Griechenland: Aus Niederlagen lernen

von Z-Redaktion
September 2015

Die Erklärung des Brüsseler EU-Gipfels vom 12.Juli 2015, die Grundlage des marktradikalen Austeritäts- und Umbauprogramms für Griechenland, lässt keinen Zweifel, worum es bei den Auseinandersetzungen vor allem geht: Es geht um die Delegitimierung und Beseitigung einer linken Regierung. „Die Zeit“ (16.7.2015) formuliert: „Auch wenn das niemand offen ausspricht: Tsipras‘ Niederlage musste so deutlich ausfallen, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken.“ Schon der erste Satz der Erklärung ist unmissverständlich: Voraussetzung für zukünftige Programme sei, dass „das Vertrauen in die griechische Regierung unbedingt wiederhergestellt werden muss“[1]. Nicht das Vertrauen der griechischen Bevölkerung zählt (dieses wurde durch das Referendum vom 5.Juli eindrucksvoll bestätigt), sondern das der ‚Institutionen‘, das wiederum Voraussetzung des Vertrauens der Finanzmärkte ist. Frei nach Brecht könnte man fragen: Wäre es da nicht doch einfacher, die Institutionen lösten die griechische Regierung auf und wählten eine andere? In Kauf genommen wird die offene Missachtung demokratischer Prinzipien. Die „NZZ“ (18.7. 2015) schreibt: „Die Beschlüsse des Euro-Gipfels und des Parlaments in Athen haben den Volkswillen definitiv ad absurdum geführt.“ Das EU-Mitglied Griechenland ist de facto politisch weitgehend entmündigt und auf den Status eines Protektorats herabgedrückt worden

1. Gemessen an den Zielen der Syriza-Regierung und dem Referendum ist die Vereinbarung vom 12. Juli eine bittere und schwere Niederlage. Allerdings hatten die EU-Institutionen bis Anfang August (Redaktionsschluss von Z 103) ihr Hauptziel, die griechische Linksregierung zu beseitigen bzw. in eine Regierung der ‚nationalen Einheit‘ oder ‚Expertenregierung‘ umzuwandeln und von einem Teil ihrer Anhänger zu entfremden, noch nicht erreicht. Sicher ist aber, dass der erst begonnene langwierige Verhandlungsprozess von den ‚Institutionen‘ mit genau dieser Zielsetzung weiter geführt werden wird.

2. Die Spar- und Umbauprogramme, die Griechenland aufgezwungen werden, entbehren jeder ökonomischen Logik. Ob sie geeignet sind, die Schuldenlast zu mildern bzw. die Schuldenrückzahlung zu sichern, scheint für die EU irrelevant zu sein. Die Beobachtung Varoufakis‘, dass ökonomische Argumente, die die griechische Seite vorbrachte, selbst in den technischen Verhandlungen keine Rolle spielten („ich hätte auch die schwedische Nationalhymne singen können“), überrascht nicht. Die ökonomische Inkonsistenz des Programms wird nicht nur durch widersprüchliche Angaben von IWF und EU zur Tragfähigkeit der Schulden belegt. Während es angeblich die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands erhöhen soll, führen die massive Erhöhung der Mehrwertsteuer im Fremdenverkehrsgewerbe und die zusätzliche Besteuerung der Landwirtschaft zum genauen Gegenteil. Während die Banken am Randes des Zusammenbruchs stehen, lässt die EU beschließen, dass in Zukunft Bankkonten über 100.000 Euro (oft gehalten von mittelständischen Unternehmen zur Bezahlung von Gehältern und Lieferungen) zur Sanierung der Banken herangezogen werden können, was den Abzug von Bargeld beschleunigen wird.[2] Völlig absurd auch die Verplanung der 50 Milliarden Euro, die die Privatisierung angeblich erbringen soll. Diese Zahl ist illusorisch – Erfahrungen sowohl aus Griechenland wie aus anderen Ländern zeigen, dass Privatisierungen meist nur Bruchteile der geplanten Erlöse bringen.

3. Aus ökonomischer Sicht gleichermaßen inkonsistent ist die Haltung der EU, insbesondere des deutschen Finanzministers, zur Frage des Schuldenschnitts, der eine zentrale Voraussetzung für die Gesundung der griechischen Wirtschaft wäre. Während ansonsten für Sparpolitik geworben wird mit dem Argument, Staatsverschuldung gefährde das Vertrauen der Finanzmärkte und schrecke Investoren ab, scheinen im griechischen Falle Verschuldungsquoten von bis zu 200 Prozent des BIP[3] kompatibel zu sein mit Wirtschaftswachstum. Es ist klar, dass sich Griechenland mit einer Schuldenlast, die trotz Zinserleichterungen und Fristverlängerungen jährliche Brutto-Finanzierungsbedürfnisse von mehr als 15 Prozent des BIP beinhaltet (der IWF hält maximal 15 Prozent für tragfähig), nicht allein refinanzieren kann. Dies bedeutet, dass das Land in den nächsten Jahrzehnten unter der Kuratel der ‚Institutionen‘ bleiben wird. Ökonomisch wäre ein Schuldenschnitt (wie er derzeit z.B. für die Ukraine verhandelt wird) für Griechenland die sinnvollste Lösung. Wenn einige EU-Länder unter deutscher Führung diesen Schritt verhindern, hat das hauptsächlich den Zweck, die griechische Linksregierung weiter an die Wand zu drücken, sie möglichst zu stürzen und die alten Eliten wieder ans Ruder zu bringen.

4. Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum verständlich, wenn Linke in dem Programm eine Wachstumskomponente entdecken, die Griechenland die Möglichkeit bieten würde, „wieder auf die Beine zu kommen“[4]. Die in der EU-Erklärung in Aussicht gestellte Mobilisierung von „bis zu 35 Mrd. EUR“ für die kommenden „3 bis 5 Jahre“ (das unverbindliche „bis zu“ erinnert an Preisaktionen von Baumärkten) ist angesichts der beschlossenen Kürzungen nicht nur unzureichend, sondern bezieht sich auch auf Gelder, die Griechenland ohnehin zustehen.[5] Die einzige zusätzliche Leistung besteht in der Aufstockung der Vorfinanzierung um „1 Mrd. EUR“. Unrealistisch auch die Hoffnung auf Milliardeneinnahmen (12,5 Mrd.) für Investitionen aus Privatisierungen – wann und wie viel daraus erlöst werden kann, steht in den Sternen.

5. Dazu kommt eine katastrophale Auflage des Brüsseler Papiers: Wenn es trotz der Sparprogramme zu „Abweichungen von ehrgeizigen Primärüberschusszielen“ kommen sollte, dann sollen „quasi-automatische Ausgabenkürzungen eingeführt werden“. Selbst der IWF hält die Annahme, Griechenland könne ab 2018 einen Primärüberschuss (Haushaltsüberschuss vor Schuldendienst) von 3,5 Prozent des BIP erzielen, für kaum erreichbar.[6] Dem Papier zufolge wären automatische Ausgabenkürzungen also vorprogrammiert. Diese würden zuallererst die Investitionshaushalte treffen.

6. Darüber hinaus ist es einseitig, das Programm nur unter dem Aspekt von Wachstum, Sparen und Investieren zu beurteilen: Es ist ein tief in die sozialen Verhältnisse eingreifendes marktradikales Deregulierungsprogramm zur Schwächung der Gewerkschaften, zur Demontage sozialer Standards und zur Zurückdrängung von politischem Einfluss auf die Ökonomie. Was haben die Öffnung der Apotheken für Handelsketten, verkaufsoffene Sonntage (in Deutschland bislang nicht durchsetzbar) und Schlussverkaufsregeln mit Schuldenabbau zu tun? Hier toben sich neoliberale Dogmatiker aus und nutzen die Schuldenthematik zur Durchsetzung marktradikaler, in anderen Ländern längst gescheiterter Lehrbuchweisheiten.

7. Im Laufe der Brüsseler Verhandlungen zeigte sich, dass die griechische Regierung keinerlei Druckmittel zur Durchsetzung von Kompromissen in der Hand hatte. Eine zentrale Rolle spielte dabei die EZB, die über die Geldversorgung der nationalen Banken der Eurozone entscheidet. Sie nutzte von Anfang an alle Mittel, um die Regierung unter Druck zu setzen. Wenige Tage nach der Wahl der Linksregierung (die noch gar keine Zeit gehabt hatte, das angebliche „Vertrauen“ der Institutionen zu enttäuschen) stoppte die EZB den Kauf griechischer Staatsanleihen und verkündete, dass das umfangreiche Aufkaufprogramm, mit dem die Eurozone mit Geld geflutet werden soll, Griechenland ausklammern würde. Dies war eine rein politische Entscheidung, da sich ökonomisch in den wenigen Tagen nach Abtritt der konservativ geführten Regierung nichts geändert hatte. Woche für Woche verstärkte die EZB den Druck auf das griechische Bankensystem, indem sie Menge und Konditionen der Notkredite für die griechische Zentralbank verkleinerte und verschlechterte und schließlich völlig verweigerte: Dadurch erzwang sie die Schließung der Banken und die Beendigung des internationalen Zahlungsverkehrs mit dem Ziel, das Referendum scheitern zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war der Handlungsspielraum der Regierung auf Null geschrumpft.

8. Ausschlaggebend für die weitere Entwicklung war die Entscheidung der Regierung, um jeden Preis in der Eurozone zu bleiben. Ein anderes Mandat hatte sie allerdings auch nicht. Das Referendum war zwar ein Nein zur Austeritätspolitik, aber auch ein Ja zum Euro. Die Aufgabe des Euro zu diesem späten Zeitpunkt wäre mit katastrophalen, unkalkulierbaren Folgen verbunden gewesen. Zudem wäre auch ein Ausstieg nur unter Vormundschaft von EZB und EU möglich, die Handlungsfähigkeit der linken Regierung unter diesem Vorzeichen eher noch geringer gewesen: Daher Schäubles Winken mit dem ‚zeitweiligen Grexit‘.

Eine andere Frage ist, ob Syriza diese Option nicht von Anfang an hätte einbeziehen und der Öffentlichkeit kommunizieren müssen. Führende Mitglieder, so der Wirtschaftswissenschaftler Lapavitsas, hatten das Problem schon früh (2012) gesehen und vorsichtig dafür plädiert, einen Austritt zumindest zu erwägen.[7] Es ist aber klar, dass die Regierung im Juni/Juli 2015, als sich die Bankenkrise zuspitzte, diese Option nicht mehr hatte. Varoufakis diesbezügliche Überlegungen waren zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr durchführbar. Damit blieb die Syriza-Regierung der EU-Führung, d.h. Deutschland, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Für die Zukunft und für andere Euro-Länder eine beeindruckende Lehre: Die EZB kann jede Wirtschaft, ob überschuldet oder nicht, jederzeit ruinieren, indem sie die Geldversorgung der Geschäftsbanken willkürlich und selektiv drosselt und einstellt. Die so konditionierten Finanzmärkte würden ein Übriges tun. Eine eigenständige nationale Wirtschaftspolitik ohne den Segen der EZB (und damit der Finanzmärkte) ist in der Eurozone unmöglich geworden. EU-Ratspräsident Donald Tusk formulierte, worum es geht: „Es wird die Illusion erweckt, es gebe eine Alternative zu unserem Wirtschaftssystem, ohne Sparpolitik und Einschränkungen. Das ist die größte Gefahr, die von Griechenland ausgeht …“ (FAZ v. 17.7.15) Erst die EZB (d.h. der Euro) gibt den EU-Autoritäten das Mittel in die Hand, den Traum einer alternativlosen neoliberalen Wirtschaftsordnung in die Wirklichkeit umzusetzen und selbst gemäßigt reformistische Varianten auszuschließen.

9. Die Auseinandersetzungen haben eindrucksvoll gezeigt, dass Deutschland in der EU heute eine hegemoniale Rolle spielt. Das hat dazu geführt, dass die im Aushandlungsprozess an verschiedenen Punkten sichtbar gewordenen Divergenzen in der EU – die sich u.a. daran zeigten, dass zunächst sowohl von einigen Mitgliedsländern als auch in EU-Führungsgremien (Juncker, Tusk) positiv aufgenommene griechische Kompromissvorschläge dann doch als „unzureichend“ abgelehnt wurden – von der griechischen Seite nicht genutzt werden konnten. Vom im Schäuble/Lamers-EU-Papier der CDU von 1994 vorgeschlagenen „Kern des festen Kerns“ Europas, den damals noch das Duo Deutschland/Frankreich bilden sollte, ist nur noch Deutschland übrig geblieben. Dies hängt mit der ökonomischen Schwächung Frankreichs und des französischen Kapitals zusammen.[8] Die Unfähigkeit Frankreichs, sein chronisches Doppeldefizit (Staatshaushalt/Leistungsbilanz) unter Kontrolle zu bringen, müsste das Land eigentlich zu einem Kandidaten für EU-Sanktionen machen, mit drastischen Folgen für die Höhe der von Frankreich zu zahlenden Zinsen. Nur von Deutschland tolerierte Ausnahmeregeln schützen das Land davor, in die Gruppe der „europäischen Fußkranken“ abzusinken.

10. Das eingangs erwähnte Hauptziel, die Delegitimierung der griechischen Regierung, wurde in vielen europäischen Ländern erreicht: Begünstigt durch verlogene Medienkampagnen halten große Bevölkerungsmehrheiten die neue griechische Regierung verantwortlich nicht nur für aktuelle Probleme, sondern auch für die verfehlte Politik der konservativen und sozialdemokratischen Vorgängerregierungen, die den Schuldenberg erst angehäuft hatten. Es ist eindrucksvoll, wie es die europäischen konservativen und sozialdemokratischen Politiker innerhalb von Wochen geschafft haben, die Misswirtschaft jener griechischen Parteien, mit denen sie selbst jahrelang im europäischen Parlament in gemeinsamen Fraktionen Politik gemacht haben, vergessen zu machen. Bemerkenswert auch, dass bestimmte Komponenten des Programms – wie die Beseitigung von nationalen Tarifvereinbarungen, die Ladenöffnung an Sonntagen oder die Kommerzialisierung von Apotheken – von jenen Kräften (Gewerkschaften, Kirchen, Interessenverbänden), die diese Vorhaben hierzulande vehement bekämpfen, mit Schweigen übergangen werden.

11. Die in der Annahme des EU-Diktats sinnfällig gewordene Niederlage ist u.a. darin begründet, dass Syriza in Europa keine starken Verbündeten gewinnen konnte. Eine zentrale Rolle spielt die Sozialdemokratie, die sich in Gestalt der deutschen SPD teilweise noch rigider und antigriechischer gebärdete als die Konservativen. Auch wenn die innenpolitischen Interessenlagen unterschiedlich sind (in Frankreich werden die Sozialisten bei den nächsten Wahlen nur überleben, wenn es ihnen gelingt, Linke und Ökos für gemeinsame Listen zu gewinnen), so hat sich doch schnell gezeigt, dass anfängliche Hoffnungen der Syriza-Regierung auf sozialdemokratische Unterstützung oder auch nur Sympathie in Europa illusorisch waren: Die Angst der Sozialdemokraten, dass der von ihnen gefahrene neoliberale Kurs durch griechische Linkserfolge desavouiert werden könnte, war größer als die Einsicht, dass die Durchsetzung der reaktionären Spar- und Reformpolitik in Griechenland, einschließlich der Schwächung der Gewerkschaften, auch ihre Spielräume weiter einengen wird.

Hinzu kommt die europaweite Schwäche der politischen und gewerkschaftlichen Linken in ihren verschiedenen Facetten, die nicht in der Lage war, relevante Solidaritätsaktionen zu organisieren. Selbst die antigewerkschaftliche Stoßrichtung des Reformprogramms hat außerhalb Griechenlands kaum jemand von opportunistischen Parolen nach dem Motto ‚kein Geld für faule Griechen‘ abzubringen vermocht. Einmal mehr zeigt sich, dass sich progressive Veränderungen der Kräfteverhältnisse gegenwärtig nur aus nationalen Themen, Konfliktlagen und Kämpfen ergeben. Die Bedeutung der griechischen Frage für die Entwicklung in Europa, deren sich die Konservativen voll bewusst sind, wird auf der linken Seite des politischen Spektrums bisher nicht breitenwirksam wahrgenommen.

Ähnlich illusorisch war die Hoffnung auf mediterrane Solidarität gegen deutsche Dominanz: Die konservativen Regierungen in Spanien und Portugal, die beide vor Wahlen stehen, fürchten nichts so sehr wie Erfolge einer griechischen Linksregierung – würden diese doch zeigen, dass es eine Alternative zu Spardiktat und Austeritätspolitik gibt. Dies gilt auch für die Renzi-Regierung in Italien.

12. Ein besonders düsteres Kapitel ist die Spaltung der griechischen Linken, vor allem der Gegensatz zwischen KKE und Syriza. Von Anfang an hat die KKE keinen Zweifel daran gelassen, dass Syriza ihr größter Feind ist – selbst beim Referendum, bei dem es darum ging, die Erpressung durch die Gläubiger zurückzuweisen, konnte sich die KKE nicht zur Unterstützung des „Nein“ durchringen. Diese sektiererische Haltung, die wahrscheinlich einen schon früher möglichen linken Wahlsieg verhindert hat, ist umso unverständlicher, als die KKE selbst kein politikfähiges Konzept gegen die Krise hat. So erklärte sie aus Anlass der Parlamentsdebatten um das EU-Diktat allen Ernstes, die Arbeiterklasse müsse jetzt zusammenstehen, die Macht übernehmen und „übergangslos sozialistische Verhältnisse“ herstellen[9] – eine Position der linksradikalen Phrase, die in dieser Situation an Absurdität kaum zu überbieten ist. Eine kritische Unterstützung der Regierung von links im Rahmen einer vernünftigen Bündnispolitik hätte die Position der Linken insgesamt verbessert. Es siegten ein enger Parteiegoismus und ein aus den Fraktionskämpfen der Vergangenheit stammender Geist der Abstrafung.

13. Derzeit schwankt die deutsche Linke zwischen den Extremen einer Beschönigung des ökonomisch und sozial katastrophalen Diktats der ‚Institutionen‘ einerseits und der Verdammung von Syriza, insbesondere des Regierungschefs Tsipras, als „Verräter“ oder „Feigling“ andererseits. Dies ist eine unfruchtbare Debatte, die die entscheidende Rolle der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse und Bewegungen für die weitere Entwicklung ausblendet. Gegenwärtig, Anfang August 2015, ist die Lage prekär, aber noch nichts ist endgültig entschieden. Die linke Regierung hat nicht nur ein Programm zu vertreten, das ökonomisch und sozial katastrophal ist, sie hat zudem weitgehend die Kontrolle über Verwaltung und Staatsapparat aufgeben müssen. Die Kontrolleure der Troika ziehen wieder gestärkt in die griechischen Ministerien ein, jede parlamentarische Initiative der Regierung muss vorher mit demokratisch durch nichts legitimierten Beamten von EU, EZB und IWF[10] abgesprochen werden. Andererseits zeigt die Erfahrung mit den Strukturanpassungsprogrammen der Vergangenheit, dass die – oft völlig unrealistischen – Konditionalitäten der Gläubiger (siehe der geplante Primärüberschuss im Staatshaushalt) keineswegs in Stein gemeißelt sind. In den ‘Institutionen‘ wird der Widerstand der Bevölkerung gegen einzelne Maßnahmen aufmerksam registriert. Der von den EU-Ländern gefürchtete ‚Ansteckungseffekt‘ bezieht sich auch auf soziale Bewegungen: Die Befolgung von Streiks, Massendemonstrationen und brennende Barrikaden haben ebenso wie ziviler Ungehorsam ihre Wirkung. Dies gilt auch für Reaktionen auf der europäischen Ebene und die Stimmung in einzelnen Mitgliedsländern. Entscheidend für die weitere Entwicklung aber ist die Intensität des griechischen Widerstands gegen das Diktat, den die Regierung zur Erweiterung ihres Spielraums nutzen kann, und dessen Unterstützung in anderen EU-Ländern.

14. Weil die Linke in Deutschland und Europa keine spürbare Unterstützung auf die Beine stellen konnte, ist die vorläufige Niederlage von Syriza auch eine Niederlage der deutschen und europäischen Linken. Die Lehren aus den griechischen Erfahrungen werden kontrovers diskutiert. Eine wichtige Erkenntnis ist aus unserer Sicht: Eine eigenständige nationale Wirtschaftspolitik, eine demokratische Alternative zum neoliberalen Austeritätsdiktat ist mit der EZB, mit den Institutionen (und damit den Finanzmärkten) in der Eurozone unmöglich geworden. Ist also eine demokratische Alternative innerhalb der Eurozone überhaupt denkbar? Der griechische Fall hat die Legitimität der EU-Institutionen nachhaltig beschädigt. Demokratisch gewählte Mehrheiten wurden offen ausgehebelt von Organisationen, die nicht nur kein demokratisches Mandat haben, sondern ihre eigenen Regeln mit Füßen treten. Der Fortgang des griechischen Dramas hängt in erster Linie von der Entwicklung sozialer und politischer Kräfteverhältnisse vor allem in Griechenland, aber auch in den europäischen Ländern ab. Eine vorzeitige Beerdigung des griechischen ‚Experiments‘ – wann gab es zuletzt in Europa eine linke Regierung? – durch Teile der europäischen Linken wäre ein großer Fehler. Daher ist die Linke aufgefordert, Griechenland und seine Regierung bei den weiteren Verhandlungen im Widerstand gegen das Austeritätsdiktat zu unterstützen, indem sie vor allem in Deutschland spürbaren Druck entwickelt.

15. Wenn die Entwicklung der letzten Wochen und Monate zumindest einen potenziell positiven Effekt hatte, dann liegt der in der Offenlegung der Dominanz Deutschlands in der EU, die schon in den Verhandlungen nicht ohne Widerspruch geblieben ist. Spielte die deutsche Regierung über Jahre die Rolle der bescheidenen und gutmütigen Führungsmacht, so hat sie diese Maske in den Verhandlungen von Brüssel fallen gelassen. Das von Schäuble und Merkel sanktionierte Diktat löste selbst unter anwesenden Regierungschefs abwehrende Reaktionen hervor („Genug ist genug“: Renzi), die aber in den Verhandlungen folgenlos blieben. Dennoch wird in Europa vermehrt über die Rolle und das Auftreten Deutschlands diskutiert. Auch die deutschen ‚Leitmedien‘ registrieren diese Debatte. Die Kritik am deutschen Dominanzgehabe wird das ohnehin verbreitete Unbehagen an der EU in vielen Ländern weiter anheizen. Die Linke muss diese Stimmung gegen ein deutsches Europa aufgreifen und progressiv wenden, um den Spielraum von Syriza zu vergrößern und der Gefahr entgegenzutreten, dass die extreme Rechte von dieser Stimmung profitiert.

[1] Erklärung des Euro-Gipfels, Brüssel, 12.Juli 2015.

[2] Die FAZ (24. 7. 2015) urteilt hierzu: „Das neue griechische Reformpaket könnte die Sanierung des Landes und der Banken erschweren.“

[3] Eine Analyse der Citigroup, die die zu erwartende Verschärfung der Rezession berücksichtigt, erwartet für 2017 eine Verschuldung von 237 Prozent des griechischen BIP (NZZ v. 28.7.15).

[4] Axel Troost, Chance auf eine lebenswerte Zukunft oder Grexit, Papier vom Juli 2015.

[5] Es handelt sich um Mittel aus EU-Struktur- und Agrarfonds für den Zeitraum 2014/2020, weniger als Griechenland im Zeitraum 2007-2013 erhalten hatte (42 Milliarden). U.U. soll Griechenland auf Restmittel aus dieser Periode rascheren Zugriff erhalten.

[6] 2013 hatten nur 10 von 28 EU-Ländern einen ausgeglichene Primärhaushalt bzw. einen Primärüberschuss.

[7] Costas Lapavitsas, Soll Griechenland den Euro aufgeben? In: Z 91 (September 2012), S. 41ff. Die Meinung, Tsipras hätte einfach einen Grexit vorbereiten sollen, ist allerdings höchst naiv. Lapavitsas verweist auf die Notwendigkeit einer breiten öffentlichen Zustimmung als Voraussetzung für einen solchen Schritt. Zu berücksichtigen ist zudem, dass 1999 der größte Teil der Devisenreserven der Nationalen Notenbanken an die EZB übertragen wurde. Ein eigenmächtiger, also ohne Segen von EU und EZB durchgeführter Grexit verbunden mit der Wiedereinführung einer nationalen Währung hätte die griechische Notenbank praktisch ohne Devisenreserven und damit ohne die Möglichkeit, Spekulationsattacken abzuwehren, gelassen. Eurogruppe und EZB haben also de facto die materiellen Hebel in der Hand, um die Bedingungen eines Exits aus dem Euro zu diktieren.

[8] Vgl. Kees van der Pijl/Otto Holman, Transnationale Verflechtung und Stellung des deutschen Kapitals in der EU, in: Z 93 (März 2013), S. 95.

[9] Zit. nach „junge Welt“ v. 15. 07. 2015.

[10] Hinzu kommen Beamte des ‚Rettungsschirms‘ ESM.