Eisenbahnerstreik und Tarifeinheitsgesetz

von Rolf Geffken
September 2015

1. Der Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn 2014/2015

Die Ausgangslage

Der jüngste Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn (DB) dauerte fast ein Jahr. Während die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) neben 5 Prozent mehr Lohn und Gehalt Überstundenbegrenzungen, eine Verbesserung der Schichtfolge und eine Arbeitszeitverkürzung auf 38 Stunden schon im Juni 2014 verlangte, lag der Schwerpunkt der im August 2014 aufgestellten Forderungen der Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bei einer Gehaltserhöhung um 6 Prozent mit einem Mindestbetrag von 150 Euro pro Monat. Verhandlungen über Arbeitszeiten und vier weitere Arbeitsbedingungen wollte die EVG den Betriebsräten überlassen.

Der eigentliche Unterschied der Forderungen der beiden Gewerkschaften lag in der Ausgangslage der Organisationen. Während die GDL nicht mehr nur für die etwa 20.000 Lokführer bei der DB verhandeln wollte, sondern sich auch zuständig erklärte für die etwa 17.000 Zugbegleiter, Disponenten und Rangierführer, verlangte die EVG die Einbeziehung der bei ihr organisierten Lokführer in ihre Tarifverträge und lehnte konkurrierende Tarifregelungen für eine Berufsgruppe strikt ab.

Exakt in diesem Punkt stimmten Deutsche Bahn und EVG überein. Von Anfang an führte die Deutsche Bahn deshalb eine Auseinandersetzung mit dem Ziel der „Tarifeinheit“ bei der Bahn. Dass dieses Ziel zugleich mit dem Projekt eines Tarifeinheitsgesetzes der amtierenden Bundesregierung kompatibel war, machte den Konflikt der GDL mit der DB schon frühzeitig zu einem Politikum.

Der Anti-GDL-Kurs der DB

Der DB ging es von Anbeginn an darum, den Zuständigkeitsbereich und die Verhandlungsmacht der GDL in Frage zu stellen. Schon bei der zweiten Tarifverhandlung am 31.07.2014 erklärte sie, mit der GDL nur über die Arbeitsbedingungen von Lokomotivführern verhandeln zu wollen.

Nach insgesamt fünf Streiks, darunter zwei Warnstreiks noch im Sommer 2014, erklärte die DB in der 5. Tarifverhandlung am 21.11.2014 erstmals, nicht auf einer Tarifeinheit zu Lasten der GDL zu bestehen, sondern sie – allenfalls indirekt – durch doppelt bilaterale Verhandlungen (mit GDL und EVG) zu erzeugen. Allerdings: nur sieben Tage später bestand die DB – möglicherweise aufgrund einer Intervention seitens der Politik – wieder auf Tarifeinheit. Zuvor hatte die DB beim Arbeitsgericht Frankfurt am 06.11.2014 und anschließend am 07.11.2014 auch beim Landesarbeitsgericht Hessen ein gegen den GDL-Streik gerichtetes Eilverfahren verloren.[1] Am Tag der Verkündung der Entscheidung kam es zu einer Demonstration des Zugpersonals vor der DB-Zentrale in Berlin.

Während der gesamten Zeit des Konflikts nahm die EVG beim Streit um die „Tarifeinheit“ Partei für das Unternehmen. Auch in der Diskussion um das Tarifeinheitsgesetz stellte sich die EVG auf den Standpunkt, dass die Herstellung von Tarifeinheit gewerkschaftlichen Grundsätzen entspräche und das geplante Gesetz diesen Grundsätzen diene. Tatsächlich verhinderte die EVG durch ihre eigene Strategie sogar einen inhaltlichen Gleichklang zwischen den beiden Gewerkschaften, indem sie am 14.01.2015 plötzlich eigene Forderungen nachschob und so inhaltsgleiche Tarifverträge unmöglich machte.

Parallel dazu betrieb die DB eine Medienkampagne, in der sie immer wieder von den sachlichen Differenzen mit der GDL abzulenken versuchte und auf polemische Weise die Organisation selbst an den Pranger stellte. Dieses Vorgehen knüpfte zum einen an der Unzufriedenheit der vom Streik betroffenen Fahrgäste an und diente zum anderen der Strategie der Ausgrenzung der GDL. Nur wenige Medien erkannten zu diesem Zeitpunkt das Faktum an, dass es der GDL in ihrem Kampf vor allem um ihre eigene Existenz als Gewerkschaft und damit um die Sicherung ihres kollektiven Grundrechts auf Koalitionsfreiheit ging. Dieser Konflikt musste sich zwangsläufig umso mehr zuspitzen, je näher der Termin der Abstimmung über das Tarifeinheitsgesetz im Bundestag rückte. Mit Inkrafttreten des Gesetzes nämlich wäre die GDL als „Minderheitsgewerkschaft“ nur noch in der Lage gewesen, in den Betrieben der DB die Tarifverträge der EVG „nachzuzeichnen“.[2]

Unbefristeter Streik

Nach 16 Tarifverhandlungen kam es schließlich in der Zeit vom 21.04.2015 bis 24.04.2015 und vom 04.05.2015 bis 10.05.2015 zu befristeten Streiks, danach am 19.05.2015 zu einem vorerst unbefristeten Streik. Gemäß den Forderungen der GDL nahmen an den Streiks keineswegs nur Lokomotivführer, sondern auch Angehörige des Fahrpersonals teil, soweit sie Mitglieder der GDL waren. Bis zu diesem Zeitpunkt waren im Güterverkehr 419 Stunden und im Personenverkehr 354 Stunden wegen des Streiks ausgefallen.[3] Während in Ostdeutschland der Streik zu etwa 80 Prozent befolgt wurde und auch eine entsprechend hohe Anzahl von Zügen ausfiel, fuhr in Westdeutschland immerhin noch etwa ein Drittel der Züge. Die Ursachen dafür lagen vor allem in dem in Westdeutschland relativ hohen Anteil beamteter Lokomotivführer sowie in der Tatsache, dass die Regionalzüge der privaten Bahngesellschaften, wie z. B. Metronom, EVB, Nordwestbahn usw., von den Streiks nicht betroffen waren.

Die GDL beteiligte sich während der Tarifverhandlungen – anders als die EVG – auch an politischen Aktionen und Demonstrationen gegen das Tarifeinheitsgesetz und für die Verteidigung des Streikrechts. So sprach etwa der stellvertretene Vorsitzende der GDL Norbert Quitter (u. a. neben dem Verfasser) auf der Kundgebung „Hände weg vom Streikrecht“ am 18.04.2015 in Frankfurt.[4] Viele Untergliederungen von DGB-Gewerkschaften erklärten sich mit dem Kampf der GDL solidarisch. Auch in sozialen Netzwerken kam es zum Schulterschluss mit bis dahin gegenüber der GDL distanzierten Gewerkschaften. Auch die vom Streik betroffenen „Dritten“, also Fahrgäste u. a., standen dem Streik keineswegs so ablehnend gegenüber wie in einigen Medien immer wieder behauptet. So gelang es beispielsweise innerhalb von 10 Tagen für eine Online-Petition über 10.000 Unterschriften zu Gunsten einer Solidaritätserklärung für die GDL und gegen das Tarifeinheitsgesetz zu sammeln.[5]

Am 20.05.2015 kam es – für viele überraschend – schließlich zu einer Schlichtungsvereinbarung der GDL mit der DB. Dabei gelang es der GDL, vorab die Zustimmung dafür zu erhalten, dass sie Tarifverträge für alle Mitglieder (also auch für Mitglieder außerhalb des Tätigkeitsbereichs der Lokführer) abschließen konnte und dass keine einheitlichen Tarifverträge abgeschlossen werden müssten. Dies war ungeachtet des späteren Schlichtungsergebnisses bereits ein Erfolg der GDL und auch ein Erfolg im Kampf gegen die Anwendung des fast zeitgleich vom Bundestag verabschiedeten Tarifeinheitsgesetzes.

Das Schlichtungsergebnis

Nach sechs Wochen lag das unter dem Vorsitz der Schlichter Bodo Ramelow und Matthias Platzeck zustande gekommene Ergebnis der Schlichtung vor: Der GDL wurde das uneingeschränkte Recht zugestanden, eigene Tarifverträge für ihre Mitglieder abzuschließen, und zwar nicht nur für das Lokpersonal, sondern auch für das Fahrpersonal. Neben Lohnerhöhungen kam es zur Vereinbarung einer „Überstundenbremse“ und einer Arbeitszeitverkürzung sowie der Zusage von Neueinstellungen im erheblichen Umfang. Damit endete dieser Arbeitskampf mit einem deutlichen Erfolg für die GDL. Zu Recht fand Jörn Böwe hierfür das Fazit: „Wer streikt, kann gewinnen.“[6] Bemerkenswert an dem Ergebnis war auch das Schlichterduo Platzeck/Ramelow. Dass die GDL den ersten „linken Ministerpräsidenten“ der Bundesrepublik als Schlichter benannte, dürfte auch mit dessen Biographie zusammenhängen. Er war viele Jahre Sekretär der Gewerkschaft HBV. Ramelow spendete – für einen Schlichter ungewöhnlich genug – sein Schlichterhonorar zwei gemeinnützigen Einrichtungen in Thüringen. Er bezeichnete seine Tätigkeit insoweit als „vollständig ehrenamtlich“.[7] Etwas, was bei Schlichtungsverfahren vergangener Zeiten nicht vorgekommen ist.

EVG im Windschatten des Streiks

Im Windschatten des Konflikts mit der GDL hingegen verlief die Tarifrunde mit der EVG. Ihre Verhandlungen mit der DB hatten allenfalls rituellen Charakter. Auch wenn Streiks angekündigt wurden, so war doch von Anfang an klar, dass die DB – auch aus politischen Gründen – es nicht auf einen Arbeitskampf mit der EVG ankommen lassen würde. Umgekehrt: Die EVG verkündete bei Bekanntgabe ihres Ergebnisses (5,1 Prozent Lohnerhöhung in zwei Stufen bis 2016 und 120 Euro Mindestbetrag), „dass ein guter Tarifabschluss auch am Verhandlungstisch erzielt“ werden könne.[8] Gegen wen diese Äußerung gerichtet war, ist klar: Der GDL war ja vom DB-Vorstand im Rahmen der gegen diese Gewerkschaft gerichteten Kampagne vorgeworfen worden, „gar nicht zu verhandeln“, also „nur“ zu streiken. Tatsächlich wäre das Tarifergebnis der EVG aber ohne den GDL-Streik so nicht zustande gekommen. Hinzu kommt, dass der EVG trotz ihrer weitaus größeren Möglichkeiten keine Akzentsetzung in dem Tarifkonflikt gelang. Arbeitszeitverkürzungen zum Gegenstand von Betriebsvereinbarung mit Betriebsräten zu machen, bedeutet, auf Streiks bereits institutionell zu verzichten. Betriebsräte können keine substantiellen Arbeitszeitverkürzungen kampfweise durchsetzen. Außerdem kann auf diese Weise das angeblich selbst gesteckte Ziel einer „Tarifeinheit“ selbst innerhalb des Tarifwerkes der EVG nicht erreicht werden kann. Der Rekurs der EVG in ihren eigenen Verlautbarungen auf die „Solidarität der Eisenbahnerfamilie“ lässt sich vor diesem Hintergrund nicht etwa als „Kampf um Tarifeinheit“, sondern als Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft mit dem Unternehmen DB interpretieren.

Einschätzung des Streiks der GDL

Am GDL-Streik bewahrheitete sich wieder einmal die Erkenntnis, dass die Gegenwehr der Unternehmer bei Streiks sehr wohl auch auf dessen Verlängerung und künstlicher Ausweitung beruhen kann. Vor allem dann, wenn es einem Großunternehmen oder einer mächtigen Arbeitgebervereinigung darum geht, eine Gewerkschaft zu bekämpfen und deren Spielraum für künftige Auseinandersetzungen einzuengen. In solchen Fällen spielen die Kosten des Produktionsausfalls oder Gewinnverluste nur eine untergeordnete Rolle. Der Streik wird damit zum Politikum. In diesem Fall hatte der DB-Vorstand offenbar darauf spekuliert, dass die Dauer des Streiks letztlich der GDL schaden würde, d. h., dass sich die Stimmung in der Öffentlichkeit gegen die GDL und gegen die Streikenden richten würde oder dass es mindestens zu Zerwürfnissen innerhalb der Gewerkschaftsführung oder zu Widerstand der Basis gegen die Führung kommen würde. Mit einer beispiellosen Kampagne der Leitmedien wurde diesem Ziel nachgeholfen. Die Ablichtung des Klingelschildes der Familie Weselsky bei FOCUS Online bildete den vorläufigen Tiefpunkt der Kampagne. Gleichzeitig rechnete man damit, dass die Verlängerung der Auseinandersetzung über das Datum der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes hinaus die GDL in die Enge treiben und sie in ihrer Existenz bedrohen würde.

Doch diese Strategie scheiterte. Die GDL und ihr Vorsitzender blieben standhaft. Basis und Führung rückten noch mehr als zuvor zusammen. Die vom Bahnvorstand, führenden Politikern und bestimmten Medien forcierte Politisierung des Konflikts und die offene Bekämpfung der GDL führten zu einer ungeahnten Welle der Solidarität und nicht zuletzt auch zu wachsendem Verständnis bei vielen Bahnkunden. Mit zunehmender Dauer des Konflikts wechselten einige Leitmedien auch im Inhalt ihre Berichterstattung und äußerten schließlich Verständnis für die GDL, da diese um ihre Existenz kämpfe.[9] Allein deshalb muss dieser Streik als bemerkenswerter, schwer erkämpfter Erfolg einer kleinen aber kämpferischen Gewerkschaft gelten. Es ist bekannt: Der GDL-Vorsitzende gehört (noch?) der CDU an. Die Gewerkschaft ist eine so genannte Berufsgewerkschaft, organisierte früher beamtete Lokführer und gehört noch heute dem Deutschen Beamtenbund an. Welche Bedeutung haben diese Umstände für die Einschätzung des Streiks? Die Antwort des Verfassers ist eindeutig: Keine. Umgekehrt: Die Tatsache, dass einige Gewerkschafter und auch Linke ihnen immer noch eine Bedeutung beimessen, wirft eher die Frage auf, welches Gewerkschaftsverständnis diese Kritiker haben.

Allerdings: Die Haltung der GDL in dem letzten Arbeitskonflikt bewirkte bei vielen früheren Kritikern einen Sinneswandel. So sprach sich der Bundestagsabgeordnete und ehemalige IG Metall-Sekretär Klaus Ernst wiederholt für Solidarität mit der GDL aus. In einer Phase, in der sogar bürgerliche Ökonomen den „Nachholbedarf“ bei den Löhnen propagieren und damit die Gewerkschaften deutlich auffordern ,aktiver zu werden, wirkte der GDL-Streik wie ein Fanal an viele bis dahin (und teilweise auch weiterhin) deutlich weniger aktive DGB-Gewerkschaften.

Der Eisenbahnerstreik der GDL war im besten und ursprünglichen Sinn: Bewegung. Er stärkte nicht nur die GDL, sondern auch die Kampfbereitschaft aller Eisenbahner und vor allem die innergewerkschaftliche Debatte um das „Kampfmittel Streik“. Dass dieser Streik zusammenfiel mit dem gegen das Streikrecht gerichteten Tarifeinheitsgesetz, war zwar einerseits eine höchstgefährliche Konstellation für die GDL, andererseits aber trug der Streik zu einer Mobilisierung gegen das Gesetzesvorhaben und zu einer Wiederbelebung der Streik- und Streikrechtsdebatte innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften bei.

2. Das Tarifeinheitsgesetz

Die Idee eines Tarifeinheitsgesetzes stammte nicht von der Bundesregierung, sondern von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und dem DGB. Mit diesem Gesetz sollte die angebliche „Macht der Spartengewerkschaften“ gebrochen und der „Gefahr“ angeblich ausufernder Streiks begegnet werden. Insofern war diese Idee von Anfang an auch und vor allem gegen die GDL gerichtet. Ein Gesetzgebungsverfahren wurde aber erst nach Zustimmung der SPD innerhalb der Großen Koalition eingeleitet. Damit wurde erstmals in Deutschland das Grundrecht der Koalitionsfreiheit durch ein eigenes Gesetz gezielt beschränkt.[10] Das Gesetz wurde allen Warnungen von Verfassungsjuristen zum Trotz verabschiedet. Es erklärt indirekt die Durchführung von Streiks seitens einer so genannten „Minderheitsgewerkschaft“ im Betrieb für rechtswidrig, weil solche Gewerkschaften keine eigenen Tarifverträge mehr abschließen können. Damit wird in massiver Weise in das Grundrecht auf Streik ebenso wie in das Koalitionsgrundrecht eingegriffen.[11]

Die GDL, der Deutsche Beamtenbund und der Marburger Bund (der Zusammenschluss der Krankenhausärzte) bereiten Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz vor. Die Gewerkschaft ver.di ist vom Gesetz vor allem im Gesundheitssektor selbst betroffen, da der Organisationsgrad des Pflegepersonals oftmals unter dem der Ärzte liegt und die größte Dienstleistungsgewerkschaft der Welt damit „zur Minderheitsgewerkschaft“ werden kann. Die Folge könnte ein tarifloser Zustand für das Pflegepersonal sein, weil der Marburger Bund nicht gedenkt, seinen Organisationsbereich auszuweiten. Generell zwingt das Gesetz die Minderheitsgewerkschaften zu einer stärkeren Durchsetzung ihrer Interessen und vertieft damit die Konkurrenz unterschiedlicher Gewerkschaften. Noch vor Inkrafttreten des Gesetzes trat dieser Effekt auch im GDL-Streik zu Tage. Das Gesetz kann und wird also weder das selbst gesteckte Ziel einer angeblichen „Tarifeinheit“ noch einer „Befriedung“ von Arbeitskonflikten erreichen. Im Gegenteil: Es wird vorhandene Spaltungen vertiefen und Konflikte aus politischen und nicht aus ökonomischen Gründen zusätzlich verschärfen. Für diese Entwicklung tragen ohne jeden Zweifel die IG Metall und die IG Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) eine besondere Verantwortung, da sie sich eindeutig für das Gesetz aussprachen, während ver.di, GEW und NGG das Gesetz ablehnten (allerdings ohne rechtliche Schritte nach seinem Inkrafttreten zu erwägen).

Auf erstaunliche Weise konterkarierte schon die Schlichtungsvereinbarung zwischen GDL und Deutscher Bahn das ursprünglich im Tarifkonflikt instrumentalisierte Gesetzesvorhaben: Obwohl das Gesetz deutlich die Züge eines „lex GDL“ trägt und der gesamte Konflikt auch während der Gesetzgebungsdebatte instrumentalisiert wurde, ja diesen Konflikt sogar verschärfte, ist die Zusicherung der Eigenständigkeit von GDL-Tarifverträgen seitens der DB eine vom Gesetz nicht vorgesehene Ausnahme vom Prinzip der Tarifeinheit. Auf diese Weise konterkarierte die Schlichtung noch vor ihrem Ende das Gesetz in geradezu exemplarischer Weise.

Chimäre Tarifeinheit

Soweit einige der DGB-Gewerkschaften sich gegen das Tarifeinheitsgesetz aussprachen, krankte deren Kampagne von Anfang unter der widersprüchlichen Losung „Für Tarifeinheit – gegen das Tarifeinheitsgesetz!“. In diesem Slogan sollte ein Konsens mit den übrigen DGB-Gewerkschaften vorgespiegelt werden. Dieser Konsens bezog sich auf das angeblich politisch richtige Ziel der Tarifeinheit, das man aber nicht mit staatlicher Hilfe durchsetzen solle. Tarifeinheit sei angeblich ein Grundwert gewerkschaftlicher Politik und habe sich in der Vergangenheit „bewährt“. So lautet insoweit die einheitliche Auffassung aller DGB-Gewerkschaften und übrigens auch vieler Linker. Tatsächlich ist insbesondere der Hinweis auf die angebliche „Bewährung“ empirisch falsch. Nur wenige Beispiele seien genannt: Im Bereich der deutschen Seehäfen existieren fast 50 unterschiedliche Tarifverträge, wobei alle von ein und derselben Gewerkschaft, nämlich von ver.di, abgeschlossen wurden. In einem einzigen Arbeitsbereich sind gleichzeitig fast immer mindestens drei Tarifverträge gleichzeitig auf unterschiedliche Beschäftigtengruppen am selben Arbeitsplatz anzuwenden: Zum einen die Tarifverträge etwa für die festangestellten Beschäftigten der Lagerhausgesellschaften, zum anderen die Tarifverträge für die Beschäftigten des Gesamthafenbetriebes und daneben sogar reine Zeitarbeitstarifverträge für Leiharbeiter (wie z. B. in Cuxhaven der Tarifvertrag mit der DGB-Arbeitsgemeinschaft Zeitarbeit). Auf diese Weise wurden und werden unterschiedliche Standards der Beschäftigten „reguliert“, nämlich relativ sichere Standards bei den Beschäftigten klassischer Hafenfirmen, reduziertere Standards bei den GHB-Beschäftigten und Substandards bei so genannten Zeitarbeitskräften. Alles mit Zustimmung des DGB oder der DGB-Gewerkschaften. Hinzu kommt die Vielzahl von abweichenden Sonderbestimmungen (beispielsweise für die Autoverladung, Sonderregelungen für einzelne Häfen und vor allem Abweichungen nach unten durch Betriebsvereinbarungen). Charakteristisch für all diese Bereiche ist die extreme Diversifizierung, d. h. die Aufspaltung der Belegschaften in unterschiedlichste Beschäftigtengruppen. Ist das die „Tarifeinheit“, die sich angeblich bewährt hat?

In vielen Industriebetrieben arbeiten bereits bis zu 50 Prozent der Arbeiter in der Produktion im Rahmen von Werkverträgen. Trotz arbeitsteiligen Zusammenwirkens existieren völlig unterschiedliche Arbeitsbedingungen. Die IG Metall hat mit einigen dieser Werkvertragsfirmen sogar eigene Tarifverträge (zu Substandards) abgeschlossen.[12]

Werkverträge haben die bisherige Leiharbeit vielfach ersetzt. Dies deshalb, weil die Arbeitsgerichte Leiharbeit auf eine vorübergehende Tätigkeit beschränken. Und dennoch werden immer noch in allen Wirtschaftsbereichen Beschäftigte zu Leiharbeitsbedingungen eingesetzt. Während das Gesetz die Einhaltung des Grundsatzes „equal pay“ verlangt, dürfen Tarifverträge davon abweichen und die DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit macht hiervon Gebrauch.

Schließlich werden ganz legal „outgesourcte“ Beschäftigte zu anderen Arbeitsbedingungen eingesetzt, z. B. wenn Servicegesellschaften im Krankenhauswesen bestimmte Abteilungen übernehmen. Die Beibehaltung „alter“ tariflicher Regelungen hat dann eine „Tarifpluralität“ im Interesse der Beschäftigten zur Folge. „Tarifeinheit“ wäre hier nur im Interesse der Unternehmen.

Es kommt aber letztlich gar nicht darauf an, ob die DGB-Gewerkschaften ihr angeblich selbst gestecktes Ziel einer Tarifeinheit jemals haben erreichen wollen oder aber umgekehrt dieses praktiziert haben. Viel entscheidender ist, dass Tarifeinheit als solche überhaupt kein Maßstab sein kann. Entscheidend bleibt der Inhalt von Tarifverträgen und die Frage, inwieweit Tarifverträge insgesamt und im Ergebnis zu einer Verbesserung von Arbeitsbedingungen beitragen. Das tun Tarifverträge bzw. betriebliche Vereinbarungen, die beispielsweise die Arbeitszeitverkürzung Betriebsräten überlassen wollen (wie von der EVG vorgeschlagen) mit Sicherheit nicht.

Der GDL-Streik hat deshalb nicht nur die Debatte um die Verteidigung und Durchsetzung des Streikrechts vertieft, er hat vielmehr auch prinzipielle Fragen nach der Zukunft der Gewerkschaften und dem Inhalt von Tarifverträgen gestellt. Die Zeit pauschaler und formelhafter Bekenntnisse zu „Einheitsgewerkschaft“ und „Tarifeinheit“ ist vorbei. Es stellt sich vielmehr die Frage, welche Organisationen unter welchen Bedingungen und auf welche Weise zu einer verstärkten Bewegung beitragen und wie das diese Bewegung zugrunde liegende Grundrecht der Koalitionsfreiheit im Interesse aller Beschäftigten gesichert werden kann.

[1] LAG Hessen, Urteil vom 07.11.2014, Az. 14 SaGa 1496/14.

[2] Vgl. den inzwischen in Kraft getretenen § 4a Abs. 4 Tarifvertragsgesetz.

[3] Sämtliche diesbezüglichen Daten beruhen auf Mitteilungen des GDL-Bundesvorstands an den Verfasser.

[4] Der Text der Rede des Verfassers mit dem Titel „Streikrecht wahrnehmen – Tarifeinheitsgesetz verfassungswidrig“ findet sich unter: http://www.drgeffken.de/index.php?id=aktuelleinfos&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=326&tx_ttnews[backPid]=1.

[5] Vgl.: http://www.drgeffken.de/index.php?id=aktuelleinfos&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=330& tx_ttnews[backPid]=1.

[6] J. Böwe, Ein gutes Ende, in: junge Welt“ vom 02.07.2015.

[7] Thüringische Landeszeitung vom 02.07.2015.

[8] www.evg-online.org (Presseerklärung vom 27.05.2015).

[9] Hans-Ulrich Jörges, Stern vom 07.05.2015: Dieser Streik muss ausgesessen werden. „Wenn die GDL jetzt einknickt, könnte das geplante Tarifeinheitsgesetz das Ende kleinerer Gewerkschaften bedeuten.“

[10] Vgl. R. Geffken, Tarifeinheitsgesetz steht auf tönernen Füssen, in: Ossietzky, Nr. 12, vom 06.06.2015, S. 420 ff.

[11] Vgl.: Juristen gegen das Tarifeinheitsgesetz (bundesweiter Aufruf von 34 Arbeitsrechtlern) in: http://www.drgeffken.de/index.php?id=aktuelleinfos&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=305&tx_ttnews[backPid]=68.

[12] Vgl. R. Geffken, Vom Kampf gegen Werkverträge. Das Fallbeispiel VW-Konzern. Ein Zwischenbericht, in: Kritische Justiz 2/2014, S. 196 ff.