Rechtsentwicklung in Europa

Europäischer Wahlzyklus 2015-2018: Das Zentrum hält

von Klaus Dräger
Dezember 2017

Der von den Medien als schicksalhaft beschworene europäische Wahlzyklus seit 2015 neigt sich mit den Wahlen in Italien 2018 seinem vorläufigen Ende zu. 2015 drohte Schäuble der von Syriza geführten Koalition in Griechenland mit einem Grexit. Dann kam 2016 die Brexit-Entscheidung in Großbritannien – würde die Europäische Union künftig auseinander brechen? Es folgte der Wahlsieg Donald Trumps in den USA – würde die NATO obsolet, das Ende des Westens, des Freihandels und der transatlantischen Partnerschaft eingeleitet? Die von den Medien schon lange an die Wand gemalte ‚populistische Gefahr’ von rechts und links – würde sie wichtige EU-Länder wie Spanien (Podemos), die Niederlande (Wilders Freiheitspartei), Frankreich (Le Pens Front National), Italien (Grillos Fünf-Sterne-Bewegung) usw. erobern oder zumindest nachhaltig destabilisieren können? Dann kam die Bundestagswahl 2017 in Deutschland mit der vorläufigen Verfestigung der Afd auch auf Bundesebene und die institutionelle Krise in Spanien mit dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien – neue Gefahren für den Zusammenhalt der EU am Horizont?

Meine vorläufige Zwischenbilanz: die ‚extreme Mitte’ (Tariq Ali) kann sich immer noch halten, auch wenn ‚normales bürgerliches Regieren’ schwieriger geworden ist.

In Z 106 war analysiert worden, dass und warum der von vielen Parteien links von Sozialdemokratie und Grünen erhoffte ‚linke Aufbruch in Europa’ nicht stattfand.[1] Bei einem von der AfD organisierten Kampftreffen der europäischen extremen Rechten in Karlsruhe Ende Januar 2017 verkündete Marine Le Pen unter frenetischem Beifall von Frauke Petry ganz analog einen ‚rechten Aufbruch in Europa’: nach Viktor Orbán in Ungarn, der PiS in Polen, Donald Trump in den USA usw. werde die FPÖ in Österreich, Wilders in den Niederlanden und der Front National in Frankreich siegen und damit die EU in ihren Grundfesten erschüttern. So die rechte Dominostein-Theorie 2017, ähnlich wie die linke Version 2015. Österreich hätte in 2016 mit dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer zwar beinahe einen extrem rechten Bundespräsidenten erhalten. 2016 lag die FPÖ das ganze Jahr über bei Wahlumfragen in Österreich deutlich vor Konservativen und Sozialdemokraten. Bei der Wahl am 15. Oktober 2017 kam sie mit bemerkenswerten 26 Prozent auf den dritten Platz, hinter ÖVP (31,5 Prozent) und SPÖ (26,9 Prozent). Der ‚rechte Aufbruch in Europa’ – dass Formationen der extremen Rechten in wichtigen EU-Ländern stärkste Partei würden – kam soweit genauso wenig zustande wie zuvor der ‚linke’ Aufbruch.

Der harte rechte Rand – kein Hindernis für bürgerliches Regieren ...

Wilders Freiheitspartei kam bei den Wahlen in den Niederlanden im März 2017 mit 13,1 Prozent nur auf den zweiten Platz, deutlich hinter Mark Ruttes Liberalen mit 21,3 Prozent. Marine Le Pen erhielt in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl Ende April 2017 zwar beachtliche 21,3 Prozent, doch die Ergebnisse der anderen Kandidaten (Macron mit 24 Prozent, der Republikaner François Fillon mit 20 Prozent und der linke Jean Luc Mélenchon mit 19,6 Prozent) zeigten ein in vier etwa gleich starke politische Blöcke stimmungsmäßig gespaltenes Frankreich.[2] In der ersten Runde der Wahl zur französischen Nationalversammlung im Juni 2017 kam Le Pens Front National nur auf 13,2 Prozent und erhielt in der zweiten Runde nur 8 Abgeordnete – zu wenig, um dort eine Fraktion bilden zu können. Die von der AfD bei der Bundestagswahl in Deutschland Ende September 2017 errungenen 12,6 Prozent schockieren zwar die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Die AfD liegt damit aber im europäischen Durchschnitt für Wahlergebnisse solcher rechten Formationen. Deutschland ist ein Nachzügler in diesem EU-weiten ‚Trend’.

Die harten rechten Formationen sind ‚Partei der konterrevolutionären Verzweiflung’ (Trotzki). Ihr Aufstieg folgt einem ähnlichen Muster wie jener der ‚konservativen Revolution’ und der faschistischen Parteien in den 1920er und 1930er Jahren. Im Unterschied zur Periode vor dem Zweiten Weltkrieg braucht das Kapital sie aber nicht, um eine revolutionäre sozialistische Bedrohung (wie die Oktoberevolution) oder eine starke Arbeiterbewegung zu zerschlagen, die es heute nicht mehr gibt. Die maßgeblich an Freihandel und neoliberalen Strukturreformen interessierten Kapitalkreise zeigen sich eher von ihnen irritiert.

Wenn es nicht anders geht, versucht man sie in bürgerliche Regierungen einzubinden, was aufgrund der Schnittmengen zu neoliberaler Wirtschaftspolitik auch meist gelingt. Die diversen Regierungen Berlusconis in Italien seit den 1990ern waren Bündnisse zwischen ‚rechtspopulistischen’ Kräften (Forza Italia, Lega Nord, Alleanza Nazionale). Die schwarz-blaue Koalition von ÖVP und FPÖ in Österreich unter Wolfgang Schüssel (2000 - 2007) ist ein weiteres Beispiel. Aktuell können sich in Österreich sowohl die ÖVP als auch die SPÖ eine Koalition mit der FPÖ vorstellen. Die bürgerlichen Regierungen von Norwegen (mit der Fortschrittspartei) und Finnland (aktuell mit dem ‚gemäßigten’ Teil der Wahren Finnen), die zeitweise Tolerierung bürgerlicher Minderheitsregierungen durch Wilders Freiheitspartei in den Niederlanden (2011/12) oder durch die rechte Dänische Volkspartei in Dänemark zeigen: die ‚politische Mitte’ arrangiert sich stets dann mit den ‚Rechtspopulisten’, wenn es dem Erhalt bürgerlicher Regierungsmehrheiten dient. ‚Bürgerliches Regieren’ verlief in solchen Konstellationen nicht immer reibungslos. Der dominierende Kurs von Austeritätspolitik und neoliberalen Strukturreformen konnte so aber fortgesetzt werden. Die ‚repräsentative parlamentarische Demokratie’ wurde dabei auch von der harten Rechten als Handlungsrahmen akzeptiert.

... verschiebt aber erfolgreich die Agenda des Zentrums nach rechts

Ob als Regierungspartei oder rechte Opposition: Es gelang den harten rechten Formationen, mit ihrem fremden- und islamfeindlichen Diskurs und ihren autoritären Slogans zur inneren Sicherheit die bürgerliche Mitte und auch die Sozialdemokratie vor sich herzutreiben. Sebastian Kurz von der ÖVP, Christian Kern von der SPÖ, Horst Seehofer von der CSU, die holländischen Liberalen und Christdemokraten usw. – sie alle griffen die Agenda der harten Rechten auf, um ‚die rechte Flanke’ zu schließen. Entsprechenden Worten aus den ‚Mitte’-Parteien folgten schon früh Taten. Nach der anfänglichen ‚Willkommenskultur’ für Flüchtlinge in Deutschland kam Merkels EU-Deal mit der Türkei, um die Balkanroute zu blockieren. Auf Betreiben von Macron, Merkel und den Regierungen Spaniens und Italiens wurde Ende August 2017 in Paris mit afrikanischen Staaten wie Tschad, Niger und anderen über die Errichtung von Auffanglagern in Afrika verhandelt, um die Mittelmeerroute zu schließen. Dies schließt auch Deals mit brutalen libyschen Milizen ein, da dieses von der NATO zerbombte Land ja keine autoritative Zentralregierung hat. Mit diesen und weiteren Maßnahmen (EU-Entwicklungshilfe an Flüchtlingsabwehr, ‚Kampf gegen Terrorismus’, militärische Zusammenarbeit und neoliberale Strukturreformen koppeln) setzt die EU nun eine Linie zur ‚Festung Europa’ um, die von rechten Hardlinern wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán schon lange vertreten und mit Grenzzäunen zum ‚Balkan’ nicht nur symbolisch untermauert wurde.

Macrons angeblich ‚sozial-liberale’ Regierung hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, welches wesentliche Bestimmungen seines Vorgängers Hollande zum befristeten Ausnahmezustand nach den islamistischen Attentaten in Frankreich in den ‚Normalbetrieb’ überführt. Die Verschärfung von Sicherheitsgesetzen auf dieser Linie ist EU-weit zu beobachten. Zu den Kernthemen der harten Rechten verschiebt sich in der öffentlichen Debatte wie in der Regierungspolitik vieler EU-Staaten das politische Spektrum nach rechts und ins Autoritäre.

Mitte-Rechts überlebt, Mitte-Links ist erledigt

Wie erging es den traditionellen ‚Mitte-Rechts’-Kräften in diesem europäischen Wahlzyklus? Bei den Wahlen in Spanien Ende Juni 2016 konnte sich die Volkspartei (PP) von Mariano Rajoy mit rund 33 Prozent als stärkste konservative Kraft behaupten, während ihr bevorzugter liberaler Koalitionspartner (Ciudadanos) mit rund 13 Prozent stagnierte. Eine Minderheitsregierung der PP kam ins Amt, weil sich die spanischen Sozialdemokraten beim dritten Durchgang zur Wahl des Ministerpräsidenten mehrheitlich enthielten. In den Niederlanden lagen Ruttes Liberale klar vorne. Andere bürgerliche Parteien (wie die christdemokratische CDA, die sozialliberale D 66 usw.) konnten etwas zulegen. In Frankreich wurden die konservativen ‚Republikaner’ (LR – die Nachfolgepartei von Sarkozys UMP) in der ersten Runde der Parlamentswahl zwar ziemlich gerupft (auf rund 16 Prozent). LR konnte in der zweiten Runde aber immerhin 100 von 577 Mandaten als stärkste ‚Oppositionsfraktion’ sichern. Macrons ‚En Marche’ erhielt mit 313 Mandaten die absolute Mehrheit. Hinzu kommen seine Unterstützer von der liberalen MoDem mit 47 und der ‚Konstruktiven’ (Dissidenten der LR und anderer bürgerlicher Gruppen) mit 35 Mandaten. Macron hat viele Möglichkeiten, aus diesem Spektrum für die eine oder andere ‚Reform’ über seine absolute Mehrheit hinaus zusätzliche Unterstützung zu gewinnen. CDU und CSU in Deutschland fuhren mit zusammen 32,9 Prozent zwar ihr bislang schlechtestes Wahlergebnis bei einer Bundestagswahl seit 1949 ein.[3] Dafür ist die FDP als vierte Kraft im Bundestag aber wieder da, und die Grünen sind wohl zu allem bereit. Bürgerliches Regieren in der EU bleibt weiterhin die Norm.

Was ‚Mitte-Links’ als im Wesentlichen von der Sozialdemokratie dominiertes politisches Feld angeht, ist die Bilanz überwiegend katastrophal. Seit einigen Jahren ist schon von der PASOKisierung der europäischen Sozialdemokratie die Rede – dem Absturz der in den 1980ern und 1990ern mächtigen Regierungspartei von Andreas Papandreou in Griechenland auf eine unbedeutende Restgröße. Die irische Labour Party und die niederländische PvdA rangieren inzwischen unter 10 Prozent der Wählerstimmen. Mitterands einst dominante französische PS erreichte bei den Wahlen zur Nationalversammlung 2017 nur knapp 7,5 Prozent. Die spanische PSOE und die SPD können sich mit Ergebnissen um die 20 Prozent demgegenüber als ‚mittelstarke’ Parteien noch glücklich schätzen. Warum die neoliberal gewendete Sozialdemokratie so eingebrochen ist, habe ich in Z 106 und anderswo analysiert und kommentiere dies hier nicht weiter.

Großbritannien und Portugal – die Ausnahmen

Im Gegensatz zu ihrem Niedergang in weiten Teilen Europas gibt es in zwei Ländern eine Renaissance der Sozialdemokratie: in Portugal und Großbritannien.

In Portugal tolerieren Kommunisten (PCP/CDU) und Linksblock seit 2015 die sozialdemokratische Minderheitsregierung von Antonio Costa. Die Austeritätspolitik wurde gestoppt, Mindestlöhne erhöht, Investitionen in Bildung und Gesundheit ausgebaut usw.. Die leichte Konjunkturerholung seit 2016 ermöglichte es der Regierung Costa, die EU-Defizitregeln einzuhalten. Bei den jüngsten Kommunalwahlen am 1. Oktober 2017 waren Costas Sozialisten die strahlenden Sieger und kamen landesweit auf 38,7 Prozent (gegenüber 32,3 Prozent bei der Parlamentswahl im Oktober 2015). Die konservative PSD von Passos Coelho wurde abgestraft.[4] Costas moderat sozialdemokratische Strategie hat sich für die portugiesischen Sozialisten gelohnt (‚Linksbündnis’, Stopp der Austerität, im Alltag spürbare soziale Verbesserungen in kleinen Schritten voranbringen und dabei die EU-Defizitregeln etc. einhalten). Die strukturellen Probleme (faule Kredite der Banken und deren Abwicklung, defizitäre Industrialisierung etc.) bleiben aber. Wenn die aktuelle Wirtschaftserholung sich nicht fortsetzt – Portugal profitiert als ‚sicherer Hafen’ vor allem im Tourismus von der Instabilität in Nordafrika und der autoritären Entwicklung in der Türkei – steht dieses im Kern noch kaum veränderte portugiesische Entwicklungsmodell wieder vor seinen alten Problemen.

Das Brexit-Referendum in Großbritannien im Juni 2016 wurde von den Mainstream-Medien und auch vielen Kräften der europäischen Linken als ‚Sieg des Rechtspopulismus’ (UKIP, Boris Johnson etc.) interpretiert. Ausschreitungen danach gegen osteuropäische Migranten schienen dieser Interpretation Recht zu geben. Allerdings: nur etwa 33 Prozent der für den Brexit Stimmenden gaben damals als Hauptmotiv für ihre Entscheidung an, dass der Ausstieg aus der EU die besten Chancen biete, die Außengrenzen und die Zuwanderung wieder zu kontrollieren. Für die große Mehrheit der ‚Brexiteers’ war ‚Demokratie und Volkssouveränität’ (taking back control) das sicher vieldeutige, aber entscheidende Thema: Protest gegen die Folgen von ‚Globalisierung’, EU und der Austeritätspolitik von Tony Blairs Labour und der Konservativen. Als nach David Camerons Abgang die neue konservative Premierministerin Theresa May vorgezogene Neuwahlen zum 8. Juni 2017 ausrief, glaubten die meisten Medien an ihren gloriosen Wahlsieg und die völlige Vernichtung von Jeremy Corbyn als neuem Führer der Labour Party. Es kam bekanntlich anders: Corbyn konnte sich gegen Putschversuche der Blairisten in der eigenen Partei behaupten, ein links-sozialdemokratisches Programm für ‚die vielen, nicht die wenigen’ innerparteilich durchsetzen, und damit 40 Prozent der Stimmen (gegenüber 42,4 Prozent für die Tories) gewinnen. Die rechts-imperalistische UKIP wurde untergepflügt.

Die grundsätzliche Entscheidung für den Brexit akzeptiert Corbyn. Strategisch geht es ihm nun darum, aus dem Brexit einen Lexit (linken Ausstieg aus der EU) zu machen: Verstaatlichung der Eisenbahnen, Rekommunalisierung der Wasser- und Energieversorgung, Wiederaufbau des Gesundheitssystems (NHS), sozialer Wohnungsbau, sozial-ökologische Industriepolitik usw. Portugal und Großbritannien zeigen: ‚Sozialdemokratie wieder zu erlernen’ (Tariq Ali) könnte die Erosion dieser Strömung aufhalten. Die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa wollen von einem solchen Kurswechsel allerdings nach wie vor nichts wissen. Für viele von ihnen ist es wohl auch schon zu spät ...

Renzi und Macron: Transformismo re-loaded

Die Demokratische Partei (PD) Italiens ordnet sich dem europäischen Mitte-Links-Spektrum zu. Sie ist allerdings keine sozialdemokratische Partei. Walter Veltroni, der in den 1990ern die Gründung der PD maßgeblich vorantrieb, wollte gemäßigte konservative, liberale, grüne und sozialdemokratische Strömungen nach dem Vorbild der US-Demokraten sammeln, um in einem Zwei-Parteien-System Berlusconis Rechtsblock zu schlagen. Sein Kalkül ging am Ende nicht auf. Die ‚Mitte-Links’ Kräfte der ‚Demokraten’ (z.B. Bersani, D’Alema, Pisapia) haben sich jüngst in mehreren Schüben von Renzis PD abgespalten. Die Formation dieser Befürworter der alten centro-sinistra kommt in Umfragen in Italien auf 3 bis 4 Prozent, die sozialdemokratische ‚Sinistra Italiana’ (SI) auf 2 bis 3 Prozent. Getrennt blieben beide Gruppierungen bei der für spätestens im Mai 2018 abzuhaltenden Wahl in Italien wohl ohne parlamentarische Vertretung. Die PD und Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) können laut derzeitigen Umfragen mit jeweils knapp bis zu 30 Prozent Wahlstimmen rechnen, der rechte Block (Berlusconis Forza Italia, Lega Nord und die proto-faschistischen ‚Fratelli d’Italia’) zusammen mit bis zu 33 Prozent. Für keinen der drei Blöcke reichte es, alleine zu regieren. Mit Blick auf mögliche Regierungsbeteiligung haben sowohl die ‚Populisten’ vom M5S als auch die Lega Nord ihre früheren Positionen aufgegeben, dass Italien aus dem Euro aussteigen solle usw. Vieles wird dabei sondiert, z.B. eine Minderheitsregierung von M5S, toleriert von der Lega und anderen (Gespräche dazu gab es). Oder wie von Renzi favorisiert: eine PD-Regierung mit Forza Italia und anderen. Bürgerliches Regieren wird dabei weiterhin die Devise sein – ganz im Geiste des tradierten italienischen ‚Transformismo’ (Alles muss sich ändern, damit sich nichts ändert). Das ist ja auch in Frankreich unter dem ‚radikalen Erneuerer’ Emmanuel Macron so, der die autoritäre Agenda des späten ‚sozialistischen’ Präsidenten Hollande weiter führt und verschärft, nicht nur mit seinen neoliberalen Arbeitsmarkreformen.

Die ‚radikale Linke’ in der EU: ernüchtert, konfus,
zerstritten ...

Wie erging es den Kräften der europäischen ‚radikalen Linken’ in diesem Wahlzyklus? Die Sozialistische Partei der Niederlande (SP) kam bei der Wahl im März 2017 auf 9,1 Prozent – bei der Wahl 2006 hatte sie mal 16,6 Prozent gewonnen. DIE LINKE in Deutschland erreichte im September 2017 9,2 Prozent. Diese Ergebnisse liegen im europäischen Durchschnitt solcher Formationen der EU-Linken (außer Syriza bisher und UP in Spanien).

Mélenchons La France Insoumise (FI; Das widerständige Frankreich) kam bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 immerhin auf rund 11 Prozent[5], die Kommunisten (PCF) nur auf 2,7 Prozent, und die extreme Linke (NPA, Lutte Ouvrière etc.) auf rund 0,8 Prozent. Die französische ‚radikale Linke’ zusammen genommen konnte damit den Front National knapp überflügeln. Die Kommunisten verteidigten trotz ihrer nationalen Schwäche ihre lokalen Hochburgen, erzielten so 11 Mandate, und konnten mit linken Abgeordneten aus den französischen Überseegebieten eine Fraktion in der Nationalversammlung bilden. Die Rest-PS und ihre Verbündeten (Grüne, andere kleinere Satelliten) formierten sich ironischerweise zur Fraktion der ‚Nouvelle Gauche’ (Neue Linke). Und zwischen all diese will sich eine neue ‚Bewegung M1717’ des gescheiterten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Benoit Hammon hineinzwängen, um die ‚französische Linke’ zu einen. Eine Einheitsfront dieser Kräfte findet wegen strategischer und sonstiger Differenzen bislang nicht statt. Zurzeit geht es um einen Wettbewerb, wer als ‚linke Opposition’ zu Macron die Nase vorn hat.

Auch in Spanien verlief die Wiederholungswahl vom Juni 2016 für die spanische ‚radikale Linke’ enttäuschend. Podemos, Izquierda Unida (IU) und ihre regionalen Bündnispartner waren mit einem gemeinsamen Wahlbündnis Unidos Podemos (UP) angetreten. Sie verloren aber rund eine Million Stimmen im Vergleich zur Wahl im Dezember 2015, als IU und Podemos noch getrennt kandidierten. UP kam mit 21,1 Prozent auf den dritten Platz, hinter Konservativen (33 Prozent) und Sozialdemokraten (22,7 Prozent). Eine ‚portugiesische Konstellation’ (UP, PSOE, diverse Regionalparteien) hätte im spanischen Parlament eine knappe Mehrheit. Die PSOE ermöglichte es den Konservativen aber durch Stimmenthaltung eine Minderheitsregierung zu bilden. Ein parteiinterner Putsch des rechten Flügels der PSOE entmachtete Pedro Sanchez als Generalsekretär, weil er auf seinem ‚Nein zu Rajoy’ beharrte. In einer Urwahl im Mai 2017 setzte sich Sanchez mit seiner Linie aber gegen Susana Diaz als Kandidatin der Parteigranden durch. Ähnlich wie UP forderte er, Spanien müsse zu einem pluri-nationalen föderativen Staat umgebaut werden. UP beantragte Mitte Juni 2017 ein Misstrauensvotum gegen Rajoy. Dies scheiterte, weil die PSOE sich enthielt.

Zur Krise um das katalonische Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017 beschränke ich mich aus Platzgründen darauf, knapp die Strategien der unterschiedlichen Akteure zu beleuchten. Das spanische Verfassungsgericht erklärte das Referendum für illegal. Rajoy konnte sich so als Verteidiger von Verfassung und Rechtsstaat positionieren und damit von Korruptionsskandalen seiner PP ablenken. Die PSOE ließ sich von ihm auf dieser Linie wieder in babylonische Gefangenschaft zwingen. PP, PSOE und die neoliberalen Ciudadanos verteidigen mit ihrem ‚Verfassungspakt für Spanien’ das ‚Regime von 1978’. UP beantragte im Parlament, dass die Regierung auf die Aktivierung der Artikel 155 und 116 der Verfassung[6] verzichten und in einen Dialog mit der Regionalregierung von Katalonien eintreten solle. Dies wurde abgelehnt, auch die PSOE stimmte mit Nein.

In einem Eilverfahren wurde katalonischen Unternehmen ermöglicht, ihren Firmensitz in andere Regionen von Spanien zu verlegen, was viele bereits taten. So würde einem sich einseitig als unabhängige Republik erklärenden Katalonien die Steuer- und Finanzbasis entzogen. Die katalonischen Unternehmerverbände setzten den regionalen Regierungschef Puigdemont unter Druck, die geplante Sezession von Spanien auszusetzen – was dieser am 10. Oktober 2017 auch tat. Puigdemont will damit Zeit schinden, um die ‚internationale Gemeinschaft’ und die EU als Vermittler im Konflikt zu gewinnen. Die EU-Kommission lehnt sowohl die Unabhängigkeit als auch eine Vermittlungsrolle ab. Risse im bisherigen katalonischen Mehrheitsblock für die Unabhängigkeit ‚binnen 48 Stunden’ nach dem Referendum sind deutlich. Die sozial-liberale ERC und die anti-kapitalistische CUP kritisieren Puigdemonts Entscheidung, die CUP droht mit dem Auszug ihrer Abgeordneten aus dem Regionalparlament. Das regionale UP-Bündnis in Katalonien (En Comu Podem) bestärkt den bürgerlichen Regionalpräsidenten hingegen, auf diesem Weg der ‚Atempause’ weiter zu machen: Dialog mit der Zentralregierung, das Recht auf (garantierte und repräsentative) Abstimmung zur Unabhängigkeit fordern, Druck auf eine föderale Verfassungsreform aufbauen.[7]

PSOE und PP haben bereits vereinbart, einen Sonderausschuss zur Verfassungsreform einzurichten, der nach sechs Monaten Empfehlungen vorlegen soll. Somit hat die PP die Fäden in der Hand für alle weiteren Initiativen: Zuckerbrot Dialog[8] oder (dosiert angewendete) Peitsche auf dem legalistischen Weg (Aktivierung von Artikel 155, 116 etc.), Neuwahlen in Katalonien (unterstützt von der PSOE) usw. Die Unabhängigkeitsbewegung hat keine vergleichbaren Druckmittel zur Verfügung: Demos, Streiks, ziviler Ungehorsam etc. ja – aber im Unterschied zum Zerfall Jugoslawiens verfügt sie über keine Milizen, keine ‚internationale Unterstützung’ und Förderung usw.. Die Situation kann weiter eskalieren. Eine immanente Gefährdung bürgerlichen Regierens in Spanien kann ich zurzeit (15.10.2017) noch nicht erkennen, weil die Kräfte des Regimes von 1978 (PP, PSOE, liberale C’s etc.) weiterhin in dieser Staatskrise zusammenstehen.[9]

Zurück zur europäischen ‚radikalen Linken. Mangels Masse der Sozialdemokratie in den meisten EU-Ländern ist die frühere Orientierung der ‚radikalen europäischen Linken’ auf rot-rot-grüne und ähnliche Bündnisse in der nächsten Zeit unrealistisch. Wie weit sich die ‚radikale Linke’ als ‚Korrektiv’ zu den anderen avisierten Bündnispartnern dabei auch immer verbiegen wollte – das ‚linke’ Juniorpartner-Modell ist tot. Die andere Variante – sich als ‚linkspopulistische Bewegung’ (nach lateinamerikanischen Vorbildern) breiter aufzustellen, die Sozialdemokratie dabei zu überflügeln und als ‚linke Regierungsalternative’ die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verschieben (z.B. Syriza, Unidos Podemos, Mélenchons La France Insoumise etc.) – klappte bisher auch nicht. Auch die ‚Linkspopulisten’ (siehe z.B. UP etc.) wollen – wie die linken Realos und Pragmatiker anderswo – am Ende eher ‚normale’ Koalitionen mit Sozialdemokratie, Sozialliberalen, Grünen etc.; auch nur als Juniorpartner.

Die ‚neue Opposition’: schwache Sozialdemokratie

Susan Watkins, die Herausgeberin der New Left Review, bezeichnete die ‚neuen Oppositionsbewegungen’ (z.B. Sanders in den USA, Corbyn in Großbritannien, Mélenchon in Frankreich, Podemos in Spanien, Beppe Grillo in Italien) als ‚schwache Sozialdemokratie’: „Die NATO respektieren, gegen Austerität, für öffentliche Investitionen (und sehr vorsichtig) für öffentliches Eigentum, Skepsis gegenüber dem ‚Freihandel’“[10] – das eint diese Formationen. Dies vergleicht sie mit den deutlich weiter gehenden Zielen der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert. Perry Anderson[11] gab der EU-Linken folgenden Rat: „Für die linken Bewegungen gegen das System in Europa ergibt sich aus den Erfahrungen der letzten Jahre eine eindeutige Lehre: Wenn sie nicht von den Rechten abgehängt werden wollen, können sie es sich nicht leisten, das bestehende System weniger radikal anzugreifen als diese. Zugleich muss ihre Opposition kohärenter werden. Und sie müssen von der Wahrscheinlichkeit ausgehen, dass die heutige EU als neoliberales Konstrukt sich nicht mehr von innen reformieren kann.“

Soweit – gut gebrüllt, Löwe. Was wären dann die Fixpunkte für eine ‚kohärente linke Opposition’ zum EU-System, die diese popularisieren und handlungsfähig machen?

Der Diskurs vieler Formationen der EU-Linken dazu war bisher: Wenn wir die Regierungsmacht erobern, würden wir dies und jenes sozialer und ökologischer machen, ‚zivilen Ungehorsam’ gegenüber neoliberalen EU-Vorgaben organisieren, Demokratie und Volkssouveränität dabei stärken. Eine umfassendere ‚systemische’ Vision fehlt sowohl für die nationale wie die europäische Ebene. Die europhilen linken Kräfte glauben daran, dass sie im Bündnis mit ‚Zentristen’ wie dem noch amtierenden Präsidenten der EU-Kommission Jean Claude Juncker oder mit Macron die EU ‚sozial, ökologisch, friedlich’ reformieren könnten.

Die EU rückt nach rechts

Der Zug fährt aber in die andere Richtung: Ausbau der Festung Europa, Verschärfung des Grenzregimes (auch innerhalb des Schengen-Raums), Förderung der Rüstungsindustrie, Erhöhung der Militärausgaben auf die NATO-Vorgabe von zwei Prozent des BIP, Stärkung der militärischen Kapazitäten der EU (‚Verteidigungsunion’), weitere Investitionsschutz- und Handelsabkommen im Schnellverfahren (Japan, Neuseeland, Australien usw.). Über diese Projekte der Weiterentwicklung der EU herrscht weitgehend Konsens zwischen den Regierungen ihrer Mitgliedstaaten, einschließlich der ‚illiberalen Demokratien’ Polens, Ungarns und Bulgariens. Junckers Vision von einer EU mit einer Geschwindigkeit – nach dem Brexit sollen alle Mitgliedstaaten zügig den Euro einführen – sie wird nicht kommen. Macrons Vorschläge zur Reform der Eurozone werden von vielen Regierungen abgelehnt. Die neue deutsche Bundesregierung – ob Jamaika oder doch wieder Große Koalition – wird sich bemühen, dass der französische Präsident sein Gesicht wahren kann, um die deutsch-französische Achse wieder zu beleben. Substanzielle Fortschritte in dieser Frage sind aber kaum zu erwarten – die EU wird sich bei diesen kontroversen Themen weiter durchwursteln. Ob Junckers ‚one speed EU’ oder Macrons (und Merkels) EU der verschiedenen Geschwindigkeiten – links und emanzipatorisch ist beides nicht. Unter dem Strich bleibt: das politische Spektrum in Europa rückt nach rechts, bürgerliches Regieren in den Nationalstaaten und auf EU-Ebene werden davon geprägt. ‚Raue Bürgerlichkeit’ ist das ‚neue Normal’. Gegenläufige Tendenzen (wie Corbyns Labour oder Portugal) sind derzeit isolierte Ausnahmen.

[1] Klaus Dräger, „Linker Aufbruch in Europa“? – eine nüchterne Zwischenbilanz, in: Z 106 (Juni 2016), S. 32-42.

[2] Hätte Frankreich ein auch nur moderat am Verhältniswahlrecht orientiertes Wahlsystem, würden diese vier politischen ‚Unterströmungen’ einigermaßen in seinem Parlament gemäß ihrer Stärke vertreten sein. Macron und die Republikaner hätten dann trotzdem eine (rechte, wenn auch schwächere) Mehrheit. Die Krise der französischen ‚repräsentativen Demokratie’ (Mehrheitswahlrecht in der zweiten Runde der Parlamentswahl) zeigte sich später ganz offen: rund 60 Prozent der Wahlberechtigten gingen im Juni 2017 erst gar nicht wählen.

[3] CDU bundesweit 26,8 Prozent; CSU bundesweit 6,2 Prozent; CSU in Bayern 38,8 Prozent. Verluste für CSU von 10,5 Prozent, für CDU von 7,4 Prozent.

[4] Auch die Kommunisten verloren 1,6 Prozent gegenüber ihrem Kommunalwahlergebnis von 2013 (von 11,1 Prozent auf 9,5 Prozent; Parlamentswahl 2015: 8,3 Prozent) und viele Bürgermeisterposten in ihren vormaligen Hochburgen. Der Linksblock stagnierte auf seinem schlechten Kommunalwahlergebnis von 2013 (3,3 Prozent; bei der Parlamentswahl 2015: 10,2 Prozent). Daraus den Niedergang des Linksblocks und der PCP abzuleiten, wäre m.E. voreilig. Kommunalwahlen folgen ihren eigenen Regeln.

[5] Damit aber weit entfernt von den 19,6 Prozent für ‚JLM’ bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl. Das Ergebnis von Mélenchons FI übertrifft allerdings das Ergebnis der vormaligen Front de Gauche (als Parteienbündnis von Parti de Gauche, PCF und anderen) in 2012 (6,9 Prozent).

[6] Nach Artikel 155 könnte die Zentralregierung das Autonomiestatut Kataloniens aussetzen, die Regionalregierung entmachten, Neuwahlen ausschreiben und zwischenzeitlich die Kommunen unter Verwaltung der Zentralregierung stellen. Nach Artikel 116 könnten Grundrechte wie Versammlungsfreiheit usw. zeitweise ausgesetzt werden.

[7] UP ist für eine Verfassungsreform hin zum ‘pluri-nationalen Staat’, aber gegen die Abspaltung Kataloniens von Spanien.

[8] Mit ihrer absoluten Mehrheit im Senat kann die PP aus ihrer Sicht allzu weit gehende föderale Reformen immer blockieren.

[9] Die schloss ja auch früher schon den Rückgriff auf repressive Maßnahmen ein. Und vor einem erneuten Bürgerkriegsszenario wie in den 1930ern haben alle Seiten Angst, vor allem die bürgerlichen und sozial-liberalen Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien.

[10] Susan Watkins, New Oppositions, in: New Left Review 98, March/April 2016, S. 27. Grillos 5-Sterne-Bewegung passt eigentlich nicht in ihr Raster – was sie in ihrem Essay selbst kritisch problematisierte.

[11] Perry Anderson, Das System Europa und seine Gegner, in: Le Monde Diplomatique, Deutsche Ausgabe, März 2017.