Digitale Arbeit und Gewerkschaften

Widersprüche der digitalen Ökonomie

Informationskapitalismus und Kybertariat

von Ursula Huws
September 2015

Im Jahre 2003 erschien im Monthly Review Press-Verlag unter dem Titel „Die Entstehung des Kybertariats: Virtuelle Arbeit in einer Realen Welt“ (The Making of a Cybertariat: Virtual Work in a Real World) eine Auswahl von Essays, die ich seit den späten 1970er Jahre veröffentlicht hatte. Eine neue Sammlung von Aufsätzen, die unlängst unter dem Titel „Arbeit in der digitalen Wirtschaft“[1] erschienen ist und Veröffentlichungen der Jahre 2006 bis 2013 enthält, knüpft dort an, wo die älteren aufgehört hatten: Diese Jahre waren eine besonders bewegte Periode in der Geschichte des Kapitalismus und der Organisation der Arbeit.

Das zentrale Thema der älteren Aufsatzsammlung war die außerordentliche Fähigkeit des Kapitalismus, regelmäßig auftretende und bedrohliche Krisen durch die Einführung neuer Produkte zu überwinden. Immer dann, wenn die kapitalistische Wachstumslogik zu einer Übersättigung von Märkten und somit in eine Krise der Rentabilität zu führen scheint, werden weitere Lebensbereiche erschlossen, in denen neue Produktionsformen von neuen Waren und Dienstleistungen entstehen, wodurch neue Märkte erschlossen werden. Diese expansiven Phasen sind oft mit der Durchsetzung neuer Technologien verbunden. So führte z.B. im frühen 20. Jahrhundert die Ausbreitung der Elektrizität zu einer Welle von neuen Waren im Bereich der Haushaltsarbeit (Staubsauger, Waschmaschinen und Kühlschränke) und der Unterhaltung (Radios, Filmvorführgeräte, Plattenspieler – verbunden mit Film- und Tonaufnahmen, die entsprechende Inhalte produzierten). Neue Formen von Produktion und Konsum breiteten sich aus. Während neue Arten bezahlter Arbeit entstanden, wurde die Haushaltsarbeit zunehmend in etwas umgewandelt, was ich als „Konsumarbeit“ bezeichnete. Immer mehr Aktivitäten, die vormals Teil der Privatsphäre und zwischenmenschlicher Beziehungen waren, wurden zu öffentlichen Marktverhältnissen. Und je mehr die Arbeiter auf diese neuen Waren angewiesen waren, um das tägliche Überleben zu sichern, desto mehr mussten sie entsprechende Einkommensquellen erschließen, um sie zu bezahlen. Damit wurde ihr Leben immer umfassender dem Zugriff des Kapitals ausgesetzt. Und doch wurden diese Innovationen überwiegend mit Begeisterung angenommen. Ihre Neuheit, Modernität und Bequemlichkeit sowie das Gefühl, über Luxusgüter verfügen zu können, die vormals den Reichen vorbehalten waren, hatten eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft. Die Menschen, die sich den neuen Produkten verweigerten, erschienen altmodisch, technisch unfähig, konservativ oder gar maschinenstürmerisch und fanden sehr schnell heraus, dass viele Aspekte des sozialen und wirtschaftlichen Lebens zunehmend auf der Annahme beruhten, dass ein jeder diese neuen Produkte besaß und beherrschte. Im ersten der eingangs erwähnten beiden Bücher wurden die Auswirkungen dieser Entwicklung auf bezahlte und unbezahlte Arbeit nachgezeichnet; dabei wurde gezeigt, dass der Kapitalismus nicht nur immer mehr Bereiche des Lebens durchdringt, sondern sich auch geografisch ausdehnt.

Kapitalistische Durchdringung aller Lebensbereiche

Heute ist eine Periode angebrochen, in der früher angestoßene Wellen von Kommodifizierung, d.h. der Verwandlung von immer mehr Lebensbereichen in Waren, zur Reife gelangen. Neue Waren sind entstanden, weil immer mehr Aspekte des Lebens, die früher ganz außerhalb der Geldwirtschaft gelegen hatten, marktförmig wurden, oder zumindest diejenigen Anteile, die den Kapitalisten Profit bringen. Neue Felder der Kapitalakkumulation sind entstanden, jedes verbunden mit einer unterschiedlichen Methode der Kommodifizierung. Sie bilden die Basis neuer Wirtschaftszweige und beeinflussen das tägliche Leben auf jeweils unterschiedliche Weise, insbesondere Arbeit und Konsum. Betroffen sind die Biologie, Kunst und Kultur, öffentliche Dienstleistungen und zwischenmenschliche Beziehungen.

Ich verwende den Begriff „Biologie“ wo es darum geht, das Leben selbst, in Form von Pflanzen und Tieren bzw. deren DNA, auszubeuten, um neue Waren wie Medikamente oder genetisch veränderte Nahrungsmittel herzustellen. Diese neuen Produkte bilden ein großes und wachsendes Absatzfeld mit gewaltigen Auswirkungen auf viele Aspekte des täglichen Lebens. Ich erwähne dies hier nur kurz, ohne auf Einzelheiten eingehen zu können; denn obwohl ich dies für sehr wichtig halte, habe ich dazu nicht geforscht und könnte zu den anderswo geführten anregenden Debatten wenig beisteuern. Im Folgenden beschränke ich mich daher auf drei andere Gebiete: Kunst und Kultur, öffentliche Dienstleistungen und zwischenmenschliche Beziehungen.

Die Kommodifizierung von Kunst und Kultur knüpft an historisch frühe Prozesse an. Die Arbeit der Künstler war für viele Jahrhunderte bezahlte Arbeit, und Kunst als Ware hat ebenfalls eine sehr lange Geschichte und wurde unter einer Vielzahl unterschiedlicher sozialer und vertraglicher Bedingungen produziert. Was sich in der jüngeren Vergangenheit verändert hat, ist das Ausmaß, in dem Kunst in kapitalistische Produktionsverhältnisse einbezogen wurde, der hohe Grad der Kapitalkonzentration in diesem Sektor und die Einführung einer globalen Arbeitsteilung bei der Produktion von Kulturgütern. Die Konzentration der Eigentumsverhältnisse auf einige wenige Transnationale Konzerne wurde begünstigt durch technische Entwicklungen, welche die Zusammenfassung ehemals auf verschiedene Wirtschaftszweige verteilter Aktivitäten ermöglichten. Zeitungs- und Buchproduktion, Fernsehen, Film- und Tonaufnahmen sowie die Herstellung von Spielen verschmolzen nahtlos mit der Produktion der entsprechenden kulturellen Inhalte, mit Vertriebsgesellschaften und Infrastrukturproduzenten zu Riesenunternehmen. Diese bedienen ein breites Spektrum von Aktivitäten und verbinden in sich ständig ändernden Konstellationen die Arbeit von ‘Kreativen’ mit der Arbeit von Technikern und Büroangestellten, von Managern und Dienstleistern in globalem Maßstab.

Im späten 20. Jahrhundert wurden Einkommen und Arbeitsbedingungen von Schriftstellern, Filmemachern und Musikern meist im Rahmen von Verhandlungen mit vertikal organisierten Filmgesellschaften, Musikkonzernen und Verlagen bestimmt, deren Profite vom Verkauf von Filmen, Tonaufnahmen, CDs, Büchern und Zeitschriften abhingen. Heute werden die Märkte zunehmend dominiert von Konzernen, die bestimmte Geräte herstellen (wie Amazons Lesegerät Kindle oder Apples iPhone) und die damit verbundenen Inhalte (in Form von eBooks oder iTunes) vertreiben. Im Zuge dieser sektoralen Machtverschiebungen veränderte sich die Stellung der Kreativen, die zu Zulieferern von Inhalten für Geräte wurden, die in anderen Branchen hergestellt werden. Das hat verschiedene Auswirkungen. Kreative Arbeit wird verknüpft mit der von anderen ‘Wissensarbeitern’ wie z.B. Softwareentwicklern und zwingt die Kreativen zunehmend, Aufgaben zu übernehmen, die früher von anderen Berufen (Herausgeber, Setzer, Designer, Aufnahmetechniker, Kameraleute usw.) ausgeführt worden waren. Gleichzeitig wird die Verfügungsmacht über intellektuelles Eigentum eingeschränkt. Die alten vertikal organisierten Unternehmen versuchen, sich den neuen Marktbedingungen anzupassen. Ihre wichtigste Ressource – das Produkt der Kreativen – wird zu einer Ware, die gleichzeitig in verschiedenen Formen, auf verschiedenen Trägern und Plattformen an ein unterschiedliches Publikum verkauft wird. Da diese Unternehmen oft die Kontrolle über den Absatz an die Endverbraucher verloren haben, sind sie gezwungen, die Produkte mit geringeren Gewinnmargen an Zwischenhändler abzugeben. Den finanziellen Druck geben sie an die kreativen Arbeiter weiter. Wenn für Konzerne wie Amazon oder Apple der Verkauf von eBooks oder iTunes nicht mehr der Hauptzweck, sondern nur noch ein Mittel sind, um mehr Kindles oder iPhones zu verkaufen, dann haben sie kein Interesse mehr, den Profit aus dem Verkauf eines bestimmten Titels zu steigern. Ihr Interesse besteht nun darin, den Absatz aller Titel zu steigern, um die Wahlmöglichkeiten der Gerätebesitzer zu erhöhen und so den Geräteabsatz zu fördern. Dies verändert die Unternehmensstrategie der Medienindustrie grundlegend. Die Verhandlungsmacht der Kreativen wird geschwächt und die Einkommensmöglichkeiten für die Mehrheit von ihnen eingeschränkt. Gleichzeitig profitiert eine kleine Minderheit. Selbst Künstler, die auf traditionelle Weise und unabhängig vom Markt arbeiten wollen, sehen sich in der Praxis gezwungen, bei großen Unternehmen und Bürokratien zu betteln und sich anzupreisen, um Zugang zu jenen Ressourcen zu erhalten, die sie für ihre Arbeit brauchen.

Die Kommodifizierung öffentlicher Dienstleistungen folgt einer anderen Logik, obwohl es Überschneidungen mit der Kommodifizierung kultureller Aktivitäten gibt – bei vielen Dienstleistungen, wie z.B. im Erziehungsbereich, geht es um kulturelle Inhalte. Die Erweiterung öffentlicher Dienstleistungen, die von bezahlten öffentlichen Angestellten erbracht wurde, war eine wichtige Erscheinung des 20. Jahrhunderts. In kommunistischen Ländern war dies ein typisches Beschäftigungsmodell, aber auch in entwickelten kapitalistischen Ländern hatte die öffentliche Beschäftigung eine große Bedeutung. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden Wohlfahrtsstaaten, verbunden mit entsprechender öffentlicher Beschäftigung. In deren Rahmen ließen sich die Interessen von Arbeit und Kapital miteinander vereinbaren. Obwohl die Wohlfahrtstaaten auch funktionale Bedürfnisse des Kapitals befriedigten, indem sie Reproduktionskosten der Arbeitskraft übernahmen, kann der Ausbau staatlicher Dienste auch als Erfolg der organisierten Arbeiterklasse betrachtet werden. Diese hatte lange Zeit für Altersrenten, für öffentliche Erziehung und Gesundheitsversorgung, für Kranken- und Arbeitslosenversicherungen gekämpft. So waren öffentliche Dienstleistungen ein Teil der Errungenschaften, welche die Arbeit dem Kapital abgerungen hatte. Die Öffnung der Dienstleistungsbereiche als neues Akkumulationsfeld hatte weitreichende und vielfältige Folgen. In den ehemaligen kommunistischen Ländern nahm diese Wiederaneignung nach 1989 oft die Form einfachen Raubs an und bildete die Grundlage für neue kleptokratische Oligarchien. An anderer Stelle wurde subtiler, aber ähnlich schädigend vorgegangen: manchmal durch direkte Privatisierung, zunehmend aber durch einen schleichenden Prozess des Outsourcing – und zwar Funktion für Funktion, Abteilung nach Abteilung, Region nach Region – an einen neuen Typ von Unternehmen. Diese Unternehmen mit globaler Reichweite waren nicht nur in der Lage, die billigsten Arbeitskräfte zu nutzen, sondern konnten ebenso die Steuern minimieren, die sie an jene Regierungen zahlen, welche sie bereitwillig mit den Ressourcen versorgten, aus denen sie ihre Profite ziehen.

Kommodifizierung der zwischenmenschlichen Beziehungen

Es ist wahrscheinlich der dritte hier zu behandelnde Bereich von Kommodifizierung, die der zwischenmenschlichen Beziehungen, die am schwersten zu fassen ist, wenn es um neue Waren und Wirtschaftszweige geht. Menschen müssen miteinander flirten und sprechen, Scherze machen und mitfühlend sein, den Kontakt zu Freunden halten. Familienbeziehungen müssen für unsere Vorfahren ein so grundlegendes Bedürfnis gewesen sein wie das gegenseitige Beschnüffeln bei Tieren. Sicherlich haben sie gedacht, dass diese Art von persönlichen Beziehungen unzugänglich sei für die harten und kalten Gesetze des Kapitalismus; wie könnten diese zu Quellen von Unternehmensprofiten werden? Ich vermute, dass viele Menschen immer noch glauben, ihre persönlichen Beziehungen gehörten zum privaten Bereich von Zuneigung und Authentizität und lägen damit außerhalb des Marktes. Aber schon ein oberflächlicher Blick auf fast jede Gruppe in fast jeder sozialen Situation in der entwickelten Welt zeigt, wie illusorisch diese Vorstellung ist.

Dies zeigen vier mehr oder weniger zufällig ausgewählte schnappschussartige Beobachtungen. Die erste zeigt eine Gruppe von Schulkindern, die über eine Straße gehen und dabei laut und lebhaft sprechen, aber nicht miteinander, sondern zu abwesenden Personen. Offensichtlich verdient irgendeine Telefongesellschaft an jeder Minute ihrer Gespräche, die gebührenfrei wären, wenn sie direkt miteinander kommunizierten. Andere Unternehmen verdienen an Onlinekontakten: soziale Medien und die Unternehmen, die dort Werbung betreiben. Aber natürlich spielen auch die entsprechenden Geräte eine Rolle. Das Kind mit dem neuesten Smartphone steigert seinen sozialen Status. Jene, die so etwas nicht besitzen (Kinder von Arbeitslosen, Alleinerziehenden, jüngeren Migranten bzw. von Eltern, die solche Dinge nicht kaufen können oder wollen) sind in ihrer sozialen Stellung gefährdet. Die Gefahr von Exklusion wird größer, zusätzlich zu den Marginalisierungstendenzen, die der Konsumkapitalismus ohnehin beinhaltet (falsche Kleidungs- und Schuhmarken). Die Kolonisierung sozialer Beziehungen hat nicht nur neue Profitquellen erschlossen, sondern trägt auch dazu bei, Keile ins Netz gesellschaftlicher Beziehungen zu treiben und so die Grundlage zukünftiger Solidarität zu unterminieren.

Mein zweiter Schnappschuss zeigt fünf Menschen, die am Tisch eines Cafés sitzen. Zwei von ihnen tippen routiniert etwas, einer telefoniert, wobei er sich über das schwache Signal beklagt, ein anderer fotografiert mit seinem Handy, der fünfte studiert die Speisekarte. Niemand scheint sich wohlzufühlen. Statt die reichen und differenzierten Möglichkeiten des direkten persönlichen Kontakts zu nutzen, bevorzugen sie enge und einseitige Kommunikationswege: die beschränkten Ausdrucksmöglichkeiten von SMS, die undeutlichen Signale von am Telefon geschrienen Worten. Wieder steigt der Unternehmensprofit, während sich die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen verschlechtert.

Die dritte Beobachtung stammt aus einem Londoner Bus, erfüllt von einer Kakophonie von Gesprächen in verschiedenen Sprachen, oft laut und aggressiv: manche intim, manche banal und eher überflüssig, als ob der oder die AnruferIn es nicht ertragen kann, auch nur einen Moment untätig zu sein: „Ja, ich bin im Bus. In der Linie 73. Ich bin vor 15 Minuten aus dem Büro gekommen. Ja, ich werde in ungefähr 20 Minuten ankommen. Nein, es gibt nichts Besonderes.“ Viele, die sich gerade nicht mit ihrem Telefon beschäftigen, haben Kopfhörer, die an verschiedene Geräte angeschlossen sind, auf denen sie rumtippen. Das erlaubt es ihnen, gebrechliche Menschen zu ignorieren, denen sie ihren Platz anbieten sollten. Der Bus ist nicht mehr, wie früher, ein Ort an dem man überraschende Treffen erlebte, an dem man mit Unbekannten spaßen oder sich mit vereinsamten Menschen austauschen konnte, für die ein Gespräch im Bus möglicherweise der einzige menschliche Kontakt war. Während einerseits private und intime Angelegenheiten aus Schlafzimmer und Küche laut hinausgeschrien werden, werden andererseits Fremde, die den gleichen sozialen Raum teilen, völlig ignoriert bzw. als Kommunikationspartner zurückgewiesen. Die Verhältnisse zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen scheinen auf den Kopf gestellt, während die Erträge der globalen Kommunikationsunternehmen sprudeln.

Mein vierter und letzter Schnappschuss zeigt eine Konferenz, präsidiert von vier Menschen aus drei Kontinenten. Einer von ihnen führt den Vorsitz, einer spricht und die anderen zwei schauen konzentriert auf ihre Laptops oder iPads. Die meisten Zuhörer tun das gleiche, einige sehen ihre Emails durch, ohne auch nur Augenkontakt mit anderen Zuhörern aufzunehmen, obwohl viele von ihnen doch weit gereist sind (wobei sie viel Treibstoff verbraucht haben), um an der Veranstaltung persönlich teilzunehmen. In jedem Fall wird die direkte Kommunikation durch Gespräche, Berührungen oder Blickkontakte zurückgewiesen zugunsten von elektronisch vermittelter Kommunikation. Die (vom Jetlag ermüdeten) Redner lesen vorbereitete Papiere vor, die die Anwesenden auch woanders auf Papier oder anderen Medien hätten lesen können. Die Teilnahme an der Tagung und die Vorbereitung eines ‘Papers’ dienen eher der Qualifizierung des Lebenslaufs für spätere Bewerbungen als dem direkten Dialog. Die teure Farce trägt wenig zur Intensivierung der Kommunikation bei, obwohl natürlich später an der Bar einiges an Kontakten hergestellt wird, jedenfalls von denen, die sich nicht aus Zeitgründen gezwungen sehen, in ihren Hotelzimmern Emails zu checken, ihre Familien anzurufen oder das nächste Konferenzpapier zu schreiben.

Wo ist dabei der Kapitalismus?

Überall! Er profitiert natürlich von der Herstellung der zahlreichen Geräte – Handys, Tablets, Laptops, iPads und dem entsprechenden Zubehör. Die Beschäftigten der Hersteller, deren Markenzeichen die Geräte zieren, stellen nur die Spitze des Eisbergs von Arbeit dar. Beteiligt an der Produktion sind außerdem Bergleute, die Rohstoffe fördern, Fabrikarbeiter, die die Einzelteile zusammenbauen, Transport- und Vertriebsarbeiter, Dienstleister, Softwareingenieure, Mitarbeiter von Callcentern und viele andere. Auch muss eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut und unterhalten werden: Satelliten, Kabel und Wi-Fi-Router sind nötig, damit die scheinbar flüchtigen und als Wellen unsichtbaren digitalen Inhalte zugänglich werden; nicht zu vergessen die sehr realen Stromnetze, die die Elektrizität leiten, ohne die all das nicht funktioniert. Auch das erfordert die Arbeit vieler Menschen, die in verschiedenen Unternehmen arbeiten und unterschiedliche Tätigkeiten verrichten, darunter die Förderung von Kohle und Öl, den Bau von Windgeneratoren, den Betrieb von Kraftwerken, das Verlegen von Kabeln unter Straßen, Feldern und Ozeanen; nicht zu vergessen die Wissenschaftler, welche jene Raketen konstruieren, die die Satelliten ins All bringen. Einige dieser Industrien gab es schon vor dem Boom der Informations- und Kommunikationstechnologien, ihre Absatzmärkte aber sind mit der Ausbreitung der digitalen Technik enorm gewachsen. So wird geschätzt, dass die IK-Techniken im Jahr 2013 zwischen 930 und 1500 Milliarden Kilowattstunden Energie verbrauchten.[2]

Weiterhin generiert jede der elektronisch vermittelten Kontakte Umsatz für die transnationalen Konzerne, welche die Telekommunikationsdienste betreiben. Jeder Mensch auf der Welt, der einen Handy-Vertrag oder einen Internetzugang hat – und deren Zahl nimmt exponentiell zu – muss diesen Unternehmen regelmäßige Zahlungen leisten, um seine zwischenmenschlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten. Zusätzlich zu den Erträgen aus Kommunikationsgebühren generiert die Nutzung von digitalen Geräten Umsatz für viele andere Unternehmen, kleine und große: für jene, die Anwendungen und Apps produzieren oder die Gebühren für die Nutzung von Online-Spielen erheben. Aber auch das ist nicht alles. Alle zwischenmenschlichen Kontakte, die über Telekommunikationswege hergestellt werden, hinterlassen digitale Spuren, die für zielgerichtete Werbung genutzt werden können. Das Internet ist ein riesiges Einkaufszentrum, dessen Nutzer permanent mit Werbung bombardiert werden, die auf die heikelsten persönlichen Probleme abgestellt ist. Die meisten von uns sind so an diese allgegenwärtigen Werbebotschaften gewöhnt, dass sie deren Schädlichkeit übersehen. Von frühester Kindheit an wird uns hundert Mal am Tag vermittelt, wie fett, hässlich, abstoßend, schlecht riechend, lächerlich altmodisch wir sind, ausgestattet mit Brüsten und Penissen, die die falsche Größe haben oder denen es an Festigkeit mangelt und dass wir niemals beliebt sein werden, wenn wir nicht dieses oder jenes Produkt kaufen, das die magische Lösung dieser Probleme garantiert. Der Umsatz steigt, auch wenn die Märkte gesättigt erscheinen. Das wird erreicht, indem man die Menschen davon überzeugt, einfach mehr zu kaufen – z.B. sich mehrmals am Tag zu duschen – oder durch Erzeugung von kollektiver Konsumsucht, wobei Dinge zwanghaft gekauft werden, die rasch wieder ersetzt werden müssen bzw. durch die Entwicklung neuer Produkte obsolet werden.

Online-Werbung ist zwar intensiver und besser gezielt als andere Verkaufsformen, aber sie ist nicht eigentlich neu, obwohl natürlich nicht zu bezweifeln ist, dass das Internet es einigen transnationalen Konzernen ermöglicht hat, ihre globale Reichweite auszudehnen. Es war aber nicht erwartet worden, dass die Kommodifizierung zwischenmenschlicher Beziehungen zum phänomenalen Aufstieg jener Unternehmen führen würde, die sowohl Einkünfte von den Güterproduzenten als auch aus den Online-Aktivitäten ihrer Kunden beziehen: Indem sie letzteren einerseits die Mittel an die Hand geben, im Internet miteinander zu kommunizieren (z.B. Facebook oder Googlemail) und sie andererseits dazu bringen, ihre intimsten Geheimnisse an die Werbewirtschaft abzugeben, damit diese ihre Probleme profitabel ausbeuten kann. Angesichts der geschilderten gewaltigen neuen Möglichkeiten der Kommodifizierung, zu denen andere, hier nicht beschriebene Potentiale kommen, ist es nicht überraschend, dass der Kapitalismus seine periodischen Krisen nicht nur überwinden kann, sondern aus jeder neue Kraft schöpft und sich mit neuen Ressourcen ausstattet, um seine Beziehungen zur Arbeit zu erneuern.

Veränderte Beziehungen von Arbeit und Kapital

Um zu verstehen, wie sich die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit verändert haben, ist ein Blick in vorangegangene Perioden nützlich. Jede Periodisierung ist natürlich riskant. Indem man nach historischen Brüchen sucht, läuft man Gefahr, die vielen Elemente von Kontinuität im Hintergrund zu übersehen. Und da die Saat neuer Entwicklungen in der Regel in vorangegangenen Perioden gelegt wurde, ist es schwierig, diese zeitlich genau zu datieren. Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass es Momente gibt, in denen neue Erscheinungen eine kritische Masse erreichen und zu qualitativen wie quantitativen Brüchen führen. Sozialer und wirtschaftlicher Wandel und die technologischen Umwälzungen, mit denen dieser oft untrennbar verbunden ist, folgen meist einem bestimmten Pfad. Innovationen von Pionieren und Vorreitern werden auf breiterer Basis übernommen, was schließlich dazu führt, dass sie zur Grundlage der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis werden, um was auch immer es sich handelt (allgemeine Schulpflicht, Elektrizität, Telefon usw.).

Ich behaupte, dass wir heute in einer Zeit leben, in der sich gegenseitig verstärkende ökonomische, politische und technologische Faktoren den Charakter der Arbeit grundlegend verändern. Ich unterstelle damit nicht, dass sich jede Arbeit ändert. Ich argumentiere vielmehr, dass Merkmale von Arbeit, die früher ungewöhnliche Ausnahmen waren, heute von einem zunehmenden Teil der Bevölkerung als normal hingenommen werden. In diesem Prozess verändern sich auch die Erwartungen an das, was als ‘normales’ Arbeitsverhältnis betrachtet wird. Dieser Wandel ist nicht über Nacht gekommen. Sein Beginn kann bis in Perioden zurückverfolgt werden, in denen die herrschende Praxis eine ganz andere war.

Indem ich stark vereinfache (es gibt viele Ausnahmen und Gegenbeispiele) unterscheide ich drei Perioden für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und behaupte, dass wir heute in eine vierte eintreten.

Im ersten dieser Zeitabschnitte (ca. 1945 bis 1973) haben wir den Aufbau eines „keynesianischen Nachkriegs-Wohlfahrtsstaats“ erlebt, auch bezeichnet als „Goldenes Zeitalter des Kapitalismus“, „Fordismus“ oder „Les Trente Glorieuses“.[3] In den entwickelten kapitalistischen Ökonomien des Westens und in einigen Entwicklungsländern war dies die Zeit der nationalen Entwicklungspläne, aufgestellt oft von dreierparitätisch zusammensetzten Gremien aus nationalen Regierungen, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Obwohl es damals auch schon transnationale Konzerne gab, wurde die Wirtschaft von nationalen Unternehmen (manchmal in öffentlichem Eigentum) dominiert, die bereit waren, im nationalen Maßstab Kompromisse auszuhandeln. Regierungen war es möglich – zumindest in einigen Ländern – Antimonopolgesetze vom Beginn des 20. Jahrhunderts auszunutzen, um die unternehmerische Praxis zu kontrollieren. Viele Unternehmen waren auf sektor- bzw. unternehmensspezifische Qualifikationen angewiesen, was die Verhandlungsmacht der Arbeiterseite in bestimmten Industrien und Regionen stärkte. Noch wichtiger war, dass der Kalte Krieg Kompromisse mit der Arbeiterseite begünstigte. Sowohl in Nordamerika wie in Westeuropa, aber auch anderswo, ging die Furcht um, dass sich die Arbeiter, käme man ihnen nicht entgegen, dem Kommunismus zuwenden würden. In dieser Periode entstand die Erwartung – zumindest bei qualifizierten weißen und männlichen Arbeitern – , dass die Unternehmer feste und vertraglich gesicherte Beschäftigungsverhältnisse zu gewährleisten hätten, ausgestattet mit regelmäßigem Urlaub, Bezahlung im Krankheitsfall, Altersversorgung und Aufstiegsmöglichkeiten. Für viele Arbeiter, vor allem Frauen, ethnische Minderheiten und niedrig Qualifizierte, waren solche Arbeitsverhältnisse niemals Wirklichkeit. Aber auch wenn diese nicht universell gültig waren, so galt das Streben danach doch als legitimes Ziel nicht nur in den entwickelten Ländern, sondern auch in Entwicklungsländern, wo „Entwicklung“ oft mit der Vorstellung eines formalisierten Arbeitsmarktes verbunden wurde, gekennzeichnet durch gesicherte Vollzeitbeschäftigung wie im Westen. Diesem Arbeitsmarktmodell entsprach ein Familienmodell, das ebenfalls nicht mit der Lebenspraxis vieler Arbeiter übereinstimmte: Der Vollzeitbeschäftigte männliche Familienversorger, Vorstand eines von ihm abhängigen Haushalts, in dem die anderen Mitglieder unbezahlte Reproduktionsarbeit leisteten.

Die Ölkrise von 1973 markiert das Ende dieser und den Beginn der nächsten Periode, die ungefähr von Mitte der 1970er Jahre bis zum Ende der 1980er Jahre reicht. Die Rentabilität sank, die Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitenden verschärften sich, Arbeitgeber besetzten schlechter bezahlte Stellen verstärkt mit Migranten und Frauen (oft in Teilzeit). Fusions- und Übernahmewellen brachten eine zunehmende Konzentration des Kapitals. Die multinationalen Unternehmen, die daraus hervorgingen, begannen damit, Fabrikarbeit in Niedriglohnländer zu verlagern, manchmal in ausgewiesene Freihandelszonen, wo sie vor Umweltschutz- und Sicherheitsbestimmungen geschützt waren und wo bestimmte Steuervorteile geboten wurden. Nationale und regionale Regierungen mit schwindender Macht, diese Unternehmen zu regulieren, sahen sich zunehmend in eine Konkurrenz um ausländische Direktinvestitionen gezwungen. Sie boten Subventionen und andere Anreize, um etwa ein großes Autowerk in ihr Land zu locken. Inzwischen ermöglichte es die Entwicklung der Informationstechnologien, Arbeitsprozesse zu vereinfachen und zu standardisieren, einschließlich einiger Dienstleistungen. Dies schwächte die Verhandlungsmacht von traditionell gut organisierten Beschäftigten, während sie andere neue Beschäftigungsfelder erschloss. Die Deindustrialisierung trug strukturelle Arbeitslosigkeit in einige Regionen, aber das Modell des lebenslangen Arbeitsplatzes behauptete sich noch. Im Westen blieben die Gewerkschaften in vielen Regionen stark. Verluste in einigen Bereichen wurden durch Errungenschaften in anderen ausgeglichen. Vor allem im öffentlichen Dienst und im Dienstleistungssektor war eine große Zahl von Frauen und Angehörigen von Minderheiten beschäftigt, deren Forderungen nach Gleichheit und nach neuen Rechten immer lauter wurden. Obwohl sich ein Diskurs über „atypische“ Beschäftigungsverhältnisse entwickelte, wurden Arbeitsplätze im Großen und Ganzen immer noch als Gegenstand formaler Regulierungen und von Vertragsverhandlungen gesehen.

Der Beginn der dritten Periode kann symbolisch auf den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 datiert werden. Allerdings fiel dieser hochaufgeladene Moment mit einer Reihe anderer politischer, wirtschaftlicher und technischer Entwicklungen zusammen. Diese haben Veränderungen in einem Ausmaß mit sich gebracht, das es rechtfertigt, eine nächste Periode zu bestimmen, die von 1990 bis Mitte der 2000er Jahre reicht und die einen klar abgrenzbaren Zeitraum in den Arbeitsverhältnissen darstellt. Nicht nur, dass das Ende des Kalten Krieges dem Kapital die ganze Welt als mögliches Feld der Akkumulation eröffnete (während die Angst schwand, die Arbeiter könnten zum Kommunismus überlaufen). Gestützt wurde dies durch eine Welle der Deregulierung, die den freien Handel mit Waren und Dienstleistungen und den ungehinderten Strom von Kapital, geistigem Eigentum und Informationen über nationale Grenzen hinweg und auf der ganzen Welt ermöglichte. Dereguliert wurde nicht nur der Handel. Neoliberale Regime gingen zur Offensive gegen die Gewerkschaften über, deregulierten die Arbeitsmärkte und begannen einen Privatisierungsprozess, der den öffentlichen Sektor als neues Feld des Profitmachens erschloss.[4] Inzwischen hatten die Informationstechnologien, die in der vorangegangen Periode eingeführt worden waren, eine kritische Masse erreicht und wurden immer preiswerter und allgegenwärtig.

IKT – in der digitalen Welt des Kapitalismus

Das produktive Potential, das die Digitalisierung eröffnet hatte, war begrenzt geblieben, so lange deren Reichweite hauptsächlich auf bestimmte Computer an bestimmten Orten beschränkt war. Stark erweitert wurde es jedoch durch die Verknüpfung von Informationstechnik (IT) und Telekommunikation zur Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT). Die Computer wurden miteinander verknüpft; Inhalte konnten so schnell untereinander ausgetauscht werden, wie es die Kapazität der Telekommunikationsinfrastrukturen erlaubte. 1992 wurde die Internationale Fernmeldeunion (ITU) gebildet.[5] Damit wurde eine Ära der raschen Deregulierung und Modernisierung von Telekommunikationsnetzen auf der ganzen Welt eingeleitet, verbunden mit einer Senkung der Preise und der Einführung von neuen Dienstleistungen, etwa der Mobiltelefonie. Im selben Jahr wurden erstmals SMS-Nachrichten versendet und das Internet gestartet, das von fünfzig Webservern im Januar 1992 auf über 500 im Oktober des Jahres anwuchs.[6] 1992 beseitigte Indien die Hindernisse, die es gegen den Export von Software errichtet hatte, und eröffnete die Möglichkeit, digitale Informationen in großem Maßstab zu verarbeiten.

Damit war der Weg frei für die Entwicklung einer globalen Arbeitsteilung in der Informationsverarbeitung. Es wiederholte sich ein Prozess, der in der vorangegangenen Periode mit dem Auftreten der Fabrikarbeit begonnen hatte. Diese Entwicklung vollzog sich natürlich nicht über Nacht. Es gab viele Stolpersteine auf dem Weg: Frühe Anwender von IKT-gestütztem Offshore-Outsourcing sahen sich vielen Problemen gegenüber, die unter anderem durch technische Inkompatibilitäten zwischen verschiedenen Systemen, durch unzureichende Infrastruktur, Kommunikationsprobleme, kulturelle Unterschiede und den Widerstand von Arbeitern und Managern entstanden sowie durch die Schwierigkeit, komplexe Prozesse zu standardisieren, die in hohem Maße auf dem impliziten Wissen der Arbeitenden beruhten.

Die Verbreitung globaler Sprachen und von Computerkenntnissen benötigte einige Zeit, obwohl sie von nationalen und internationalen Organisationen aktiv vorangetrieben wurde. Trotzdem war in den 1990ern ein stetiges Wachstum des „Offshore Outsourcing“ in den sich entwickelnden Regionen Indiens und anderen Teilen Asiens und Lateinamerikas zu beobachten. Unterstützt wurde dies nicht nur durch ein allgemeines Wachstum standortungebundener Dienstleistungen, wie etwa Call-Centern, sondern auch durch den Bedarf nach breit angelegtem und routiniertem Software-Engineering im Zusammenhang mit Vorgängen wie der Umstellung europäischer Währungen auf den Euro, der explosiven Expansion des Internets und dem medial vielfach aufgebauschten „Millenium Bug“[7].

Gleichzeitig war dies eine Phase fieberhaften Wachstums und ökonomischer Instabilität. In die Mitte der 1990er Jahre fielen Aufstieg und Absturz der Wirtschaften in den „Asiatischen Tigerstaaten“. Am Ende des Jahrzehnts platzte die Dotcom-Blase. Trotzdem verbreiteten sich IKT rund um den Globus, Industrien und Unternehmen entstanden, die auf ihren Anwendungen beruhten. Es gab eine „neue Art multinationaler Konzerne“, wie sie die UNCTAD 2004 beschrieb.[8] Diese spezialisierten sich auf ausgelagerte Businessdienstleistungen, sie umfassten globale Telekommunikationsanbieter, Medienkonglomerate und gigantische Konzerne, die sich damals noch in ihren Anfängen befanden und die heute das Internet beherrschen.

Gegen Ende dieser Phase war die digitale Kommunikation ein selbstverständlicher Teil des Alltagslebens geworden (wie die Nutzung des Telefons ein Jahrhundert zuvor). Während sich die Konsumenten daran gewöhnten, Waren online zu bestellen, wurden die Manager von ihren Vorgesetzten gefragt, warum sie eine Kostenreduktion durch Auslagerung nicht in Betracht gezogen hatten. Unmerklich etablierte sich die Idee, Arbeit sei etwas Grenzenloses und „Virtuelles“. Mit der zunehmenden Nutzung von Emails (die an jedem Ort gelesen werden können) erodierte die Grenze zwischen dem Wohnung und Arbeitsplatz. Die formell mit Arbeit verbrachten Stunden fielen weniger ins Gewicht angesichts von „Flexibilitätsanforderungen“, nach denen Arbeitende in wachsendem Maße gemanagt und bezahlt wurden und die Eingang in Arbeitsplatzbeschreibungen fanden. Von jungen Menschen wurde erwartet, dass sie unbezahlte „Arbeitserfahrungen“ machen, ehe sie in den Arbeitsmarkt eintreten. Andere begannen, das Internet für Aktivitäten zu nutzen, die sich zweideutig zwischen „Arbeit“ und „Spiel“ bewegten. Fast unmerklich verschwanden viele der Parameter, die Arbeit in früheren Perioden definiert hatten.

Diese Periode endete abrupt mit der globalen Finanzkrise von 2007/2008. In deren Folge war die Arbeitswelt plötzlich sehr verändert. Die Kombination von drakonischen Sparmaßnahmen mit einem Niveau von Arbeitslosigkeit, das höher lag als zu irgendeiner Zeit seit der Großen Depression der 1930er-Jahre, eröffnete jungen Menschen kaum andere Möglichkeiten als das hinzunehmen, was der Arbeitsmarkt ihnen bot. Diese Generation war mit der IKT als einem selbstverständlichen Teil des Alltagslebens aufgewachsen. Sie war so vertraut mit Sozialen Medien, Onlinespielen und SMS, wie es ihre Großeltern mit Stift und Papier waren. Selbst wenn ihre Arbeit manuell war oder im Kundenkontakt stattfand, erwartete man von jungen Menschen, dass sie IKT für Dinge nutzten wie das Ausfüllen von Bewerbungsunterlagen oder die Kommunikation mit ihren Vorgesetzten. Mit anderen Worten, IKT war ein selbstverständlicher Teil der Arbeitswelt geworden. Das Verschwinden klarer Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit und die Erosion der die Arbeit beherrschenden formellen Regeln verbreiteten sich, obwohl noch nicht allgemein, besonders an neu entstehenden Arbeitsplätzen. Diese verschwimmenden Grenzen beschränkten sich keinesfalls auf Onlinearbeit. Vielmehr gab es eine Generation, die schon davon geprägt war, die wechselseitige Durchdringung von „Spaß“, „Bildung“ und normaler Arbeit im Netz zu akzeptieren, und die schlecht dafür gerüstet war, ein derartiges Aufweichen in Bezug auf andere Bereiche zu hinterfragen.

Neue Widersprüche

Nach der Krise war es, als sei die Welt in einer grundsätzlich anderen Realität erwacht. Zuvor schon evidente, aber noch nicht dominierende Trends bildeten eine neue Normalität. Die neue Welt war in unvorhergesehenem Maße von wenigen multinationalen Konzernen beherrscht. Diese Konzerne unterschieden sich in mehrerer Hinsicht von denen früherer Epochen. Ein Blick auf das Ranking der Weltkonzerne beweist einige dieser Trends. Zunächst wird die neue Unternehmenswelt nicht mehr ausschließlich durch die USA, Europa und Japan beherrscht. Unternehmen aus Volkswirtschaften der Schwellenländer spielen eine zunehmend wichtige Rolle für die Schärfung der Konturen einer globalen Ökonomie und daher auch von globalen Arbeitsmärkten. Nicht weniger als 61 der „Fortune 500“ sind in China angesiedelt.[9] Das Ranking „Fortune 500“ orientiert sich an den Umsätzen der Unternehmen, wodurch deren Bedeutung überschätzt werden könnte. Doch selbst das Ranking der Financial Times, das auf Marktwerten beruht, listet 23 chinesische Unternehmen unter den Top 500, zwölf stammen aus Indien, zehn aus Brasilien, acht aus Russland und fünf aus Mexiko.[10] Forbes listete drei chinesische Unternehmen in den globalen Top Ten von 2013.[11]

Viele dieser Unternehmen operieren darüber hinaus in Bereichen, die früher als national angesehen wurden. Sie betreiben ehemals staatliche Versorger (einschließlich Telekommunikationsunternehmen, Elektrizitätswerke, Wasserversorger und Postunternehmen) und vermarkten öffentliche Dienste wie Gesundheit, Bildung und Personaldienstleistungen für die öffentlichen Verwaltungen. Ebenso unterhalten sie Massenmedien, die einst in die Domäne nationaler Rundfunkanstalten fielen, sowie nationale oder regionale Zeitungen und kleine oder mittelgroße Verlage. All diese und weitere Felder, darunter auch Einzelhandelsketten, werden von riesigen Unternehmenskonglomeraten beherrscht. Unter den Top 500 der Financial Times finden sich 17 globale Mobilfunkunternehmen, 15 Telekommunikationsunternehmen, 15 Software- und Mikroelektronikhersteller und elf Gesundheitsdienstleister. Beratungs- und Zeitarbeitsfirmen haben es auch in die Spitzenrankings geschafft: Accenture liegt auf Platz 385 in der „Fortune 500“, Adecco auf Platz 443.

Mit größerer Wahrscheinlichkeit als früher arbeiten junge Berufsanfänger für einen dieser Giganten, und zwar in unmittelbarem Wettbewerb mit ähnlich qualifizierten Beschäftigten auf dem ganzen Erdball. Unabhängig davon, wo sie herkommen, sind sie Teil einer globalen Reservearmee, auf die Unternehmer in zweifacher Weise zugreifen können: durch Auslagerung oder durch Migration.[12] Die Verhandlungsmacht dieser Arbeitenden gegenüber ihren Vorgesetzten ist deshalb dramatisch gering, verglichen mit jener ihrer Vorgänger in früheren Epochen, und ihr Leben als Beschäftigte und Konsumenten wird zunehmend geprägt durch diese Unternehmen, oft in einer Weise, in die lokale Regierungen kaum eingreifen können.

Natürlich verlaufen diese Entwicklungen nicht ohne Widersprüche. Es wäre viel zu vereinfachend, einen einzigen allgemeinen Trend zu unterstellen – eine Abwärtsspirale ohne jede Gegentendenz. Solche Widersprüche finden sich auf verschiedenen Ebenen: zwischen Nationen, Unternehmen, zwischen Staaten und Unternehmen zwischen Unternehmen und Arbeitenden und innerhalb jeder dieser Einheiten. Ich gebe hier nur ein paar überblicksartige Beispiele.

Auf der Ebene der nationalen Regierungen hat die Mobilität des Kapitals neue Formen des Wettbewerbs um ausländische Direktinvestitionen zwischen den Ländern eingeführt. Es ist klar, dass die Internationalisierung des Kapitals und die Globalisierung der Märkte zu einer dramatischen Verringerung der Fähigkeit der nationalen Regierungen geführt hat, Kontrolle über das Kapital auszuüben, wie es, zumindest in den mächtigeren imperialistischen Nationen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts möglich war. Ich beziehe mich hier auf Dinge wie die Antitrust-Gesetze, die Staaten in die Lage versetzten, Monopole zu zerschlagen und Konzerne zu besteuern. Seitdem wurde eine Reihe von supranationalen Gremien errichtet, um die Weltwirtschaft zu managen, einschließlich der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Gremien großer Handelsblöcke, etwa die Europäische Union, die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA), der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und Mercado Común del Sur (MERCOSUR, der Gemeinsame Markt Südamerikas). Diese Institutionen waren darin erfolgreich, Vorschriften durchzusetzen, die offene nationale Märkte erzwingen und den freien Verkehr von Kapital, geistigem Eigentum und den Handel mit Waren und Dienstleistungen ermöglichen. Allerdings sind sie deutlich daran gescheitert, die Entwicklung von globalen Monopolen zu kontrollieren oder transnationale Konzerne daran zu hindern, ihre Beteiligungsgesellschaften in Steueroasen zu verlagern und mit Verrechnungspreisen und anderen Mechanismen eine Besteuerung in den Ländern, in denen sie tätig sind, zu vermeiden. Die Bereitschaft nationaler Regierungen, ihre Vermögenswerte zu privatisieren und ihre öffentlichen Dienste an profitorientierte Unternehmen zu vergeben, hat zu einem Verlust der Kontrolle über die Verwaltung dieser staatlichen Leistungen geführt. Nicht nur, dass man erlaubte, dass Gewinne über die nationalen Grenzen hinweg abflossen, sondern auch, dass man es den Unternehmen ermöglichte, sich die globale Arbeitsteilung zunutze zu machen, was zu einem Verlust von Arbeitsplätzen für die einheimischen Bürger und zu einer Belastung der nationalen Finanzen führte. Diese Entwicklungen produzierten eine Legitimationskrise der Regierungen, zumindest in einigen Staaten, und eröffneten einen Raum für alternative politische Forderungen.

Auch auf der Ebene der Unternehmen reißt die Globalisierung riesige Widersprüche auf. Die Vereinfachung von Arbeitsprozessen und –verfahren zur Herstellung von hoch standardisierten Produkten an Standorten mit geringen Regulierungen, fragwürdigen Einstellungen gegenüber geistigem Eigentum und billigen Arbeitskräften eröffnet den Marktzugang für neue Unternehmen, die weder durch irgendwelche Altlasten noch durch die Notwendigkeit zur Entwicklung neuer Produkte belastet sind. Dies erzeugt ein Wettbewerbsumfeld, das die Gewinne drastisch herabdrückt. Auch wenn sie vom Outsourcing eines Teils ihrer Produktion profitieren, haben Großunternehmen ein Interesse daran, Sweatshops zu regulieren, wenn deren Einsatz diese Art der Billigkonkurrenz hervorbringt. Um zu überleben müssen sie ihr geistiges Eigentum schützen und ständig neue, komplexere Produkte entwickeln, die nicht leicht nachgeahmt werden können und die wegen ihrer hohen Qualität verkauft werden können. Um dies tun zu können, brauchen sie qualifizierte und kreative Beschäftigte, die ihnen nicht nur helfen, innovativ zu sein, sondern die ihnen gegenüber auch loyal sind. Dies wiederum erzeugt einen weiteren Widerspruch: Auf der einen Seite versuchen sie, ihre hoch qualifizierten und kreativen Arbeitskräfte zu disziplinieren, deren geistiges Eigentum im Namen von „Wissens-“ und „Qualitätsmanagement“ abzuschöpfen und die Arbeitsprozesse zu vereinfachen und vereinheitlichen, andererseits müssen Konzerne die Motivation ihrer qualifizierten, kreativen Arbeitskräfte aufrechterhalten und zu neuen Ideen und einer hohen Arbeitsqualität anregen. Dies verschafft einigen Wissens- und Facharbeitern Zugang zu privilegierten Stellen auf dem Arbeitsmarkt und damit Verhandlungsmacht, während andere aus solchen Positionen verdrängt werden.

Dies sind einige der widersprüchlichen Eigenschaften eines neuen Terrains, auf dem sich Arbeit und Kapital im 21. Jahrhunderts gegenüberstehen. Ich hoffe, dass die Essays des neuen Bandes nicht nur zu einem besseren Verständnis dieser Verhältnisse beitragen, sondern auch die Fähigkeit der Arbeiterklasse verbessern, sich in diesen zu behaupten und Wege zu alternativen Zielen zu finden.

[1] Dieser Artikel ist eine überarbeitete Version der Einleitung zu diesem Buch „Arbeit in der digitalen Wirtschaft. Das Kybertariat kommt in die Jahre“ (Labor in the Digital Economy: The Cybertariat Comes of Age), Monthly Review Press, London 2014. (Übersetzung aus dem Englischen mit freundlicher Genehmigung von Monthly Review Press: Jörg Goldberg und Michael Zander. Zwischenüberschriften: Redaktion).

[2] Die niedrigen bzw. hohen Zahlen stammen jeweils aus: Bart Lannoo u.a., Overview of ICT Energy Consumption, Network of Excellence in Internet Science, 2013, http://internet-science.eu, and Mark P. Mills, The Cloud Begins with Coal: Big Data, Big Networks, Big Infrastructure, Big Power, report to the National Mining Association and American Coalition for Clean Coal Energy (Digital Power Group, August 2013), http://tech-pundit.com.

[3] Vgl. z.B. Bob Jessop, State Theory: Putting the Capitalist State in Its Place (Cambridge: Polity, 1990); Stephen A. Marglin and Juliet B. Schor, The Golden Age of Capitalism: Reinterpreting the Postwar Experience (Oxford: Oxford University Press, 1992); Alain Lipietz and David Macey, Mirages and Miracles: Crisis in Global Fordism (London: Verso, 1987); and Jean Fourastie, Les Trente Glorieuses, ou la révolution invisible de 1946 à 1975 (Paris: Fayard, 1979).

[4] In der EU etwa beseitigte eine erste „Utilities Directive” (90/351) die Hindernisse für den Marktzugang in den Bereichen Energie, Telekommunikation, Transportwesen und Wasser. Eine Dienstleistungsverordnung etablierte 1992 das Prinzip, dass öffentliche Dienstleistungen auf dem Markt beschafft werden müssten.

[5] (Das ist nicht ganz korrekt. 1992 wurde die Konstitution und Konvention der Internationalen Fernmeldeunion verabschiedet. Die Gründung der ITU datiert bereits auf das Jahr 1865 – Red.)

[6] Dave Raggett, Jenny Lam, and Ian Alexander, HTML 3: Electronic Publishing on the World Wide Web (Boston: Addison-Wesley, 1996).

[7] Einige dieser Entwicklungen und ihre Implikationen wurden erörtert in Labor and the Digital Economy, Kapitel 2.

[8] UNCTAD, World Investment Report 2004: The Shift Toward Services (New York and Geneva: UNCTAD, 2004).

[9] CNN Money, 30.7.2013.

[10] Financial Times, 2013.

[11] Forbes, 17.7.2013.

[12] Zur komplexen Beziehung zwischen Standortverlagerung und Migration siehe U. Huws: Bridges and Barriers: Globalisation and Mobility of Work and Workers. In: Work Organisation, Labour and Globalisation 6, Nr. 2 (2012): 1–7.