Buchbesprechungen

Zwischen Faschismus und Sowjetsystem

von Ernstgert Kalbe zu Karl-Heinz Gräfe
September 2010

Karl-Heinz Gräfe, Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz. Die baltischen Staaten zwischen Diktatur und Okkupation, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung. Beihefte, Bd. 6, Hrsg. Werner Röhr, Berlin 2010, VII-XVII und 212 S., 25,- Euro

Der Freitaler Osteuropa-Historiker Karl-Heinz Gräfe hat sich der jüngsten Geschichte der baltischen Region zugewandt, die schon seit dem Mittelalter Objekt expansiver Konfrontationen zwischen Deutschem Orden, christlichen Kreuzfahrern und dem Hansebund war sowie die Anrainerstaaten Polen, Schweden, Russland und Preußen auf den Plan rief, wobei die Grenzen zwischen Handel und Wandel, Expansionspolitik und Kulturtransfer, religiöser Bigotterie und politischer Mordbrennerei fließend ineinander übergingen.

Da die Monografie Gräfes in der von Werner Röhr besorgten Reihe für Faschismus- und Weltkriegsforschung erschien, lag die Zentrierung auf die zeitgeschichtlichen Aspekte des 20. Jahrhunderts nahe, d.h. von der Entstehung der baltischen Staaten in Weltkrieg und Revolution, Konterrevolution und Intervention 1917/18 bis zur Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Sowjetsystem im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Damit rückte freilich der historische Sachverhalt in den Hintergrund, dass das Baltikum stets Zankapfel zwischen mächtigen Anrainerstaaten war, Schmelztiegel für äußere Einflüsse auf bodenständige Kulturen, Herrschaftsgebiet fremdländiger Oberschichten über bäuerlich Bodenstämmige, die äußere Einflüsse auf einheimische Kulturen und Lebensweise adaptierten. Das ist gewiss ein wesentlicher Aspekt für die richtige Einordnung heute teils überbordender Reaktionen auf vermeintlich fremde, namentlich russische Einflüsse, die seit Peter d. Gr., seit dem Frieden von Nystad 1721 dominierten.

Über die Souveränität der baltischen Länder wurde weder 1917 noch 1940 oder 1945 definitiv entschieden, nicht einmal seit 1990 unter EU-Kuratel bzw. mit dem EU-Beitritt dieser Staaten 2007, der sich nicht auf Augenhöhe, sondern nach den Bedingungen der acquis communitaires vollzog. Historisch betrachtet haben souveräne Baltenländer kaum existiert, bestenfalls mit gravierenden Einschränkungen im Zwischenkriegseuropa, oder wiederum nur bedingt im heutigen EU-Europa, gebunden an mancherlei unabdingbare Auflagen.

Erstmals stand die Frage nach Eigenstaatlichkeit der Baltenländer im 20. Jahrhundert, weshalb der geschichtliche Weg dorthin ein legitimer Untersuchungsgegenstand ist, den K.-H. Gräfe sachkundig und aus marxistischer Sicht analysiert. Dabei wird die lange Vorgeschichte baltischer Staatsgründungen – vor der wechselnden Okkupation und daran gebundener Kollaboration in Litauen, Lettland und Estland im 20. Jahrhundert – nur kursorisch im Vorwort gestreift, während die Zwischenkriegsregimes ausführlicher (Kapitel 1,2), die Einbeziehung in den sowjetischen Einflussbereich 1939-1941 relativ knapp (Kapitel 3), die deutsch-faschistischen Okkupationsziele kurz und bündig (Kapitel 4), das Regime von Okkupation samt Kollaboration und Massenmord in Litauen, Lettland und Estland 1941-1945 detailliert und gründlich (Kapitel 5-7), die heutige Restauration und der Geschichtsrevisionismus in den baltischen Staaten sach- und quellenkundig (Kapitel 8) aufgearbeitet werden.

Mit Recht stellt Gräfe die Frage, ob die 1990 proklamierten Republiken reale Selbständigkeit erlangten, oder ob sie nach der ‚singenden Revolution’ und der inneren kapitalistischen Restauration sowie mit dem Beitritt zur NATO und EU 2004/07 nicht zu faktischen Protektoraten der westlichen Mächte geworden sind, wofür schon die Tatsache spricht, dass Exilbalten Staatspräsidenten wurden bzw. waren: die USA-Bürger Valdas Adamkus in Litauen (1998-2009) und Toomas Hendrik Ilves in Estland (seit 2006) sowie Vaira Vike-Freibergis aus Kanada in Lettland (1999-2009). Die strategische Bedeutung des Baltikums als Anrainer und Zugang zur Ostsee (baltisches Meer) und Sperrriegel gegen Russland übersteigt bei weitem sein politisches Gewicht und reales Potenzial.

Im Rahmen der Rezension ist es nicht möglich, Materialfülle, Quellenreichtum und Detailkenntnisse des Autors zu würdigen, der erstmals eine geschlossene historische Monografie zum Untersuchungsgegenstand vorgelegt hat, die zugleich eine Chronologie wesentlicher Ereignisse 1914-1995 zum Thema, je ein Personen- und geographisches Register, ein Abkürzungsverzeichnis und Siglen wichtiger Quellenpublikationen, Kurzbiografien damals bedeutender Akteure, sechs Karten und ein dazu gehöriges Verzeichnis umfasst. Leider fehlt eine gesonderte Bibliografie der benutzten Quellen und Publikationen, wobei ausführliche Verweise im reichen Fußnotenapparat diesen Mangel teilweise kompensieren – insofern also eine lässliche Sünde.

Da es der Umfang einer Rezension verbietet, auch nur die Konturen einer Monografie von rund 500 Seiten über drei Länder nachzeichnen zu wollen, sei es gestattet, einige wenige Aspekte gesondert zu betrachten. Beeindruckend ist die knappe Darstellung der Geburt der baltischen Staaten in Revolution, Konterrevolution und Intervention 1917/18 (Kapitel 1) sowie die spätere Installierung profaschistischer Regimes in Litauen (Smetona), Estland (Päts) und Lettland (Ulmanis) und ihre sozialen Trägerschichten im 2. Kapitel; Klartext gibt es auch bei der Beschreibung des massiven politischen Drucks auf die baltischen Länder 1939/40 beim Anschluss an die Sowjetunion und die Rolle von Dekanossow (für Litauen), Wyschinski (Lettland) und Shdanow (Estland), der sich mitnichten in einer ‚Revolution’, wohl aber in Kooperation mit Hitlerdeutschland vollzog (Kapitel 3), was eine deutlich kritischere Bewertung verlangt hätte. Die im ersten Jahr der Sowjetherrschaft vollstreckten 60.000 Verhaftungen und Deportationen im Baltikum brachten dem Sowjetsystem keine politische Stabilität, stärkten vielmehr den antisowjetischen Untergrund, der seit Juni 1941 – seit dem deutschen Überfall auf die UdSSR – „zu einer starken Kollaborationskraft für die deutschen Eroberer und Besatzer“ (85) wurde.

Während Kapitel 4 die faschistischen Okkupationsziele und die Terrorpolitik des Reichskommissariats ‚Ostland’ im Baltikum (Hinrich Lohse) und das unselige Wirken der nachgeordneten Generalkommissare für Estland, Lettland und Litauen (Litzman, Drechler, von Renteln) material- und faktenreich beschreibt, bieten die nachfolgenden Kapitel 5, 6 und 7 – der Hauptteil des Buches – ein beeindruckendes und detailliertes Bild über Okkupation, Kollaboration und Massenmord in Litauen, Lettland und Estland unter deutsch-faschistischer Besetzung 1941/1945, deren konkreter Verlauf und umfangreiches Faktenmaterial hier nicht ausgebreitet werden können, dem Rezensenten indessen Respekt vor dem Fleiß und der Detailkenntnis des Autors abverlangen.

Die unmenschlichen Vernichtungsaktionen, vor allem gegen die Juden, die auch mit Hilfe einheimischer Kollaborateure vollzogen wurden, entlarven die inzwischen üblichen Versuche, den Terrorvorwurf gegen die Sowjetunion zu kanalisieren. Dem stellt der Autor eine eindrucksvolle Bilanz der faschistischen Massenverbrechen und der Judenvernichtung in den drei baltischen Regionen gegenüber: in Litauen über 660.000 Menschen, darunter 200.000 Juden; in Lettland ca. 100.000 Menschen, etwa 80.000 von 93.000 Juden, plus 200.000 Deportierte aus anderen Ländern sowie 300.000 sowjetische Kriegsgefangene; in Estland nach noch unvollständigen Angaben – gewiss zu niedrig veranschlagt – bis zu 30.000 Menschen. Mit diesen Zahlen sind weder die in den Kämpfen gefallenen deutschen oder sowjetischen Soldaten erfasst; allein für Litauen werden 138.000 gefallene Sowjetsoldaten angegeben.

Angesichts der genannten Opferzahlen wirkt eine heute übliche Gleichsetzung der Verluste an Menschenleben während der sowjetischen und faschistischen Herrschaft im Baltikum als wissentliche und böswillige Blasphemie. Der einseitige Vorwurf des ‚Genozid’ oder des ‚Holocaust’ im Baltikum an die Adresse der Sowjetunion soll einerseits faschistische Verbrechen relativieren und die daran Mitschuldigen reinwaschen und andererseits erneut ein politisch antisowjetisches bzw. antirussisches Potenzial aufbauen.

Auch wenn jedes unschuldige Menschenopfer zu viel ist, können die 660.000 litauischen Opfer der faschistischen Okkupation nicht mit den ca. 22.000 Opfern der sowjetischen Besetzung 1940 und einer gewiss mehrfachen Zahl von Repressierten in den Nachkriegsjahren (1945-1953) gleichgestellt werden, die zumeist in dieser oder jener Form Mitträger und Mittäter der faschistischen Regimes waren.

Karl-Heinz Gräfe enthüllt diese und andere Formen der aktuellen ‚Wiederaneignung von Geschichte’ im Baltikum, die die Verstrickung in faschistische Kriegsverbrechen relativieren, eigene Demokratietraditionen überhöhen, die heutige Westanbindung legitimieren und den gegenwärtigen Antirussismus und Antisowjetismus begründen sollen.

Was aber hat der Entzug des Wahlrechts für heutige russlandstämmige Staatsbürger in Estland (ca. 35 Prozent), in Lettland (44 Prozent) oder in Litauen (ca. 8-10 Prozent) mit Demokratie oder Bürgerrechten zu tun?

So versteht sich das letzte, 8. Kapitel der Monografie von Gräfe als Warnung vor den Gefahren gesellschaftlicher Restauration der Vergangenheit und des aktuellen politisch motivierten Geschichtsrevisionismus.

Ernstgert Kalbe