt einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma der Linken im Verhältnis zur EU auf: endlich nicht mehr nur zwischen kleineren Übeln wählen zu müssen.

Guido Speckmann

Zur Strafe ins Schuld-
gefängnis

Yanis Varoufakis, Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment. Verlag Antje Kunstmann, München 2017, 664 Seiten, 30 Euro.

„Schuldgefängnisse wurden abgeschafft, weil sie trotz ihrer Grausamkeit die Menschen nicht davon abhielten, neue, nicht tragfähige Schulden anzuhäufen, noch den Gläubigern halfen, ihr Geld zurückzubekommen [...] Doch seltsamerweise flüchtete man sich im 21. Jahrhundert beim Umgang mit der Insolvenz des griechischen Staats wieder in die Verleugnung des Bankrotts. Warum? Erkannten die EU und der IWF nicht, was sie da taten?“ Mit dieser Anlehnung an Charles Dickens charakterisiert der ehemalige, damals in Griechenland und bei der europäischen Linken populäre Finanzminister Yanis Varoufakis die Grundlinie der EU-„Rettungspolitik“ gegenüber seinem hoch verschuldeten Land. In seinen Erinnerungen an seine Amtszeit als Minister des ersten SYRIZA-Kabinetts von Januar bis Juli 2015 beschreibt er sein vergebliches Bemühen, gegenüber der Troika aus EU, EZB und IWF den Oktroi der Austeritätspolitik mit ihren sozialen Kahlschlagsmaßnahmen und den Betroffenen oft ihre Würde raubenden Folgen zu verhindern. Dabei greift er stilistisch immer wieder auf weltliterarische Tragödien und Dramen wie „Macbeth“ zurück, wenn er die Geschichte der Weltwirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 erzählt und erklärt. Denn als Grieche ist er mit der Welt der Tragödie nicht nur als Mitmensch vertraut, sondern als Angehöriger der Kulturnation, die die Tragödie als Form des Schauspiels erfand, nicht zuletzt mit dem Auftrag zur Katharsis, zur Läuterung.

„Wenn es ernst wird, müssen Sie lügen“ – dieser Satz stammt nicht von Varoufakis, sondern von Jean-Claude Juncker (37). Aber mit ihm charakterisiert er die Verstrickungen und das Verhalten des Ensembles der Mächtigen in Politik und Finanzwirtschaft in allen Akten der griechischen Tragödie. Das Grausame an dem Drehbuch der sogenannten Griechenlandrettung entzog sich lange Zeit dem Publikum. Die IWF-Chefin Christine Lagarde aber sprach es Varoufakis gegenüber 2015 aus: „Die Ziele, auf denen sie beharren, können nicht funktionieren. Aber Du musst verstehen, dass sie schon zu viel in dieses Programm investiert haben. Sie können nicht mehr zurück“ (S. 31). Aussagen wie diese belegt der Autor als Quellen, wohl auch, um gerichtsfest zu bleiben. Zu den Brisanzen dieses Buches gehört auch das Zustandekommen mancher Quelle. Varoufakis ließ fast immer sein Smartphone mitlaufen, um wichtige Sitzungen zu protokollieren. Damit hat er seine Kontrahenten übertölpelt, gleichzeitig gegen deren Ehrenkodex verstoßen. Doch damit belegt er relevante Entscheidungen und Verantwortlichkeiten. Und dieses unorthodoxe Rollenverständnis schützt ihn vor der ansonsten erwartbaren Prozessflut und den Rufmordkampagnen im Gefolge. Als tragischer Held wollte der brillante, aber eben auch eitle Varoufakis nicht in die Geschichte eingehen.

Schon Jahre vorher, so schildert er, hatte er mit klaren Worten den drohenden bzw. 2010 faktischen Staatsbankrott thematisiert und davor gewarnt, mit immer neuen Krediten die Maske politischer Handlungsfähigkeit anzubehalten. Doch weder die damalige PASOK- oder deren Vorgängerregierung von der ND (Karamanlis), noch die EU habe eine schonungslose Analyse mit einem ebenso schonungslosen Ergebnis, nämlich das des Staatsbankrotts, zugelassen. Eine falsche Politik hätten nicht nur die griechischen Regierungen betrieben, vor allem die französischen und deutschen Banken waren tief in die Hybris des Kreditgeschäfts verstrickt. Varoufakis arbeitet dies sorgfältig und nachvollziehbar heraus und folgert: „Frankreichs Spitzenbeamte wussten, dass ein Bankrott Griechenlands den französischen Staat zwingen würde, sich sechs Mal so viel Geld zu leihen, wie er jährlich an Steuern einnahm, nur um sie diesen drei idiotischen Banken hinzuwerfen“. Was für die französischen Geldinstitute galt, galt auch für die beteiligten deutschen Geldinstitute in einem Umfang von 340-406 Milliarden Euro (36-37) Die weiteren Akte der Tragödie sind bekannt: Die ersten beiden „Rettungspakete“ mitsamt der Entmachtung der Regierung Papandreou und der Installierung der willfährigen Übergangsregierung Papademos, nachfolgend der Wahlsieg der Nea Demokratia, die Errichtung einer Art Fremdregierung namens Troika, die am Parlament vorbei praktisch den griechischen Staat lenkte und das Parlament zu immer mehr Sozial- und Demokratieabbau zwang. Aus Griechenland wurde „Bailoutistan“, wie Varoufakis schreibt. Die Austeritätspolitik trieb das Land in die Rezession und die Menschen in die Armut, viele in den Freitod. „Austerität ist ein Spiel mit Moral, das dazu dient, in Zeiten der Krise zynische Transfers von den Habenichtsen zu den Vermögenden zu legitimieren [...]. Die Troika gab sich nicht damit zufrieden, dass die Griechen, die Spanier und ihre eigenen Leute sich ihrer Autorität unterwarfen, nein, sie verlangte auch noch, dass die europäischen Schwächlinge, darunter auch viele Deutsche, die gegen die Armut kämpften, die Schuld und die Verantwortung für die Krise auf sich nehmen sollten“ (54). Und die ND-Regierung Samaras spielte pflichtschuldig die ihr zugewiesene Rolle. Nach ihrem Scheitern wurde der Parteilose Varoufakis nach dem SYRIZA-Wahlsieg vom 25. Januar 2015 Finanzminister im Kabinett Tsipras. Die Tragödie nahm ihren Lauf. Als Widerpart der Troika und des starken Mannes der Eurozone, Wolfgang Schäuble, stieg Varoufakis zum Medienstar auf und kämpfte für sein Land und seine Menschen um das Ende der „Rettungspolitik“. Stattdessen warb er vergeblich für Umschuldungen, Schuldenschnitte, Sozial- und Finanzreformen und den Schluss der verhängnisvollen Austeritätspolitik. Verhandlungsmarathons und Nervenkriege, dann der Sommer 2015. Ich war selbst in Athen, als am 5. Juli 61,3 Prozent der Griechen ein drittes „Rettungspaket“ per Referendum ablehnten und die Kapitalverkehrskontrollen die Nerven der Athener strapazierten. Im Mai hatte die griechische Regierung ein eigenes Konzept erarbeitet, das mit der Unterstützung der deutschen Regierung ein drittes „Rettungspaket“ verhindern sollte. Als Varoufakis es mit Wolfgang Schäuble besprach, setzte ihm dieser die Pistole auf die Brust: „Das Memorandum, und zwar so, wie es ist, ohne Abstriche. Oder die Drachme.“ (502) Der „Grexit“ als Hebel zur Unterwerfung der zwar schon schwankenden, aber noch immer widerspenstigen griechischen Regierung. Und er legte nach: „Und die Eurozone wird viel stärker sein, wenn sie durch den Grexit diszipliniert wird.“ (504). Als das griechische Volk die Politik der Linksregierung am 5. Juli mit 61,3 Prozent unterstützte, war, so schildert es Varoufakis, Tsipras schon innerlich zermürbt und bot Varoufakis ein anderes Ministeramt an. Der Rest ist Geschichte bzw. Nemesis. Varoufakis teilte seinen Rücktritt mit und wurde durch Euklid Tsakalotos ersetzt. Die SYRIZA-Regierung nahm das dritte „Rettungspaket“ an und gab weitere Souveränität an die Troika ab. Mag sie ihr auch so viele kleine Zugeständnisse abgerungen oder abgezwungen haben, den Kampf gegen das Schuldgefängnis gab sie verloren. Und da genau dies die „rote Linie“ für Varoufakis war, stieg er aus.

Dieses Buch ist faszinierend und schwerwiegend. Varoufakis führt uns vor Augen, wie Kapitalmacht und politische Macht funktionieren, gnadenlos und zum Teil würdelos. Demokratie und Souveränität werden ohne Wimpernzucken geopfert. Unter diesen Umständen kann Öffentlichkeit nicht schaden, um den „Insidern“ der Macht auf die Finger zu schauen. Und wenn die Aufnahmetaste eines Smartphones dazu dient, Mechanismen der Kapitalmacht zu erfassen und die Betroffenen darüber aufzuklären, dann ist das als Katharsis im 21. Jahrhundert legitim. Dieses fesselnd geschriebene Buch darf man nicht ignorieren.

Holger Czitrich-Stahl

Gesundheitswirtschaft

Wolfgang Albers, Zur Kasse, bitte! Gesundheit als Geschäftsmodell; Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2016, 217 S., 14,99 Euro

Seit mindestens 30 Jahren verschlechtern sich für große Teile der Bevölkerung die materiellen und finanziellen Arbeits- und Lebensbedingungen. In vielerlei Hinsicht und für viele Menschen allerdings so langsam und schleichend, dass einer der wichtigen Gründe dafür nur schwer ins Bewusstsein dringen kann: nämlich die Probleme bei der Verwirklichung des zentralen ökonomischen Grundprinzips im Kapitalismus: aus Geld mehr Geld, also Gewinn zu machen. Neben der strukturellen Überakkumulation von Real- besteht seit spätestens 15 Jahren auch eine Überakkumulation von Finanzkapital. Die Suche nach profitträchtigen Anlagemöglichkeiten des Kapitals betrifft alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge – auch den Gesundheitsbereich. Diese sozio-ökonomischen Hintergründe spielen in Wolfgang Albers‘ Ausführungen keine bzw. keine explizite Rolle. Nicht verwunderlich jedoch ist, dass sich dieser Hintergrund gleich zu Beginn der Einleitung geltend macht: „Auf der einen Seite ist das Gesundheitswesen zum Objekt der ökonomischen Begierde geworden. [Es soll] zu einem [...] rendite-orientierten Bereich ‚Gesundheitswirtschaft‘“ (10) umgebaut werden. „Auf der anderen Seite reduziert sich die gesamte Gesundheitspolitik seit Jahrzehnten im Sinne einer wettbewerbsbasierten Kostendämpfungsstrategie allein auf das Gesundheitssystem als ‚Kostentreiber‘.“ (11)

Damit sind zwei Grunddynamiken benannt, die nicht nur im Gesundheitswesen wirksam werden. Wo vorher – also in öffentlicher Hand – lediglich möglichst kein Verlust entstehen sollte, soll jetzt Gewinn entstehen und abgeschöpft werden, bei gleichzeitig am besten weniger oder zumindest nur begrenzt wachsenden Mitteln für die Versorgung. Dass das zu mindestens partiellen Verschlechterungen führen muss, liegt auf der Hand: „Die marktwirtschaftlichen Steuerungsmechanismen führen zwangsläufig zu einer nicht bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung.“ (200) Statt „Gesundheit als Geschäftsmodell“ zu betreiben, brauche es einen (Gegen-) „Paradigmenwechsel“: „Gesundheitspolitik muss grundsätzlich (wieder – O.G.) andersherum gedacht werden.“ (206). Dazu will Albers mit seinem Buch beitragen (208).

Dies tut er in fünf Kapiteln – und vor allem auf dreierlei Weise. Erstens, indem er aufzeigt, wo und in welcher Form Gesundheit bereits ein Geschäftsmodell ist oder gerade wird, und welche Folgen das hat. Zweitens, indem er zeigt, dass es anders geht – und in Deutschland auch anders ging. Drittens durch Auseinandersetzung mit „Argumenten“, die angeführt werden, um die angebliche Alternativlosigkeit von Vermarktlichung und mehr Wettbewerb etc. zu untermauern.

Das erste Kapitel behandelt knapp die „Entstehung der sozialen Sicherungssysteme“ (19-57) in Deutschland. Schwerpunkt bildet hier die „solidarische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ als eines der – zumindest gedanklichen – „Grundprinzipien des deutschen Gesundheitssystems“ seit seiner Gründung 1883 (35). Paritätisch finanziert wurde die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland allerdings erst seit 1951 (39). Auf Grund der Beitragsbemessungsgrenze sowie der Existenz der privaten Krankenversicherung galt das Prinzip der Solidarität ohnehin nur eingeschränkt, wie Albers an konkreten Zahlen vorrechnet (40).

Nach neun Jahrzehnten folgt dem ab „Mitte der 70er Jahre die Grundüberzeugung (...) der Reduzierung der Arbeitskosten“ (34). Stichwortgeber waren nicht zuletzt die Unternehmerverbände – Albers zitiert aus deren Programm von 1985. Demzufolge ist „durch Herausnahme von Leistungen aus der Versicherungspflicht (...) wie durch Selbstbeteiligungsregelungen“ eine angeblich „überdurchschnittliche Kostenentwicklung allein nicht [zu] bewältigen“, sie könne dazu „aber einen wesentlichen Beitrag“ leisten (35).

Praktische Mittel bestehen vor allem in „Zuzahlungen, Selbstbeteiligungen und der Streichung von Leistungen aus dem GKV-Katalog“ (34) sowie in der Abschaffung der paritätischen Finanzierung „durch die Festschreibung des Arbeitgeberanteils“ (39). Beginnen erstere bereits 1982 unter der CDU/FDP-Regierung – Brillengestelle wurden seitdem nur (aber immerhin) noch alle drei Jahre von der Kasse erstattet –, wird mit dem Grundsatz paritätischer Finanzierung unter der Regierung von SPD und Grünen 2003 gebrochen. Ohnehin galt das Solidarprinzip auf der Finanzierungsseite durch die Existenz der privaten und wettbewerblich organisierten Krankenversicherungen nur eingeschränkt.

Ein wichtiger Schritt zur „Verwettbewerblichung“ war die kurz vor der Bundestagswahl 2009 von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt unter der CDU-SPD-Bundesregierung eingeführte Möglichkeit der Insolvenz gesetzlicher Krankenkassen (55-57). Den vermeintlich dahinter steckenden Sinn erblickt Albers u.a. in einem Papier der CDU aus NRW: „Die GKV-Unternehmen werden in privatwirtschaftliche Unternehmen umgewandelt.“ (56) Davon allerdings sind die Kassen nach wie vor weit entfernt, und Albers‘ Kommentierung, dass mit der Insolvenzfähigkeit „die letzte Tür in den freien Wettbewerb“ geöffnet wurde (57), ist eine Zuspitzung, die nun allerdings die Grenze des Ungenauen überschreitet. Denn als Körperschaften öffentlichen Rechts (KöR) dürfen die Kassen nach wie vor keinen Gewinn machen und ausschütten (lediglich nicht-ausschüttungsfähige Überschüsse in begrenztem Maße). Dennoch hat die Möglichkeit der Insolvenz (die für KöR sonst eigentlich ausgeschlossen ist) für das Agieren der Kassen zwei praktische, gravierende Konsequenzen. Und zwar vor allem in Verbindung mit der Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags sowie dem kassenindividuellen Zusatzbeitrag für Versicherte und deren freier Kassenwahl: die Leistungsausgaben niedrig halten, die Einnahmen erhöhen. Das heißt in praxi: Es wird versucht, Leistungen zu verweigern und Honorare zu drücken. Letzteres nicht etwa bei den hervorragend verdienenden Ärzten*innen, sondern vor allem bei Leistungserbringern mit schwacher Verhandlungsbasis (etwa Hebammen und Heilmittelerbringer*innen).

Untertrieben hingegen sind die Angaben zu den Verwaltungskosten der Privatkassen – die doch angeblich und schon aus Wettbewerbsgründen effizienter als die GKV sein müssten, wie Albers richtig anmerkt (50). Er gibt sie (allerdings ohne Quellenangabe) mit 9,1 Prozent an (51). Der Verband der privaten Kassen selbst beziffert sie jedoch auf 14,6 Prozent, das Statistische Bundesamt auf 16 Prozent – zum Vergleich: die GKV liegt bei ca. 5,5 Prozent.

Im zweiten Kapitel – „Der Arzt als Unternehmer“ (59-69) – wird ein Thema aus dem ersten Kapitel wieder aufgenommen: die ambulante Versorgung, die vor allem durch selbständig tätige, niedergelassene Ärzte*innen mit eigener Praxis und entsprechender Ausrüstung erfolgt. Albers zitiert einen Ärztefunktionär von 1919: „Es ist sicher wirtschaftlicher, wenn ein teureres und entsprechend vollkommeneres Instrumentarium gleichzeitig oder hintereinander von vielen Ärzten benutzt wird.“ (30) Alternativen gab es mit den Ambulatorien und Polikliniken in der DDR, und es gibt sie seit ein paar Jahren mit dem Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), in denen Ärzten*innen auf Angestellten-Basis und mit Festgehalt arbeiten. Und wo mag wohl der Anreiz zur den Umsatz- und den Jahresüberschuss steigernden, aber vielleicht doch nicht unbedingt notwendigen medizinischen Leistung größer sein – in der selbständigen Praxis oder im Anstellungsverhältnis? Im „Zweifelsfall“ wird bei ersterem „nicht der gesunde Patient das Therapieziel sein, sondern die gesunde Bilanz.“ (66)

Das zeigt sich auch an den von den Patienten*innen selbst zu zahlenden Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL), die in vielen ärztlichen Praxen „angeboten werden wie Sauerbier“ (71). Im entsprechenden Kapitel 3 „Gesundheit als Ware“ (71-85) wird beispielhaft deutlich, was passiert, wenn Gesundheit eben zur Ware wird. Die große Mehrheit der IGeL hat wissenschaftlich „definitiv keinerlei nachweisbaren Nutzen“ (72 f.) – außer für die Verkäufer*innen.

So nutzt die „Gesundheitswirtschaft“ den Rohstoff Angst vor Krankheit höchst kreativ für Angebote wie dieses: Mobile Osteoporose-Forschungs-stationen laden zur entsprechenden Knochendichte-Vorsorgeuntersuchung ein; ein nicht unerheblicher Teil der Frauen, bei denen dann eine vermeintliche Osteoporose diagnostiziert wurde, lassen sich danach auf Selbstzahlerinnenbasis mit entsprechenden Medikamenten behandeln, wobei auch hier der Nutzen nicht belegt ist (76 f.). Diese Art von Geschäftsgebaren stellt keinesfalls eine exotische Randerscheinung dar – wie Albers mit dem dafür mittlerweile gängigen und auf das British Medical Journal (2002) zurückgehenden Begriff „Disease Mongering“ untermauert (76, Fn. 71).

Dass Kostendämpfung jedoch selbst dann auf dichte Grenzen stoßen kann, wenn dies Kapitalinteressen entgegensteht, zeigt der Arzneimittelbereich. Hier werden jährlich über 30 Mrd. Euro pro Jahr umgesetzt – mit ca. 60.000 zugelassenen Medikamenten (81). Viele davon „von zweifelhafter Wirkung und obendrein teuer“ (82). Das Instrument der „Positivliste“ zur Senkung der Kosten, ohne dabei die Versorgung zu verschlechtern, sondern sogar zu verbessern, ist selbst in der breiten Öffentlichkeit bekannt. Mehrmalige Anläufe zu ihrer Einführung scheiterten am immensen Widerstand der Pharmaindustrie – zuletzt 2001, als es ein „’Chefgespräch’ mit Kanzler Schröder“ gab (84).

In Kapitel 4 „Märchen, Mythen und semantische Gaukeleien: Über explodierende Kosten, den demografischen Wandel und den Merkelschen Selbstbehalt“ (87-109) schließlich geht es um vermeintliche „Argumente“, mit denen Gesundheits- und andere „Reproduktionskosten des Faktors Arbeit (...) auf die Beschäftigten selbst abgewälzt werden“ sollen (100). Bewerkstelligt wird dies mit Verweis auf eine angebliche und natürlich zu verhindernde „Kostenexplosion“ der Gesundheitsausgaben, die schon 1975 vom „Spiegel“ behauptet wurde und seitdem durch die Debatten geistert (95). Was es tatsächlich gibt, sind durchaus deutliche jährliche Anstiege der Höhe der nominellen Ausgaben – in einer wachsenden Gesamtwirtschaft ist das wenig verwunderlich. Entscheidend ist allerdings der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP. Albers zufolge ist dieser konstant: „Eine reiche Industriegesellschaft gibt seit mehr als vierzig Jahren elf Prozent ihres Volksvermögens für die Volksgesundheit aus.“ (97) Richtig ist jedoch: Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP steigt seit Jahrzehnten, übrigens in allen Industriegesellschaften, jedoch allenfalls marginal bis moderat und jedenfalls ohne Hinweis auf eine sozio-ökonomisch-finanzielle Überforderung. Die Rede von der „Kostenexplosion“ ist u.a. deshalb so erfolgreich, weil sie zwar unseriös dramatisiert, aber dennoch einen richtigen Kern hat. Um der eigenen Glaubwürdigkeit willen sollte und kann dieser in der politischen Debatte nicht verneint werden, aber die Überdramatisierung muss deutlich gemacht werden.

„Die Wandlung der Krankenhäuser in Profitcenter und Renditefabriken“ nimmt den Löwenanteil des Buches ein (5. Kapitel, 111-194 sowie „Zum Schluss“, 195-208). Es geht hier zunächst um die Finanzierung der laufenden Kosten per diagnosebezogener Fallpauschale – bekannt als DRGs. Deren Höhe wird aus den durchschnittlichen Kosten von Referenzkrankenhäusern berechnet (112). Selbst wenn es kein einziges Krankenhaus in privater Hand gäbe, sind damit alle Krankenhäuser in einen Preis- und damit Kostensenkungswettbewerb gezwungen (114). Dieser ist allerdings noch härter als der Wettbewerb auf „normalen“ Güter- und Dienstleistungsmärkten. Bilden sich doch dort in aller Regel Segmente heraus, in denen – meist auf Grund höherer (vermuteter oder tatsächlicher) Qualität – überdurchschnittliche Preise realisiert werden können. Im DRG-System allerdings gilt: „Liegen die Selbstkosten oberhalb des festgesetzten Wertes, kann ein Haus finanziell nicht überleben, denn dann schreibt es mit jeder Behandlung Verluste.“ (114)

Kommt dann in privatisierten und gewinnorientierten Häusern noch die Verwertungslogik hinzu, mit „Eigenkapital-Renditen in einer Größenordnung von 18 Prozent und mehr“ (eine Quellenangabe liefert Albers dafür leider nicht), obwohl die Gelder für die Versorgung gar keine Gewinne vorsehen (155), dann kann dies nur zu teilweise katastrophalen Zustände in den hiesigen Krankenhäusern führen – bekannt unter dem Begriff „gefährliche Pflege“ (202).

Albers zeigt, welche Folgen die DRGs an der Berliner Charité für das Pflegepersonal hatten. Zwischen 2006 und 2012 ergab sich ein Personalrückgang, dem gleichzeitig ein deutlicher Anstieg der Patientenzahlen gegenüberstand (127) – eine Entwicklung, die sich (durch Zahlen belegt) bundesweit abgespielt hat.

Aber auch im ärztlichen Bereich, wo über die Untersuchungen und Behandlungen entschieden wird, „brennt“ es. Eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer stellte 2007 fest: „Die Situation der Krankenhausversorgung ist durch einen zunehmenden ökonomischen Druck gekennzeichnet (…)“ Damit besteht ein „Widerspruch zwischen hippokratischem Eid und ökonomischen Anforderungen.“ (156f.) Neun Jahre später erklärte auch der Deutsche Ethikrat, dessen Mitglieder je zur Hälfte von Bundesregierung und Bundestag berufen werden: „Wir haben Notsignale aus Kliniken erhalten (...,) eine Ausrichtung auf das Patientenwohl als maßgebliches normatives Leitprinzip für die Krankenhausversorgung (... stehe) nicht explizit im Vordergrund.“ (197).

Während es 2015 in Berlin mit den Streiks im Pflegebereich an der Charité erstmals Arbeitskämpfe „um eine personelle Mindestausstattung“ gab (126), werden diese Kämpfe voraussichtlich in diesem Jahr u. a. im Saarland auf der Ebene eines gesamten Bundeslandes geführt. Nicht nur zur Unterstützung dieser Kämpfe, sondern gegen diverse bestehende Missstände sowie gegen die weitere markt- und gewinnorientierte Ausrichtung des Gesundheitssystems liefert Albers vielfältiges Material zur Anschauung und zur Argumentation. Einige Ungenauigkeiten – neben den oben angesprochenen – sowie gelegentlich fehlende Quellenangaben sind dabei bedauerlich, wenngleich nicht gravierend. Als Beitrag zum Anstoß einer Debatte darüber, wie viel der Gesellschaft die Gesundheit wert ist, ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen.

Olaf Gerlach

Hinter dem Hype – Arbeit im digitalen Kapitalismus

Matthias Martin Becker, Automatisierung und Ausbeutung. Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus? Promedia Verlag Wien 2017, 240 Seiten, 15,99 Euro

Seit ein einigen Jahren bestimmt das Zauberwort „Industrie 4.0“ die Debatten um die Zukunft der Wirtschaft – besonders im deutschsprachigen Raum. Dabei geht es oberflächlich um CPS (Cyber-Physische-Systeme), eine verbesserte Roboter-Mensch-Kollaboration und das „Internet der Dinge“ – allgemeiner die „Digitalisierung“ und „Vernetzung“ der Produktion auf ganzer „Linie“. Hinter diesen schillernden Elementen einer an Science-Fiction gemahnenden Vision von Wirtschaftskapitänen, Politikern und Trendforschern stecken jedoch – das ist das Verdienst von Matthias Martin Beckers Monographie – die gleichen Rationalisierungs- und Arbeitsverdichtungsstrategien des Kapitals, die schon Marx im Verlangen der Fabrikbosse erkannte, die „Poren [im] Arbeitstag“ (MEW 23: 360) zu schließen und die Intensität der Ausnutzung des „variablen Kapitals“ zu steigern. Oder wie es Becker formuliert: „Die Technik ist die Oberfläche der Arbeitsteilung“. (89) Da ist nur folgerichtig, dass die „Klassiker“ der kapitalistischen Rationalisierung, Charles Babbage und Frederick Taylor, ausführlich in Beckers Buch zu Wort kommen und die mittlerweile 200-jährige Geschichte der Automatisierung nicht außen vor bleibt.

Er zeigt auch, dass hinter dem betriebswirtschaftlichen Drang zur Prozessoptimierung, dem Vordringen der Überwachung und der sekundengenauen Erfassung von Einsparungs- und Verbesserungspotentialen (bestes Beispiel Amazon) – bis hinein in die schwer rationalisierbare Dienstleistungsbranche – eine verzweifelte Volkswirtschaft steckt, die in nahezu allen Branchen an ihre Wachstumsgrenzen gestoßen ist. Sie kämpft noch immer mit dem so genannten Transformationsproblem, der Umwandlung von Zeit in Geld (17ff.), und die Automation wie Digitalisierung soll dabei helfen, auch die letzten Reste von Autonomie und Freiraum der Arbeiter wegzurechnen. Insofern handelt es sich nach Becker bei dieser neuen Welle der Rationalisierung auch um eine zutiefst konservative: Sie dient lediglich „dazu, Technologien und Geschäftsmodelle zu retten, die unter Druck stehen“ (199). Die Heilsversprechen und Qualitätssprünge, die sich einige von eben jener Industrie 4.0 versprechen (man spricht in der Industrie oft von den berüchtigten „Skaleneffekten) entlarvt Becker eben als noch mehr vom selben und oft schädlich – nicht nur für jene, um die sich der digitale Kapitalismus am wenigsten schert, die Lohnabhängigen und die Umwelt.

Auch zeigt er gegenüber linken Fortschrittsoptimisten, die in der Summe von 3-D-Druckern, so genannten Leichtrobotern wie „Baxxter“ oder selbstfahrenden Autos und künstlicher Intelligenz schon die Voraussetzungen für eine Art vollautomatisierten Kommunismus am Horizont erblicken (z.B. unter Bezugnahme auf Paul Masons Postkapitalismus, 166ff.), mit welchen Makeln die Automatisierung an sich – zumindest dem bis jetzt verfolgten technologischen Grundlagen nach – behaftet ist: Der Notwendigkeit der Standardisierung der Arbeitsmaterialien, was besonders in der Contentproduktion, also beim Schreiben von Texten zu absurden Situationen und teils doppelter Arbeit führt; der ebenso unproduktiven Aufspaltung der Arbeitsschritte und nicht zuletzt der Dequalifizierung des arbeitenden Menschen – vom Dreher bis zum Autoren.

Obwohl der Schwerpunkt des Buches eben auf der Fabrik und dem liegt, was gemeinhin unter „Industrie 4.0“ verhandelt wird, so versucht sich Becker doch an einem Rundumschlag. Er beschäftigt sich neben dem „emotional work“ (169ff.) auch mit den so genannten „Plattformen“ wie Airbnb, Amazon usw., die sich als „Disruptoren“ der Wirtschaft feiern. Diese seien jedoch im Grunde nur eine neue Form traditioneller „Intermediäre“ bzw. Teil einer bereits seit den späten 20er Jahren des letzten Jahrhunderts begonnenen Entwicklung der Tertiarisierung, die mit der Selbstbedienung in den Supermarktketten in den USA und der Vormachtstellung des Handelskapitals ihren Anfang nahm. Diese überwänden das bereits angesprochene Rationalisierungsdilemma (das Uno-actu-Prinzip) der Dienstleistungsbranche sowohl mit der Auslagerung der Risiken, die mit tatsächlicher Produktion einhergehen, der Arbeit mit stark vernetzten Betriebssystemen, die immer kleinere Iterationen und Just-in-Time Logistik ermöglichen (SAP und Co.) als auch mithilfe des so genannten „Prosumers“, der immer größeren Mithilfe des Kunden durch Selbstbedienung, Belieferung der Daten für gezielte Werbung, Aufbau usw.

Der Autor legt mit seinem bereits im Sommer des letzten Jahres erschienen Buch nicht die erste kritische Auseinandersetzung zum Widererstarken der Automatisierungsdiskussion unter dem Label „Industrie 4.0“ vor. Doch er verarbeitet nicht nur theoretische Hintergründe aus der Industrie- und Arbeitssoziologie, sondern bezieht auch seine eigene Erfahrung als Hilfsarbeiter in der Industrie, Callcenter-Agent, freier Journalist und sogar als Click- bzw. „Crowdworker“ mit ein. Er las sich durch die bereits geführten Debatten um Künstliche Intelligenz: Von Edgar Allan Poe bis zu modernen Modephilosophen oder dem Vater des Chatbots, Joseph Weizenbaum. Dabei zeigt sich, dass auch hier die Merkmale der Diskussionen um die Automatisierung seit dem 18. Jahrhundert eine verblüffende Beständigkeit aufweisen. So ist die Art der Bewunderung und der Selbsttäuschungen, die das Publikum der „mechanischen Ente“ Jacques de Vaucansons oder Wolfgang von Kempelens Schachtürken entgegenbrachten, ähnlich dem Verzücken und den Projektionen gegenüber niedlichen, fußballspielenden oder türöffnenden Robotern von heute. In beiden Fällen übertreiben die Forscher oft, um an Gelder zu kommen, und die Faszinierten wiegen sich auf der anderen Seite in der Illusion, in der Zukunft zu leben. Ganz zu schweigen von der merkwürdigen Tendenz vieler Wissenschaftsdisziplinen, im Bestreben künstliche Intelligenz zu erzeugen, mechanistischen oder heute neurowissenschaftlichen Fehlschlüssen über den menschlichen Geist aufzusitzen (Transhumanisten), der ja eigentlich Modell stehen sollte (78f.).

Becker unterschätzt trotz seiner Skepsis gegenüber den Heilsversprechungen der Industrie 4.0 nicht die gravierenden Auswirkungen der gerade stattfindenden und wohl noch zu erwartenden Rationalisierungs- und Automationsschübe. Dabei begegnet er der hinter diesen Tendenzen stehenden Absicht der Industriemagnate und Tech-Ideologen nach einer lückenlosen Überwachung der Arbeitnehmer und weiteren Auspressung des Arbeitstages mit einem Berufsethos, der in der neoliberalen Arbeitswelt selten geworden ist. Nicht im Sinne einer protestantischen Arbeitsethik oder eines „Zurück zum Handwerk“, sondern einer Mischung aus Stolz auf die eigenen Fähigkeiten, die – wie er mehrmals belegt und hervorhebt – auch als „Anhängsel“ der Maschine nicht aufs „Knöpfchendrücken“ reduziert sind, und der Bewahrung jener Freiräume und „Informationsvorsprünge“ gegenüber dem Management (vgl. 111ff.), die es erlauben, mit möglichst wenig Blessuren durch den Tag zu kommen. Solange das eben noch nötig ist.

Alan van Keeken

Autorinnen und Autoren, Übersetzer

Prof. Dr. Wolfgang Abendroth (1906-1985) – Marxistischer Rechts- und Politikissenschaftler

Kersten Artus – Hamburg, Journalistin, Feministin, Vorsitzende ProFamilia HH, Mitglied bei ragazza, Öffentlichkeitsreferentin von Cornelia Möhring, MdB DIE LINKE

Dr. Stefan Bollinger – Berlin, Politikwissenschaftler und Historiker, Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand Die Linke

Prof. Dr. Dieter Boris – Marburg/L., Sozialwissenschaftler, Z-Beirat

Artur Brückmann – Hamburg, Student der Sozialökonomie

Dr. Holger Czitrich-Stahl – Berlin, Historiker und Lehrer

Judith Daniel – Berlin/Heidelberg, Studentin der Politik- und Islamwissenschaft

Prof. Dr. Georg Fülberth – Marburg/L., Politikwissenschaftler

Michael Fütterer – Frankfurt/M., Gewerkschafter, ExChains-Netzwerk

Olaf Gerlach – Berlin, Volkswirt, bis Okt. 2017 Mitarbeiter d. Linksfraktion

Dr. Jörg Goldberg – Frankfurt/M. Wirtschaftswissenschaftler, Z-Redakteur

Prof. Dr. Karl-Heinz Gräfe – Freital, Historiker

Jens Grandt – Berlin, Journalist, Publizist

Prof. Dr. Erich Hahn – Berlin, Philosoph

Valentin Hemberger, M.A. – Stuttgart, Historiker, Journalist, Redaktionsmitglied der „informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933 – 1945“

Dr. Hartmut Henicke – Altzeschdorf, Historiker

Lukas Hof – Wiesbaden, Student der Soziologie und Politikwissenschaften

Alan Ruben van Keeken – Siegen, Student der Musikwissenschaft

Heinz-Jürgen Krug – Rüsselsheim, Dipl. Mathem., IT-Berater

Prof. Dr. Thomas Kuczynski – Berlin, Wirtschaftshistoriker

Dr. Volker Külow – Leipzig, Historiker und Publizist

Dirk Krüger – Wuppertal, Lehrer i.R., Vorstandsmitglied VVN/BDA Wuppertal

Dr. André Leisewitz – Weilrod, Dipl. Biol., Z-Redakteur

Franziska Lindner – Berlin, Politikwissenschaftlerin

John Lütten – Jena, Student der Soziologie, Z-Redakteur

Prof. Dr. Thomas Metscher – Ottersberg/Grafenau, Literaturwissenschaftler

Prof. Dr. Klaus Müller – Lugau, Wirtschaftswissenschaftler

Isa Paape – Erlangen, IGM-Vertrauensfrau und Betriebsrätin

Prof. Dr. sc. Siegfried Prokop – Bernau, Historiker

Dr. Jürgen Reusch – Frankfurt/M., Politikwissenschaftler, Z-Redakteur

Prof. Dr. Jörg Roesler – Berlin, Wirtschaftshistoriker, Z-Beirat

Robert Sadowski – Gelsenkirchen, 1. Bevollmächtigter IGM Verwaltungsstelle Gelsenkirchen

Dr. phil. Rolf Schmucker – Berlin, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Leiter des Instituts DGB-Index Gute Arbeit in Berlin

Dr. Winfried Schwarz – Frankfurt/M., Sozialwissenschaftler, tätig in der Umweltforschung

Marcus Schwarzbach – Kaufungen, Berater in Mitbestimmungsfragen

Werner Siebler – Freiburg, Vorsitzen­der der ver.di-Betriebsgruppe Freiburg

Guido Speckmann – Hamburg, Journalist

Danilo Streller – Leipzig, Student der Politikwissenschaft und Philosophie

Dorian Tigges – Marburg, Student der Geschichte, BV die linke.SDS

Kai Wagner – Marburg, Politologe, Informatiker im Bereich Telekommu­nikationsindustrie

Prof. Erik Olin Wright – Madison, Wisconsin/USA, Soziologe, Hochschullehrer

Dr. Harald Werner – Berlin, Soziologe, Z-Beirat

Dr. Gerd Wiegel – Berlin, Politikwiss., Fachreferent Rechtsextremismus /Antifaschismus der Linksfraktion, Z-Redakteur

Noah Zeise – Frankfurt/M., Student

Johanna Zimmermann – Hamburg, Studentin der Sozialarbeit

1 Gustav Noske, Von Kiel bis Kapp, Berlin 1920, S. 60.

2 Annotationen. In: Eduard Bernstein, Die deutsche Revolution von 1918/19. Geschichte der Entstehung und der ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik. Herausgegeben und eingeleitet von Heinrich August Winkler und annotiert von Teresa Löwe, Bonn 1998, S. 293.

3 Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl. Der Generalstreik und die Märzkämpfe in Berlin 1919, Münster 2012.

[1] Ralf Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008.

1 IG Metall (Hrg.), Fünfundsiebzig Jahre Industriegewerkschaft 1891-1966, Frankfurt am Main 1966, Faksimile S. 77.

1 Vgl. Jörg Goldberg, Formwandel der kapitalistischen Produktionsweise und die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Ingo Schmidt (Hrsg.), Das Kapital@150. Russische Revolution@100, Hamburg 2017, S. 153 ff.