Buchbesprechungen

Intellektuelle in der frühen DDR

von Günter Benser zu Siegfried Prokop
Dezember 2010

Siegfried Prokop, Intellektuelle in den Wirren der Nachkriegszeit. Die soziale Schicht der Intelligenz der SBZ/DDR. Teil 1 1945-1955 ( Schriften zur Geschichte des Kulturbundes Bd. III), Kai Homilius Verlag, Edition Zeitgeschichte Bd. 49, Berlin 2010, 280 S., 19,90 Euro.

Der Autor hat seine bereits zu DDR-Zeiten begonnenen und nach Öffnung der einschlägigen Archive auf höherer Stufe und mit mehr kritischer Distanz fortgesetzten Studien zur Entwicklung der ostdeutschen Intelligenz in den Jahren 1945 bis 1955 in einem Buch zusammengefasst. Diesem soll ein weiterer Band über die Jahre 1955 bis 1961 folgen, dessen Inhaltsverzeichnis bereits mit abgedruckt ist. Eingeordnet wurde diese Publikation in eine Reihe zur Geschichte des Kulturbundes, obwohl sie thematisch weit darüber hinausgreift.

Die Darstellung beginnt mit theoretisch-methodologischen Erörterungen zur Begrifflichkeit, zur sozialen Natur der Intelligenz, zum marxistischen Intelligenz-Konzept, zu Forschungsstand, Quellen und Methoden. An die Spitze hat P. einen knappen Exkurs über Utopie und Gesellschaft gestellt, in dem das Verständnis von Arbeiterklasse und Intelligenz in der marxistischen Theorie hinterfragt wird. Er setzt die Intelligenz ins Verhältnis zur Elitenproblematik und unterscheidet zwischen Angehörigen der unterschiedlichen, abgestuften Gruppen der Intelligenz und den Intellektuellen im engeren Sinne – jenen herausragenden Persönlichkeiten, die prägend auf das geistige Klima und gegebenenfalls auch auf die Politik ihrer Zeit einwirken. Vielleicht hätte mehr Beachtung verdient, dass solcherart Intellektuelle in autoritären Regimen, aber auf andere Weise, in der Mediengesellschaft aufgebaut werden, dass ihnen gemäß Interessenlagen eine Resonanz verschafft wird, die sich gleichrangige Persönlichkeiten aus eigener Kraft nicht oder kaum verschaffen können.

Die auf empirischen Untersuchungen beruhende, mit zahlreichen Tabellen versehene, das Wesen des Buches ausmachende Darstellung ist generell chronologisch angelegt – entsprechend der gängigen Periodisierung in je einem Kapitel für die Jahre 1945 bis 1949 und 1949 bis 1955. Innerhalb der Kapitel finden wir eine Kombination von Chronologie und Systematik vor, mit der einzelne Bereiche, Gruppen der Intelligenz oder Organisationen ausgewogen vorgestellt werden. Die einschneidenden, von Dogmatismus, Verdächtigungen und den Auswirkungen einer neuen, von Stalin entfachten Repressionswelle gekennzeichneten Veränderungen in der Intelligenzpolitik, wie sie sich 1947 anbahnten und 1948 unübersehbar hervortraten, werden im Rahmen der ersten Periode mit dem gebotenen Nachdruck herausgehoben. Dabei bringt P. den von anderen Autoren oft ausgeklammerten oder vernachlässigten Kalten Krieg immer mit ins Spiel.

Für die frühen Jahre jedoch belegt der Autor überzeugend, dass ein durch produktive Diskurse und Realitätssinn gekennzeichnete intellektuelle Atmosphäre vorherrschte. Um viele Entscheidungen wurde ernsthaft gerungen. Hier verwundert allerdings, dass die über Parteiintellektuelle hinausgreifende Erste Zentrale Kulturtagung der KPD vom Februar 1946 keine Berücksichtigung gefunden hat, obwohl gerade ihre Verhandlungen die weltanschaulichen, sozialen, politischen und organisatorischen Probleme der geistigen Erneuerung deutlich und in beeindruckender Vielfalt widerspiegeln.

Besonderes Interesse verdient im ersten Kapitel das damals hervortretende Spannungsverhältnis zwischen der Absicht, möglichst alle Berufsgruppen – einschließlich der Künstler, Wissenschaftler, Mediziner und Lehrer – in Gewerkschaften zu organisieren, und dem Streben nach Schaffung eigener Interessenvertretungen dieser Gruppen der Intelligenz. Das favorisierte Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ ließ sich gleich gar nicht mit übergreifenden gewerkschaftlichen Vereinnahmungen vereinbaren. Im vorliegenden Buche lassen sich viele interessante Details wie auch die Motivationen ablesen, die zur Bildung der Kammer der Technik, der Gewerkschaft Kunst und Schrifttum, dem Bund der Medizinalberufe oder dem Verband der Lehrer und Erzieher führten.

Im Zentrum des zweiten Kapitels stehen die Stellung der Intellektuellen zur ostdeutschen Staatsgründung und die widersprüchlichen Prozesse von Identifikation und Abgrenzung. Die Darstellung der im ersten Kapitel eingeführten Verbände und Kammern wird fortgesetzt, und die sich herausbildenden neuen Organisationsformen – so das Ministerium der Kultur, die Klubs der Intelligenz, die wissenschaftlichen Gesellschaften – werden vorgestellt. Hingegen finden wir die Juniereignisse von 1953 eher peripher behandelt. Der Autor vermerkt hierzu, dass er Überschneidungen mit einer eigenen Veröffentlichung zu dieser Problematik vermeiden wollte.1 Aber seine Gesamtdarstellung wird durch diese Auslassung doch etwas verzeichnet.

Insgesamt bietet sich uns ein Bild, in dem sich die Wahrnehmung der Realitäten, vernünftige oder auch der Not gehorchende Entscheidungen und Initiativen, soziale Gräben überwindende oder einebnende Praktiken einerseits und autoritäre Machtansprüche, sektiererische Vorbehalte und dogmatische Verengungen andererseits durchdringen. P. überlässt es weitgehend dem Leser, sich aus dem dargebotenen Mosaik ein Gesamturteil zu bilden. Ein bilanzierendes Resümee des Autors wäre da sicher angebracht gewesen. Gleichwohl – das Buch bietet eine Fülle, überwiegend aus Primärquellen geschöpfter Informationen, negiert indes auch nicht die bereits von der DDR-Historiografie erbrachten Vorleistungen. Es setzt den von Vorurteilen geleiteten Pauschalisierungen eine differenzierende, die objektiven und subjektiven Bedingungen berücksichtigende Sicht entgegen. Wir dürfen dem Erscheinen des zweiten Bandes ebenfalls mit hohen Erwartungen entgegensehen.

Günter Benser

1 Siehe Siegfried Prokop: Intellektuelle im Krisenjahr 1953. Enquète über die Lage der Intelligenz der DDR. Analyse und Dokumentation, Schkeuditz 2003.