Interpretationen und Lesarten

Anmerkungen zu Krätkes „Zeitgenosse Marx"

von Winfried Schwarz
September 2017

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Zum 150. Jahrestag des ersten Buchs des „Kapital“ hat der VSA-Verlag einen Sammelband mit fünf aktualisierten Beiträgen von Michael R. Krätke aus den Jahren 2005 bis 2011 herausgebracht. Der Autor ist Professor für Politische Ökonomie – früher an der Universität Amsterdam und jetzt an der Lancaster University. Er setzt sich seit 1975 mit der Marxschen Theorie auseinander und hat u.a. als Berater an der Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), II. Abteilung: „Das Kapital“ und Vorarbeiten, mitgewirkt.

In den ersten drei Beiträgen diskutiert K. Leistungen (und ungelöste Probleme) von Marx auf ökonomischem Gebiet[2]. Dabei habe dieser die Ökonomie politisch und kritisch verstanden, nicht als unpolitische, abgetrennte Fachdisziplin, wie sich die heutige neoklassische Schulökonomie sieht. Ökonomie war ihm Sozialwissenschaft, welche die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ enthüllen und, nach nie aufgegebenen Plänen, die Untersuchung von Klassen, Staat und Politik, Weltmarkt usw. einschließen sollte. Marx zielte nicht auf ewige, sondern auf historisch spezifische Gesetze, die Anfang und Ende haben. K. zufolge tragen ökonomische Kategorien eine „historische Spur“. So etwa die Ware, die auch vorkapitalistisch vorkommt, aber „im Kontext“ der kapitalistischen Produktionsweise als „Produkt des Kapitals“ diskutiert wird. Die allgemeine Theorie im „Kapital“ ist „auf eine ganz besondere Weise aufgebaut“: So sind Ware und Geld nicht nur in einem bestimmten Kapitel (den ersten drei) zu finden, dort ist nur der Anfang, sondern sie werden „über viele Zwischenstationen hinweg, Schritt für Schritt, auf verschiedenen Abstraktionsebenen entwickelt“[3]. Erst im 3. Band, V. Abschnitt, werde Geld in allen seinen Funktionen durch den Kredit (in verschiedenen Formen) ersetzt und verdrängt.[4]

Die drei Kritiken bei Marx

Aus dreierlei Kritiken besteht nach K. die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie: 1. Kritik des Systems, 2. Kritik falscher Theorien und 3. Kritik des Fetischismus der Denkweise der Ökonomen. Die drei Kritiken, von Marx zwar nicht so genannt, aber gemeint, bedingen einander.

Zu 1: Kapitalismuskritik. Bereits die Darstellung der Gesetze und Grenzen des Systems ist Kritik. Sie greift die soziale Ungleichheit an, die gebraucht und immer wieder erzeugt wird. Auf der einen Seite Reichtum, auf der anderen Armut und Elend, das sind die Kennzeichen des Ausbeutungssystems. Zugleich ist es selbst destruktiv, untergräbt die menschliche Arbeitskraft ebenso wie seine eigene Naturbasis. Die Kritik weist auch die Grenzen des Kapitalismus auf und enthält die Begründung für antikapitalistische Bewegungen sowie Kritik an naivem Antikapitalismus.

Zu 2: Kritik der ökonomischen Theorien. Marx greift die gängigen ökonomischen Theorien und Lehrmeinungen an, die die Politik und öffentliche Diskussion seiner Zeit bestimmen. So kritisiert er die Quantitätstheorie des Geldes, der zu Folge die umlaufende Geldmenge die Preise bestimmt, heute noch – neomonetaristisch genanntes – Dogma der EZB. Er widerlegt die „Lohnfondstheorie“, der zu Folge Löhne nie steigen können, die These der angeblich vernichtenden Wirkung von Arbeitszeitverkürzungen auf die Industrie oder das Saysche Gesetz der Deckung von Angebot und Nachfrage, wonach Krisen gar nicht möglich sind. Marx wollte aber nicht nur falsche Auffassungen kritisieren, sondern auch „innerhalb des bürgerlichen Fachstandpunkts“ bessere, richtige Erklärungen liefern, welche die klassischen Ökonomen übertreffen und ihre offenen Probleme lösen, quasi als ein „Vollender“ der klassischen Ökonomie. Dabei produzierte er seinerseits neue, bis heute unzureichend gelöste Probleme. K. nennt u.a. das so genannte Reduktionsproblem (komplizierte und einfache Arbeit bei der Wertgröße), die Werttheorie (Marktwert, individueller Wert, Veränderung der Wertgröße fertiger Waren, Preise ohne Wertbasis), Grundrententheorie (absolute Rente) oder generell die fragmentarische Geld- und Kredittheorie. Das so genannte Transformationsproblem gehöre nicht dazu, weil es mathematisch lösbar sei. K. verspricht: „Zu den ungelösten Problemen ... werden wir auch noch kommen. Nicht in diesem Band, aber in einem folgenden“. Er folgert: Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist als „unvollendetes Projekt“ ernst zu nehmen.

Daher prüft K., ob heute eine Fortführung der Kritik der politischen Ökonomie existiert. Er diskutiert Ansätze kritischer Ökonomen, die im Gegensatz zur Lehrbuchökonomie stehen, welche sich längst von Arbeitswerttheorie und sogar Grenznutzentheorie verabschiedet hat, aber 90 Prozent der weltweiten Universitäten beherrscht. Die Strömungen nennen sich explizit politische Ökonomien. Ihre Renaissance findet außerhalb der Fach-Ökonomie statt – primär unter angelsächsischen Politologen. Drei große akademische „Subdisziplinen“ bzw. „Spielarten“ gibt es: Neue Politische Ökonomie, Internationale Politische Ökonomie (IPE) und Komparative Politische Ökonomie (CPE).

Ein neues Paradigma ökonomischen Denkens hätten sie aber nicht hervorgebracht. Theoretisch stehen alle Drei der neoklassischen Orthodoxie hilflos gegenüber und akzeptieren sie. Marx spielt für sie keine Rolle; Aktualisierung seiner Theoriekritik ist nicht in Sicht, obwohl dringend nötig, schon um die gegenwärtige Finanzkrise zu analysieren oder Dogmen wie die vom unbezahlbaren Sozialstaat oder der Belastung kommender Generationen durch Staatsschulden zu widerlegen.

Zu 3: Kritik verkehrter Denkformen: Die Ökonomen unterliegen einer „fetischistischen Denkweise“, einer „Alltagsreligion“, welche die bestehenden Verhältnisse als natürliche und ewige auffasst. Sie glauben an die Fähigkeit von Kapital oder gar Finanzpapieren, Werte zu schaffen, und dass der Markt, wenn er nur nicht behindert wird „immer Recht“ hat und „Sachzwänge“ erzeugt. K. warnt auch vor „Nachkriegs-Exegeten“, die nur die dritte Kritik kennen und über Fundamentalkritik ökonomischen Denkens an sich nicht hinauskommen und Marx in einen „zahnlosen Philosophieprofessor“ verwandeln.

Problematischer Begriff von der Marxschen Methode

Jetzt zu Punkten, mit denen ich nicht übereinstimme. Es sind zwei, beide im Unterkapitel „Die Eigenart der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie“.

Bereits in der Einleitung zum Sammelband warnt K. davor, die Eigenart von Marx in seiner „Methode“ zu sehen. Der anfängliche Versuch einer „streng dialektischen Darstellung“ des Systems der ökonomischen Kategorien „scheiterte“. Marx musste die Kritik von der „philosophischen Form à la Hegel“ befreien. Er habe bald erkannt, dass der Kapitalismus nicht aus sich selbst heraus erklärbar ist, sondern auf historischen Voraussetzungen gründet. Marx musste akzeptieren, dass mit der Existenz des freien Lohnarbeiters eine „historische Tatsache“ hereinkommt, die dem System vorausgesetzt ist. K. zitiert den berühmten Satz von Marx: „Es zeigt sich an diesem Punkt bestimmt, wie die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt.“ Daher befreite sich Marx vom „Joch des ‚dialektischen‘ Schemas“ durch die „große Planänderung von 1863“, wo er die bislang leitende methodische Unterscheidung zwischen Kapital im Allgemeinen und vielen Kapitalien (Konkurrenz) fallen lässt. Denn der adäquate Kapitalbegriff sei „nicht ohne einen entwickelten Begriff der Konkurrenz zu haben“. Die Planänderung sei ein Beispiel für gelungene Lösungen selbstverursachter Probleme, die aus der „kritischen Neufassung“ ökonomischer Theorien resultierten. Soweit K.

Dazu: Was die „Grenzen“ der dialektischen Darstellung betrifft, so hatte Marx diesen Satz bereits vier Jahre (!) vor jener Planänderung formuliert, und er bedeutet ja auch keineswegs, dass eine „dialektische Form der Darstellung“, die ihre Grenzen kennt, falsch ist. Ich pflichte bei, dass Marx in das „Kapital“ zahlreiche Kategorien hereingenommen hat, die begrifflich über das ursprüngliche „Kapital im Allgemeinen“ hinausgehen, u.a. die ursprüngliche Akkumulation, aber auch den erst durch die Konkurrenz in Durchschnittsprofit verwandelten Mehrwert; und dass folglich das, was das „Kapital im Allgemeinen“ meinte, nicht mehr das gesamte „Kapital“ umschließt. Aber das heißt mitnichten, dass die unter diesem Begriff vollzogene Abstraktion verschwunden ist. Diese besteht ja darin, den Mehrwert zunächst (zwei Bücher lang!) „unabhängig von seinen besonderen Formen“, die erst in der Konkurrenz entstehen, zu betrachten. Marx wirft auch nach der Planänderung die besonderen Formen nicht mit ihrem allgemeinen Gesetz zusammen. Im Brief an Engels vom 24. 08. 1867 (MEW 31, 326) nennt er als das „Beste an meinem Buch“ „zweitens“ die Behandlung des Mehrwerts als solchen. Daraus muss man schließen (ich tue das), dass in der „Eigenart der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie“ eine spezifische Methode der Darstellung (Marx 1873: „dialektische Methode“) durchaus ihren Platz hat.

Das andere, das zum „Besten an meinem Buch“ gehört, ist der „Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt“. Im „Kapital“ wirft Marx der „politischen Ökonomie“ vor, dass sie „niemals auch nur die Frage gestellt hat, warum … sich … die Arbeit im Wert“ darstellt“ (MEW 23, 95). Sie „versieht“ die Wertform des Arbeitsprodukts als „ewige Naturform“ und übersieht dadurch notwendig das „Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw.“ Diese Sätze sind m.E. die prägnantesten Formulierungen des spezifischen Erkenntnismangels der Ökonomen vor Marx einerseits und der besonderen Tragfähigkeit seines eigenen Ansatzes andererseits, der zu Recht „historisch-spezifischer“ genannt werden kann und wird.[5]

Entgegen diesen Vorstellungen ist für K. die historisch-spezifische Betrachtung des Kapitalismus keineswegs eine Marxsche Besonderheit. Vielmehr hätten „kritische Ökonomen lange vor ihm den historischen Charakter der ökonomischen Gesetze des modernen Kapitalismus klar gesehen und mit dem Wahn, sie als Naturgesetze der Produktion aufzufassen, gebrochen“. Wenn dies stimmt (und die dialektische Methode ohnehin passé ist), klingt seine Schlussfolgerung plausibel: „Das ‚Geheimnis der kritischen Auffassung‘ (von Marx; W.S.) lag nicht dort, wo es die Marxisten vermuten: Nicht bei der Dialektik, nicht beim Standpunkt der Arbeiterklasse, sondern in der konsequenten Fortführung und Berichtigung der mangelhaften Analysen und Systemversuche, die die früheren Ökonomen hinterlassen hatten.“ Von „kritischer Neufassung“ ist hier keine Rede mehr: Marx ein bloßer, wenn auch konsequenter „Berichtiger“ der Mängel früherer Ökonomen? So viel Kontinuität, so wenig Bruch – das ist starker Tobak (muss aber nicht von vorneherein falsch sein). Worauf gründet K. seine These? Was sind das für „kritische Ökonomen“?

In der Tat bescheinigt Marx 1863 dem Ökonomen Richard Jones (nur ihm!), in einer Schrift von 1852 „die bürgerlichen Produktionsverhältnisse als bloß historische aufzufassen“ (MEW 26.3, 421). Jones halte „keineswegs das Kapitalverhältnis für ein ewiges Verhältnis“, sondern für eine „historisch vorübergehende Notwendigkeit“. Diese Schlussfolgerung zieht Marx aus Jones’ Erkenntnis, dass der Kapitalist die Arbeit mit dem Arbeitslohn kauft, den der Arbeiter selbst produziert hat. Damit stoße er, so die Interpretation von Marx, auf die für das Kapitalverhältnis konstitutive Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln, wenn er auch, wie Marx anmerkt, die Trennung als den „eigentlichen Bildungsprozess des Kapitals“ nicht darstellt. Das bedeutet m.E. wirklich nicht, dass Jones seine Einsicht als neuen, historischen Gesamtansatz begreift. Trotz des großen Lobs, mit dem er von Marx bedacht wird, ist Jones’ historischer Blick auf den genannten Sachverhalt begrenzt; diesen sieht er zwar, aber er ordnet ihn nicht theoretisch ein, begreift ihn nicht. Es ist Marx, der Jones vor dem Hintergrund seiner eigenen Kapitaltheorie entsprechend interpretiert, und ihn – nebenbei – schon auch mal als „befangen im bürgerlichen Fetischismus“ bezeichnet.

Deshalb kann ich K.s Auffassung nicht teilen, Ökonomen wie Richard Jones (dem er, ohne Beleg bei Marx, noch James Steuart und Sismondi zufügt[6]) hätten den historischen Charakter des Kapitalismus „klar gesehen“. Das ist eine Überinterpretation, auch wenn das Thema selber weitere Beachtung verdient.

Produktives zur Marx-Engels-Forschung

Den vierten Beitrag im Sammelband halte ich für den wissenschaftlich besten, da seine Ergebnisse die Marxforschung und die MEGA-Edition (vor allem des 3. Buchs des „Kapital“) bereichern bzw. schon bereichert haben.

In „Marx als Wirtschaftsjournalist“ geht K. der bis dato wenig untersuchten Frage nach, welche Erkenntnisse aus der Arbeit für die Zeitungen, insbes. die „New York Tribune“ (1852-1862), in die „Kritik der politischen Ökonomie“ eingeflossen sind, d.h. im „Kapital“ verarbeitet wurden oder nicht. Marx wurde in jenen zehn Jahren ein Wirtschaftsjournalist von europäischem Ruf für Finanz- und Geldfragen. Als Schwerpunkte macht K. aus: 1. Lage der Arbeiter und Fabrikgesetze; 2. Weltmarkt und Kolonien; 3. Geld- und Kreditwesen; 4. Weltwirtschaftskrisen; 5. Staatsfinanzen. Der erste Punkt ist unmittelbar einsichtig, wenn man an das Kapitel „Der Arbeitstag“ denkt. Das meiste Material aus der journalistischen Arbeit ist aber im 1863-65 verfassten Manuskript zum 3. Buch des „Kapital“ enthalten, in dem von Engels redigierten Abschnitt über das zinstragende Kapital. Darin eingegangen sind u.a. Analysen des britischen Banksystems, der Streit zwischen Currency- und Banking School, die Kritik an der Quantitätstheorie des Geldes, das Schicksal des Bank Acts von 1844, das Verhältnis zwischen metallischer Geldzirkulation und Kreditsystem[7] usw. Da Marx den vollen Krisenzyklus 1847/48 bis 1857/58 mitverfolgte, bilden seine Artikel eine erstrangige Quelle für jeden, der den Umfang der von Marx gemeinten Krisentheorie erfassen will. Kurz: Die journalistischen Arbeiten sind zum Teil unmittelbare Quellen für das „Kapital“ und zum Teil wertvolle Ergänzungen.

Im letzten Beitrag: „Gibt es ein Marx-Engels-Problem?“ will K. begründen, dass Engels die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie nicht verfälscht hat. Seit Engels‘ 1895 verfasstem „Nachtrag“ zum 3. Buch des „Kapital“, worin er die einfache Warenzirkulation als historisch selbständige einfache Warenproduktion auffasst[8], wurde ihm immer wieder die wissenschaftliche Kompetenz abgesprochen. Vor allem wurde ihm nicht zugetraut, das einzige Marxsche Originalmanuskript für das 3. Buch aus den Jahren 1863-65 in einen fertigen Text den Marxschen Intentionen gemäß zu redigieren. Seit der Publikation des Originalmanuskripts in der MEGA II/4.2 (1993, erneut 2012) können beide Texte verglichen werden. Schnell wurde der Vorwurf laut, Engels habe Marx nicht wortgetreu und außerdem sinnentstellt wiedergegeben.

Was die wortgetreue Wiedergabe betrifft, so betont K., dass Engels nie eine historisch-kritische Ausgabe mit abgetrennten Kommentaren und Ergänzungen plante; er wollte ein lesbares Buch, in dem „die Gesamtlinie der Beweisführung klar und plastisch herauskommt“ (Engels an Danielson 1889). Das war zwangsläufig nicht ohne eigene Redaktion möglich. Denn „bei diesem Manuskript handelte es sich um einen unfertigen Entwurf“, der sich über weite Strecken noch im Stadium einer Materialsammlung befand, besonders die Partien über zinstragendes Kapital, Kredit und Banken. Engels entschied sich dafür, das Original so wenig wie möglich zu verändern und seine Ergänzungen, Erläuterungen und Zusätze als solche auszuweisen. Seine Interventionen sind K. zu Folge „überwiegend, nämlich 9/10, auch als solche gekennzeichnet, etwa 1/10 nicht“.

Was Sinnentstellungen betrifft, so erwähne ich hier die Einführung zu MEGA II/14 von 2003, die mit höchster Akribie und Ernsthaftigkeit sämtliche Änderungen, die Engels an der Textgrundlage vornahm, nicht nur klassifiziert und dokumentiert, sondern auch in Beziehung zu den Marxschen Intentionen, soweit diese erkennbar sind, stellt. Offenkundige Abweichungen von diesen werden nicht verschwiegen, sondern zu erklären versucht.

K. kennt diese Leistung der MEGA-Editoren sehr wohl und geht selber explizit nur auf Michael Heinrich ein, der 1996 einige Engels’sche Texteingriffe nicht nur als die Marxschen Intentionen verfälschend, sondern auch zu schwerwiegenden Folgen für das 3. Buch insgesamt führend interpretiert hatte. Einen herausragendes Beispiel war für Heinrich der Engels’sche Einschub des Wortes „eingehend“ in den ersten Satz von „Kredit und fiktives Kapital“ (25. Kapitel). Im Original des Manuskripts heißt es nämlich: „Die Analyse des Kreditwesens … liegt außerhalb unsers Plans“; durch Engels wurde daraus „die eingehende Analyse des Kreditwesens …“, suggerierend, dass bei Marx der Kredit nicht gänzlich außerhalb, sondern zu gewissem Umfang auch innerhalb seines Plans gelegen habe. Weil Engels aber aus dem vorliegenden Material zum Kreditwesen einen ganzen, nämlich den V. Abschnitt des 3. Buchs machen wollte, sah er sich zu diesem relativierenden Einschub gezwungen. Das Kreditwesen gehörte aber nach Heinrich systematisch nicht in das 3. Buch des „Kapital“, so dass Engels der Marxschen Intention zuwider gehandelt hat.

K. gibt grundsätzlich zu Bedenken, dass der Marxsche Forschungsprozess 1863-65 nicht abgeschlossen war und Marx in seinen Intentionen auch nicht immer klar und eindeutig gewesen ist. Vielmehr habe er seine Pläne oft und plötzlich geändert, und er sei 1863-65 in vielen Punkten auch theoretisch noch nicht fertig gewesen. Warum habe er sonst bis fast zu seinem Tode „moderne Geld- und Kreditverhältnisse, die Banken und die Finanzmärkte in verschiedenen kapitalistischen Ländern“ studiert sowie die „Bildung von Grundrenten und Bodenpreisen“?[9] Engels war durchaus berechtigt, „Regieanweisungen des Autors Marx an die eigene Adresse cum grano salis zu nehmen“; auch die zahlreichen „Das gehört nicht hierher. Das behandeln wir später“. Auch und gerade beim V. Abschnitt über zinstragendes Kapital und Kredit war Marx „unentschlossen“. Anders als die anderen Themen des 3. Buchs waren zinstragendes Kapital und Kredit in keinem Manuskript davor behandelt worden. An die Adresse Heinrichs geht Ks. Feststellung, dass Engels seit 1868 wusste, dass „Marx in der Tat geplant hatte, die Darstellung des Kredits erheblich auszuweiten“. Hier kann sich K. auf eine eindeutige Äußerung von Marx stützen, der am 30. April 1868 (MEW 32, 74) Engels den aktuellen (und letzten!) Plan für „Buch III“ mitgeteilt hat. Ausdrücklich, und zum ersten Mal in einem Planentwurf, bildet das Kreditwesen einen seiner Bestandteile, nämlich unter „V.“: „Das zinstragende Kapital. Das Kreditwesen“. Diesen Brief hatte Engels in den 1890er Jahren nicht vergessen, als er das Kreditwesen aus dem 3. Buch nicht eliminierte, sondern sich daran machte, das Marxsche Material dazu in eine lesbare Form zu bringen.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Auswahl der Arbeiten Krätkes in dem Sammelband geglückt ist, soweit das bei einem Autor mit einem derart breiten Themenspektrum möglich ist.

[1] Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf Michael R. Krätkes soeben erschienenes Buch „Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx“, VSA-Verlag Hamburg 2017, 248 Seiten, EUR 19,80.

[2] Den dritten, umfangreichsten Beitrag hatte er bereits unter dem Titel „Erneuerung der Politischen Ökonomie – Wo Marx unersetzlich bleibt“ in Z 70 (Juni 2007), S. 123ff, veröffentlicht.

[3] Der kategoriale Gang durch unterschiedliche Abstraktionsstufen ist m.E. ein Wesensmerkmal der Methode im „Kapital“. Darum ist K.s Bemerkung missverständlich: „Die im Marxismus verbreiteten Beschreibungen der Marxschen Darstellungsweise sind alle falsch. Am weitesten daneben liegt das … Modell eines Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten“. (S. 114) Da diese Behauptung nicht begründet wird, wäre sie besser unterblieben.

[4] Siehe dazu Fußnote 7.

[5] Dass die Produktionsweise nicht eine natürliche, sondern vergängliche ist, ist der rationale Kern der höchst missverständlich popularisierenden Redeweise vom „Standpunkt der Arbeiterklasse“ als Erkenntnisbefähigung.

[6] Flüchtigkeitsfehler kommen immer wieder vor. Ich rechne den für James Steuart und Sismondi angegebenen Beleg („MEGA II/3.5, S. 1835“), der sich bei Marx im Original auf Richard Jones allein bezieht, dazu.

[7] K. hält die Marxsche Position gesetzmäßiger Konvertibilität von Kredit in Gold und Silber für nicht hinreichend begründet. Allerdings führt er diese Kritik nicht aus und lässt offen, ob er den Ersatz von Metallgeld durch Kredit nur für die Aufwärtsphase eines Zyklus gelten lässt, wie Marx das offenbar tut, oder ob er den Ersatz des Metallgeldes historisch meint. Beide Standpunkte sehe ich bei K. nicht immer klar getrennt.

[8] K. nennt das Engels’sche „Konstrukt“ zwar gleichfalls „fragwürdig“, hält aber solche Historisierungen für „bei Marx klar angelegt“, was wiederum mit dessen „Entwicklungsmethode“ zusammenhänge, welche die „Logik historischer Entwicklungen“ analysiere. Die alte Streitfrage nach der Rolle des Historischen in der Darstellung will ich (W.S.) hier nicht diskutieren. K. weist im Übrigen darauf hin, dass Engels den „Nachtrag“ nicht als Abschluss des 3. Buchs des „Kapital“ publiziert hat, sondern ihn separat für die „Neue Zeit“ plante. Von einer Interpretation des ersten Abschnitts des 1. Buchs des „Kapital“ habe er „mit keinem Wort“ gesprochen.

[9] Eigene Anmerkung: Wenn der Forschungsprozess nicht abgeschlossen war, wäre dann die Frage, ob das Manuskript von 1863-65 den Marxschen Positionen (in seinen letzten Lebensjahren) überhaupt gerecht wird, nicht wichtiger als die Frage, ob Engels es richtig verstand?