Buchbesprechungen

Kluges Kapital?

von Johannes Stier zu Alexander Kluge
März 2010

Alexander Kluge, Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital, Frankfurt am Main, filmedition Suhrkamp 2008, 570 Min., 3 DVDs und ein Begleitheft, 64 S, 29, 90 Euro.

Nachdem der Regisseur Sergej Eisenstein im Jahre 1929 seinen Film „Oktober“ abgedreht hatte und nun im Schneideraum vor 60 km belichtetem Material saß, spielte er, wie man seinen Tagebuchaufzeichnungen entnehmen kann, mit dem Gedanken „Das Kapital“ von Karl Marx zu verfilmen. Was ihm dabei vorschwebte, war nichts anderes, als eine vollkommen neue Art der Filmkunst. Angelehnt an Joyce, dessen „Ulysses“ er kurz vorher gelesen hatte, wollte er ausschließlich einen Tag im Leben eines Arbeiterpaares zeigen. Ziel sollte es sein, mit Hilfe von nicht-linearer Erzählstruktur und einer suggestiven Montage der Filmbilder dem Publikum die Geschichte und Funktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus zu erklären.

Der Autor, Produzent und Regisseur Alexander Kluge hat mit seinem Film „Nachrichten aus der ideologischen Antike“ im Jahr 2008 Eisensteins Gedanken nun wieder aufgegriffen, um den Plänen des russischen Regisseurs nachzuspüren und unter verschiedenen Gesichtspunkten die Frage nach der Aktualität der Gedanken des Kapitals in Form eines fast zehnstündigen Filmprojekts erneut zu stellen.

Aufgeteilt ist das Mammutprojekt auf drei DVDs mit jeweils einem eigenen mehr oder weniger losen Schwerpunkt. In „Marx und Eisenstein im gleichen Haus“ (DVD 1) spürt Kluge vor allem Eisensteins Notizen zu seinem nie realisierten Projekt nach. Außerdem geht es ihm um an eine Annährung an Marx „über das Ohr“, wie er selbst im Begleitheft anführt. „Alle Dinge sind verzauberte Menschen“ (DVD 2) versucht sich an einer Untersuchung des „Fetischcharakters der Ware“. Dabei bleiben Kluge und seine Filmpartner leider viel zu oft beim Fetisch stehen, ohne eben die Fetischisierung kritisch zu betrachten. Auf „Paradoxe der Tauschgesellschaft“ (DVD 3) wird versucht, wieder einen Bogen zur aktuellen Entwicklung des Kapitalismus zu schlagen.

Es ging Kluge nicht darum, einen Film über das Kapital zu drehen, noch es in welcher Form auch immer zu verfilmen. Genau so wenig sollten Eisensteins Pläne einfach nur exakt umgesetzt werden, was sich wohl auch als unmöglich erwiesen hätte. Stattdessen versammelt er unter anderem Interviews, Kurzfilme, Theater- und Opernaufführungen und filmische Miniaturen, um alles Material zu einer Art Gesamtkunstwerk zu verbinden. Das Ergebnis ist eine Kollage aus verschiedensten filmischen Schnipseln, die kaum etwas mit einer klassischen Dokumentation und noch weniger mit einem Spielfilm gemein hat.

Bei all dem bilden die verschiedenen Gespräche, die Kluge in dem Projekt versammelt hat eine immer wiederkehrende Konstante. Interviewpartner sind vor allem Menschen, mit denen der Regisseur schon seit Jahren immer wieder zusammen arbeitet. So spricht er etwa mit dem Soziologen Oskar Negt, einmal über den Revolutionsbegriff Walter Benjamins ein anderes Mal über die Frage „Wie liest man das Kapital?“ und über Karl Korsch. Bei der Menge und vor allem Länge der verschiedenen Interviews liegt es leider nahe, dass es durchaus zu Qualitätsschwankungen zwischen den Beiträgen kommt. So gehört das lange Interview mir Dietmar Dath über die Frage, ob das Kapital „Ich“ sagen kann, zu einem der Highlights der ersten DVD, während sich ab einem bestimmten Punkt eine gewisse Ermüdung beim Zuhörer breit macht, wenn er Peter Sloterdijk über eine Dreiviertelstunde beim Monologisieren folgen soll.

Wie immer bei Kluges Interviews im ersten Moment etwas irritierend ist der Stil, in dem die Gespräche geführt werden. In dem in seinen Sendungen für das private Fernsehen durch die Jahre verfeinerten Stil, lässt er auch bei den „Nachrichten aus der Ideologischen Antike“ sein Gegenüber nicht einfach auf eine gestellte Frage antworten, sondern unterbricht ihn oder sie immer wieder, ergänzt, insistiert und verlangt Präzisierungen. Was im ersten Moment ungewohnt erscheint führt allerdings so zu einer Situation, in der aufgeworfene Fragen in einem Dialog erörtert werden, dessen Ausgang wesentlich offener und freier ist, als man es im ersten Moment erwartet. Der Schwerpunkt liegt darauf, eher Fragen aufzuwerfen als zu beantworten. Begriffe werden von verschiedenen Seiten angegangen, ohne zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Leider verfolgt Kluge diese Art der Gesprächsführung nicht bei jedem seiner Interviewpartner mit der gleichen Vehemenz, was mit zu den bereits angesprochenen großen Qualitätsunterschieden bei den Dialogpassagen führt. Wenn Peter Sloterdijk über die angeblich bewiesene Natur des Menschen als Hordengeschöpf phantastisiert und mit der kruden These aufwartet, die Stärke von Marx Texten liege in ihrer Nähe zu Märchen und Sagen, wünscht man sich doch schnell jemanden herbei, der das Gespräch entweder abbricht oder seinem Gegenüber wenigstens kontra bieten würde.

Unterbrochen und unterlegt werden die Gespräche immer wieder durch Texteinblendungen und Text-Bild Montagen die das eben gesagte kommentieren und weiterführen. Diese Stellen erinnern in einer fast anachronistischen Weise an frühe Stummfilme, allerdings werden die Texte durch die Verwendung von verschiedenen Farben, Schriftarten und Formen nicht zu einem einfach herunter zu lesenden Block, der ergänzende Informationen liefert. Viel mehr erlangen die Wörter und Begriffe durch ihre Veränderung und Verfremdung eine weitere Bedeutungsebene, die sie schnell von dem vorher gezeigten löst. Hier, wie auch an anderen Stellen des Films, zeigt sich immer wieder die Stärke des Mediums DVD. Im Gegensatz zu alten Stummfilmen ist der Zuschauer und Leser nie gezwungen, seine Lesegeschwindigkeit dem Film anzupassen. Dank der Möglichkeit das Bild einzufrieren, es langsamer laufen zu lassen oder an eine bestimmte Stelle zurück zu springen kann jeder Teil Zuschauer spezifisch rezipiert werden. Dank dem neuen Trägermedium ist der Film keine der Zeit unterworfene Bilderfolge mehr, die den Betrachter zu ihrem Rhythmus zwingt.

Bei all dem währe es aber sicher interessant gewesen, wenn Kluge seine Auswahl an Gesprächspartnern noch etwas erweitert hätte. Die meisten der zu Wort kommenden sind entweder Schriftsteller oder Philosophen. An der einen oder anderen Stelle fragt man sich, ob Kluge einfach die ersten paar Gesichter der deutschen Feuilletonprominenz vor die Kamera gesetzt hat, oder welche Gemeinsamkeiten die zu Wort kommenden ansonsten verbindet. Die Einbeziehung kritischer Wissenschaftler und Marxisten anderer Fachrichtungen wäre an vielen Stellen durchaus von Interesse gewesen. An den Stellen, an denen Kluge explizit darauf eingeht, warum Marx für ihn zu einer „ideologischen Antike“ gehört entsteht so eine gewisse Inkonsistenz, welche sich durch den ganzen Film zieht: Zwar wird immer wieder die Aktualität der Gedanken des Kapitals angesprochen, doch vermeidet es der Film an fast jeder Stelle, daraus eine Politik abzuleiten. Als hätte er Angst vor den eigenen Implikationen wird zwar immer wieder betont, wie richtig Marx bei seiner Kritik des Kapitalismus lag, ohne daraus während der neun Stunden je etwas Konkretes abzuleiten oder eine politische Forderung auch nur zu formulieren. Überhaupt bleibt der Begriff „Antike“ und Marx Beziehung dazu eher diffus. Zwar ist im Vorwort des Begleithefts zu lesen „Die analytischen Instrumente von Marx sind nicht überholt“, doch wird gleichzeitig behauptet, dass Werk Marxens sei heut zu Tage „so fern […] wie eine Antike“. So wird Marxens Theorie zwar immer wieder anerkannt, gleichzeitig aber in die sichere Entfernung antiker Klassik gerückt.

Was Kluge leider nicht verhindern kann ist die Langeweile, die sich während des Schauens mit der Zeit einstellt. Wie es Eisenstein auch vorschwebte, verzichtet er auf jede Form der „Spielfilmart“, allerdings auch ansonsten auf jede Art der übergreifenden und ordnenden Erzählung. Was am Anfang noch wie eine neue und leidlich innovative Idee wirkt, ermüdet in einer Länge von mehreren Stunden leider recht schnell.

Erscheint der Verzicht auf eine lineare Struktur oder eine das Material offensichtlich ordnende Montage anfangs zwar noch wie ein interessantes filmisches Experiment, so wirkt der anscheinend ewige Reigen aus Bildern, Gesprächen und Situationen schnell redundant, willkürlich und zusammenhanglos, selbst wenn man bereit ist, sich darauf ein zu lassen.

Zwar ist es möglich und natürlich geradezu notwendig, den Film immer wieder anzuhalten und beim Sehen eine Pause zu machen, allerdings fordert selbst diese Art des Schauens in Intervallen ein hohes Maß an Ausdauer. Vieles wirkt mehr wie ein Rohschnitt, eine ungeordnete Ansammlung von Bildern und Gedanken, als das es sich zu einer kohärenten Form zusammen finden würde. Da ein rein optischer Schauwert der einzelnen Bilder an keiner Stelle angestrebt wird, bleibt das Visuelle weitgehend auf der Strecke. Weit entfernt von Eisensteins eigener Montagetheorie entsteht durch die Anordnung der einzelnen Teile und Bilder nichts Neues, sondern eben nur ein Strom von Momenten ohne Mehrwert für den Zuschauer. Zwar gibt es immer wieder spannende und interessante Stellen, die es schaffen, das Interesse des Sehers zu wecken, werden in dem einen oder anderen Interview interessante Ideen formuliert und diskutiert, das alles ist im Ganzen leider keine Entschädigung für den Großteil von scheinbar nichts sagendem Bilderstrom.

So ist Kluges Film für Cinephile vielleicht ein interessantes Experiment, in seiner Länge sicherlich ein monumentales Filmwerk. Für die meisten anderen dürfte er vor allem ein viel zu langes und erschöpfendes Sammelsurium disparater Schnipsel darstellen, bei dem es gemessen an der Menge von interessanten Teilen leider zu viel willkürlich wirkendes Füllwerk gibt.

Johannes Stier