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Estland – ein schwieriges Terrain für die Linke

März 2009

2008 feierte der kleinste der drei baltischen Staaten an der Ostsee, die Estnische Republik (1,32 Mio Einwohner, 45.228 qkm Fläche), offiziell den 90. Jahrestag seiner Gründung (1918). Wirkliche Selbständigkeit haben die Esten jedoch insgesamt kaum 40 Jahre besessen: von 1918 bis 1940 und ab 1991. In beiden Fällen ging dem der Zerfall erst des zaristischen russischen Imperiums, dann der Sowjetunion voran. 1941-1944 war Estland vom deutschen Faschismus okkupiert und Schauplatz des 2. Weltkrieges. Vordem hatten deutsche Kolonisatoren das im 13. Jahrhundert eroberte und christianisierte heutige Est- und Lettland unter verschiedenen Herrschern (Dänen, Schweden, Polen, Russen) über 700 Jahre bis in das 20. Jahrhundert beherrscht und verwaltet.

Geschichte und Politik

Die Letten und Litauer sind Indoeuropäer. Estnisch gehört dagegen zu den finno-ugrischen Sprachen, die ähnlich den Turksprachen kein grammatisches Geschlecht kennen (auch deshalb ist unsere Denkweise wohl wenig empfindlich für feministische Themen). In beidem – der Geschichte und den sprachlichen Besonderheiten – wurzeln Probleme.

In Estland ist jeder fünfte Einwohner rechtlich ein Fremder (Nichtbürger): Etwa 100.000 Einwohner sind russische Staatsbürger, weitere 120.000 sind staatenlos. Der Nationalität nach ist sogar jeder Dritte „fremd“: 921.900 Esten stehen 422.700 „Nichtesten“ gegenüber. Die sogenannten „Nichtbürger“ haben nur bei den Kommunalwahlen Stimmrecht, aber sie dürfen weder einer Partei angehören noch gewählt werden, auch dürfen sie kein öffentliches Amt bekleiden und sie sind nicht wehrpflichtig. Oft scheuen die „Nichtbürger“ das zeitaufwendige und teure Einbürgerungsverfahren mit den dafür geforderten Prüfungen ihrer Sprach- und Grundgesetzkenntnisse. Volle Rechte besitzen dagegen ungefähr 6.000 eingewanderte Bürger aus EU-Staaten, deren Sprachkenntnisse nicht geprüft werden.

Auf Grund seiner geopolitischen Lage wurde Estland für seine stärkeren Nachbarn immer wieder zu einem Objekt expansiver Interessen. Der Umstand, dass Estland klein ist, machte es in der Geschichte dabei zudem zu einem „Experimentierfeld“: Wenn etwas nicht klappte, war der Verlust oder Fehlschlag eher unbedeutend. Als ein solches Experiment können z.B. auch die vorgezogene Bauernbefreiung im Jahre 1819 betrachtet werden (42 Jahre früher als im übrigen Russischen Imperium), oder die Einführung des Geldlohns für Kolchosbauern in der sowjetischen Zeit.

Ein solches Experimentierfeld unter ganz anderen Bedingungen ist Estland auch heute. Seit 1991 bietet es sich als Versuchsterrain des Neoliberalismus an. Die neuen estnischen Machthaber propagieren die Thesen von Francis Fukuyama und Huntington, und sie orientieren sich dabei an den amerikanischen Mustern und den modernen Möglichkeiten der Medien, wie sie z.B. bei Noam Chomsky dargestellt werden.[1]

Im Westen wird das Baltikum als Zugang zum russischen Markt und dessen Rohstoffen betrachtet, aber je nach Gelegenheit auch als Instrument zur kalkulierten Provokation des russischen Konkurrenten. Großstaaten verfolgen nur ihre eigenen Interessen und behandeln Kleinstaaten wie Kleingeld. Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938, mit dem die Westmächte die Tschechoslowakei preisgaben, öffnete auch den Weg zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag (Hitler-Stalin-Pakt) vom 23. August 1939 einschließlich seines Geheimen Zusatzprotokolls. Wenn die heutige Regierung Estlands das Volk davon überzeugen will, dass wir besonders den USA gefällig sein müssen, um unsere Unabhängigkeit zu sichern, so sei nur daran erinnert, dass die sowjetische Annexion der Baltischen Staaten (von den bilateralen Beistandspakten 1939 bis zur Angliederung 1940)[2] im Westen höchstens mit einem Stirnrunzeln beantwortet wurde und dass bei den Konferenzen der Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition in Teheran, in Jalta und Potsdam Stalin freie Hand hinsichtlich des Baltikum gelassen wurde.[3]

Unter pragmatischen Gesichtspunkten ist der heutige „Grenzstreit” Estlands mit Russland[4] völlig sinnlos. Aber es gibt laute Stimmen für die „Rückgabe” der hauptsächlich von Russen bewohnten Landstücke, die die immer noch glimmenden Hoffnungen vieler europäischen Revanchisten (von Ostpreußen und Polen bis Rumänien) erneut anzufachen drohen. Bisher wagte man zwar nicht, den Helsinki-Vertrag von 1975 anzutasten, aber der kleinste Präzedenzfall könnte eine Kettenreaktion auslösen. Die einfältigen estnischen „Patrioten” ahnen dabei nicht, in welches Spiel sie einbezogen sind. Auch die Aktionen um die Aufstellung und den Abriss der Monumente (zur Erinnerung an die Befreiung vom Faschismus 1944/45 und an die Abtrennung von der UdSSR 1991), die Estland den Ruf eines Horts des Neonazismus eingebracht haben, verfolgen viel größere Ziele eines globalen Extremismus.

Experimentierfeld des Neoliberalismus

Vor 20 Jahren war Estland das fortschrittlichste Land der UdSSR und gehörte mit einem sehr hohem Bildungsniveau zu den TOP-10 der Welt. Heute zeichnet sich die estnische Gesellschaft demgegenüber durch Merkmale wie die folgenden aus:

Niedrigste Geburtenrate in der EU[5], aber höchster Anteil an Alkoholismus, an Aids-Ansteckungen, an Herzkrankheiten, an Grundschulabbrüchen, an Selbstmorden und an vorzeitigen oder unglücklichen Todesfällen. Das wirtschaftliche Gesamtprodukt von 1989 wurde erst 2001 wieder erreicht, aber jetzt verfügen 80 Prozent der Einwohnerschaft nur über ein Drittel davon. Jede/r dritte Arbeitnehmer/in bezieht das Mindesteinkommen von heute 4.350 Kronen (ca. 290 Euro); ungefähr soviel erhalten auch die Rentner. Das Einkommen pro Kopf beträgt mit allen Renten und Unterstützungen etwa 4.500 Kronen. Ein Drittel aller Kinder lebt unter der Armutsgrenze. Nach der internationalen Berechnungsmethode liegt die Armutsgrenze bei 60 Prozent des Durchschnittslohns (Median) – in Estland sind dies etwa 330 Euro. Somit beläuft sich unsere Armutskennziffer für 2006 auf 19,5 Prozent und ist damit etwas höher als in Europa insgesamt. Das Preisniveau in Estland entspricht fast dem Europas, während die Löhne und Gehälter vielfach niedriger sind.

Zur Realität des Landes gehört jedoch auch, dass die letzten Jahre (vor dem Hintergrund des vorangegangenen Absturzes der estnischen Agrar- und Industriewirtschaft nach 1991) von hohen Wachstumsraten geprägt waren. Das Wachstum des Bruttosozialprodukts der Jahre 2000-2004 lag nach Angaben des Statistischen Amtes bei etwa 6-8 Prozent; der Jahre 2005-2006 bei 8 - über 10 Prozent. Seit 2007 ist ein scharfer Rückgang zu beobachten (2007: 6,3 Prozent, Ende 2008: -2,2 Prozent). Die Inflation ist enorm angestiegen (sie erreichte 2008 einen Wert von über 10 Prozent). Das Wachstum wurde besonders durch Bautätigkeit – hier verdoppelte sich die Beschäftigung zwischen 2003 und 2007 – und Investitionen im Dienstleistungssektor (Konsum) gefördert, die durch starke Expansion der Kredite für Unternehmen und Privatpersonen, also durch wachsende Verschuldung, angeregt wurden. Vor diesem Hintergrund und einer beachtlichen Abwanderung von Arbeitskräften ins Ausland (z.B. nach Finnland) ist die offizielle Arbeitslosenrate in Estland von über 10 Prozent 2002 auf etwa 4 Prozent Ende 2007 gefallen; in der „Boomphase“ konnten die Beschäftigten 2006 und 2007 deutliche (nominale) Lohnsteigerungen durchsetzen, die jedoch durch die ansteigende Inflation zu großen Teilen wieder aufgezehrt wurden. Die große Bedeutung der Spekulation hinter dieser „estnischen Blase“ zeigt sich z.B. an der Explosion von Preisen für Wohnraum in Tallinn, die (bei 2-3-Raum-Appartements) sich zwischen 2001 und 2007 pro Quadratmeter von etwa 5.000 auf über 25.000 Estnische Kronen verfünffachten. Die neoliberale Wirtschaftsförderung (niedrige Steuern; Einschränkung von Rechten der Beschäftigten wie Kündigungsschutz) hat die soziale Spaltung der Gesellschaft weiter vorangetrieben. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass beachtliche Gruppen von dem zeitweiligen Boom profitiert haben. Die Kraftfahrzeugdichte (PKW/Einwohner) ist in Estland heute z.B. schon annähernd so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland, wobei in Estland in hohem Maße importierte Gebrauchtwagen gekauft werden. Im Straßenbild sieht man viele Luxuswagen, aber die Hälfte der Haushalte hat keinen Pkw.

Seit dem Beginn der sogenannten „singenden Revolution” 1988 war Estland ein Ziehkind der europäischen Politiker. Das zeigt sich auch am Beispiel von Mart Laar, des als Schöpfer des „estnischen Wirtschaftswunders” geltenden zweimaligen Ministerpräsidenten (1992-1994 und 1999-2000) und mit internationalen politischen Preisen bedachten „Historikers“. In seinen in viele Sprachen übersetzten Büchern präsentiert er seine Vorstellung zur estnischen Geschichte und Gegenwart[6], wobei er seine eigene Rolle dabei natürlich besonders hervorhebt. Unter Laars Veröffentlichungen fällt besonders das von der Konrad-Adenauer-Stiftung bestellte, zur Gattung der „Memoirenliteratur” gehörende Buch „Das estnische Wirtschaftswunder” (2002) auf. Die estnische Ausgabe heißt etwas bescheidener „Estland. Der neue Anfang”.[7] Der Adenauer-Stiftung war es damals am Vorabend der deutschen Parlamentswahlen und nach dem Skandal um die „schwarzen Kassen” der CDU ein besonderes Anliegen, zu zeigen, dass die Unterstützung gleichgesinnter Parteien in Ostmitteleuropa gute Früchte getragen hatte. Jörg-Dietrich Nackmayr, seinerzeit Leiter der Stiftung in den Baltischen Ländern[8], schrieb in der Einleitung zu Laars „Wunderbuch”: „Wir glauben mit dem vorliegenden Buch dem Erbe Konrad Adenauers und Ludwig Erhards in besonderer Weise gerecht zu werden, weil in Estland konstruktiv und mutig die Soziale Marktwirtschaft unter den Rahmenbedingungen eines Transformationslandes weiter entwickelt wird. Wer könnte authentischer über den Weg Estlands zur Unabhängigkeit 1991, die Reformen und ihre Hintergründe, die Zeitzeugen und politische Konflikte schreiben, als der wahrscheinlich wichtigste Vater des estnischen Wirtschaftswunders, Mart Laar?”[9]

Von der „Sozialen Marktwirtschaft“ haben die Esten bis heute nichts gehört. Laars großes Vorbild war Margaret Thatcher, seine Bibel das einzige wirtschaftswissenschaftliche Buch, das er damals gelesen hatte, das Buch des Nobelpreisträgers Milton Friedman „Kapitalismus und Freiheit” (1962). Laars Ziel war es, Friedmans Grundsätze für lineare Besteuerung und deregulierte liberale Marktwirtschaft in einem Kleinstaat in Reinform einzuführen. Seine Parolen: Den Platz aufräumen! (alle ehemaligen Strukturen und Institutionen sind mitsamt den in ihnen tätigen Menschen zu verwerfen); Der Staat ist ein schlechter Eigentümer! (alles muss privatisiert werden, bis auf Eisenbahn und Energieversorgung); Wer sich selbst hilft, dem hilft der Staat (die Hilfsbedürftigen, darunter auch Kinder und Rentner/innen, müssen beiseite stehen, die Unternehmer – egal, mit welchen Mitteln sie emporgekommen sind – müssen gefördert werden).[10]

Den größten Schaden bei dieser „Schocktherapie” richtete das von dem literarisch ambitionierten Staatspräsidenten Lennart Meri (1992-2001) reklamierte Stichwort „Raubkapitalismus” an: Estland, so seine Meinung, müsse alle Entwicklungsstufen des Kapitalismus durchmachen. In die gleiche Kerbe schlugen die gutbezahlten „Berater”, die an die Sache zumeist mit dem Maßstab der Kolonisatoren herangingen, die glaubten, dass sie diesem halbrussischen verwilderten Land erst einmal Kultur und Freiheit bringen müssten und die natürlich davon ausgingen, dass sie selbst dabei profitieren müssten.

Dazu trugen die rechtzeitig privatisierte und mit entsprechenden Gesinnungsgenossen besetzte Presse und sonstigen Medien mit gezielter Beeinflussung der Öffentlichkeit nach Kräften bei. Andere Meinungen wurden verschwiegen oder kurzerhand für „rot“ und „kommunistisch“ erklärt. Wer z.B. an der Notwendigkeit der totalen Beseitigung der vergesellschafteten landwirtschaftlichen Betriebe Zweifel äußerte, wurde als „roter Baron” abgestempelt. Man wusste die Menschen zu überzeugen, dass dies im Kapitalismus rechtmäßig sei, dass es „kein kostenloses Frühstück gibt” und dass alle Menschen, die nicht zur Spitze der neuen Gesellschaftspyramide aufgestiegen sind, unfähige Faulenzer und Looser sind.

Diese Gesellschaftsstrategie hat die Menschen in Stress und Apathie versetzt. 2008 waren 70 Prozent (höchste Kennzahl in der EU) der estnischen Bevölkerung mit ihrem Leben unzufrieden. Deutschland hat in seiner Vergangenheit am bittersten erfahren, wie leicht in soziale Not geratene Menschen durch gezielte Manipulation politisch irrezuführen sind, besonders dann, wenn ihnen ein für ihre Not angeblich schuldiger Sündenbock gezeigt wird. In Estland sind dies die Russen, die mit den Kommunisten und allen Linken gleichgestellt werden. Zehn Jahre lang galt als Hauptlosung: Zur politischen Rechten gibt es keine Alternative! Es ist gelungen, die Menschen zu überzeugen, linkes Denken sei in Europa noch immer ein Schreckgespenst und wenn solches bei uns geduldet würde, so könnte man uns in die EU nicht aufnehmen. Nach der Eingliederung in „Europa” (2004) musste man dann wahrnehmen, dass europäische Staaten im Vergleich zu Estland oft viel weiter links orientiert sind und entsprechend regiert werden, aber das sucht man in Estland zu verschweigen. Ebenso wissen die meisten Esten nicht, dass eine progressive Lohnsteuer seit langem international üblich ist und die lineare eigentlich nur ein verhasstes „sozialistisches Überbleibsel” darstellt.

Die allgemeine, ganz der Marxschen Beschreibung entsprechende Entfremdung von der Staatsmacht in Estland wurzelt nicht in der Gleichgültigkeit der Menschen, sondern in der Erfahrung, dass alle Parteien, die sie gewählt haben, sie immer wieder betrogen haben. Zu der Erkenntnis, dass die Rechtsparteien nicht imstande bzw. willens sind, ihre vor den Wahlen gemachten „linken“ Versprechungen einzulösen, lässt man sie nicht kommen. Eine linke Gesinnung ist immer noch out. Das erklärt auch die Schwäche der Parteien, die es gewagt haben, sich öffentlich als Linke zu positionieren.

Die Linke in Estland

Die estnischen politischen Parteien konnten im Jahr 2005 auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken. Unsere Historiker haben das zu den verschiedenen Zeiten aus unterschiedlichen Gründen entweder übersehen oder bewusst ignoriert. Gerade mit Blick auf die revolutionäre, die linke Bewegung in Estland wissen wir am wenigsten, „wie es eigentlich gewesen ist”. Dieser am stärksten ideologisierte Bereich der Geschichtsforschung ist auch am intensivsten mit Falschdarstellungen belastet, immer der herrschenden Ideologie entsprechend.

Zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war die revolutionäre Bewegung in den Baltischen Provinzen des Russischen Imperiums in vollem Gange, aber man wusste noch sehr wenig über Lenin, über die Bolschewiki und Menschewiki. Das zaristische Oktobermanifest von 1905 mit der Ankündigung einiger demokratischer Freiheiten ermöglichte die Entstehung einer sozialdemokratischen und einer Volkspartei mit konkurrierenden Zeitungen. In Estland hatte die ganze Bewegung zudem eine nationalistische, gegen die deutschen Barone (Großgrundbesitzer) gerichtete Färbung. Deswegen ist es kein Wunder, dass die „rotesten“ Revolutionäre des Jahres 1905 nach dem Ersten Weltkrieg zu den eifrigsten Erbauern der neuen selbständigen Republik gehörten.

In den ersten Regierungen und Parlamenten der Estnischen Republik waren sogar drei linke Parteien vertreten und es wurden viele bis heute im Gedächtnis gebliebene demokratische Reformen und Gesetze erlassen. Nach dem halbfaschistischen Staatsstreich des nachmaligen Staatspräsidenten Konstantin Päts 1934 wurden alle Parteien verboten, einzig die Vaterländische Union („Isamaaliit“) blieb erlaubt.

Der Verlust der Selbständigkeit im Juni 1940 durch die sowjetische Annexion im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 verlief verhältnismäßig ruhig.[11] Aber die für die Menschen ungeklärte und unverständliche Deportation der angesehensten und wohlhabendsten Bürger und ihrer Familien am Vorabend des deutschen Überfalls auf Russland verwandelte den traditionellen und von der estnischen Regierung im Interesse einer patriotischen Erziehung geförderten Deutschenhass mit einem Schlag in Kommunisten- bzw. Russenhass, einen Hass, den die blutige nazistische Okkupation mit ihrer gezielten Manipulation geschickt auszunutzen wusste. Eigentlich ist das estnische Kommunistenbild bis heute dasselbe Bild geblieben, welches die deutsche Kriegspropaganda gemalt hatte; dieses Bild wurde von den mit und nach dem Ende des Krieges nach Westen fliehenden Einwohnern mitgenommen und dort gepflegt. Die andere Seite malte ein ähnliches Bild von den Faschisten, und die beiden Bilder sind heute negative Banner der verschiedenen Gruppen geworden. Ihre Unversöhnlichkeit hat sich bei der Aprilkrise 2007 neu gezeigt.[12]

Die meisten Kommunisten in führenden Positionen haben in der Vergangenheit im Interesse der Sache gearbeitet und Estland zur Zeit der Perestrojka zum blühenden Wohlstand gebracht. Besonders die Landwirtschaft diente als Vorbild für die ganze Sowjetunion und in den Kolchosen verdienten die Beschäftigten mehr als in den Städten. Die Herstellung von Artikeln des Massenbedarfs kam unter den Bedingungen der Planwirtschaft mit der Nachfrage jedoch nicht zurecht – die Menschen hatten immer mehr Geld im Portemonnaie als Waren im Einkaufsnetz. Bildung und Gesundheitsversorgung waren unentgeltlich, Wohnung, Kultur und öffentliche Verkehrsmittel hatten nur symbolische Preise. Und doch ist der Absatz sowohl an Industrie- wie auch an Konsumwaren in den achtziger Jahren pro Kopf beträchtlich höher gewesen als heute. Sehr viele Menschen leben heute noch mit den damals gekauften Möbeln, Geschirr und sogar Kleidungsstücken und fahren mit zwanzigjährigen PKW. Wer es heute noch wagt, auf bettelnde Straßenkinder und Obdachlose hinzuweisen, die ihre Nahrung in den Müllcontainern suchen, der wird der nostalgischen Sehnsucht nach Wiederkehr des Kommunismus beschuldigt.

In den Jahren 1987-1991 wurde die Wiederherstellung der estnischen staatlichen Selbständigkeit von oben vorbereitet und durch die damaligen höheren Parteiführer auf den Weg gebracht. Gleichzeitig spaltete sich die Estnische Kommunistische Partei im Rahmen der Unionspartei in einen gegen Selbständigkeit kämpfenden, vorwiegend russischsprechenden Flügel und den von Vaino Väljas geführten Flügel, der es für besser hielt, seine Positionen in Moskau zu verteidigen, solange dies noch möglich war. Dieser Teil bildete den Kern der heutigen Linkspartei. Zugleich begann ein massenhafter Austritt aus der Partei, verbunden mit dem Übertritt in alle möglichen, wie Pilze aus dem Boden schiessende rechte Parteien, die überwiegend von ehemaligen „Kommunisten” angeführt wurden. In den ersten fünf Jahren sind ein Paar Dutzend Parteien entstanden und verschwunden, darunter drei mehr oder weniger linksdrapierte sozialdemokratische Parteien, die es für besser hielten, sich von der EKP zu distanzieren.

Aufmerksamkeit verdient die Sozialdemokratische Partei (SDP), die anfangs aus drei Gruppen von Mitgliedern der Kommunistischen Partei bestand und schnell in die Sozialistische Internationale aufgenommen wurde. Ihr schlossen sich die meisten Gewerkschaftsführer an. Die Gewerkschaften selbst, die ehemaligen „Schulen des Kommunismus”, wurden weitgehend aufgelöst und ihr beträchtliches Eigentum (Klubs, Erholungsheime, Sanatorien, Kinderlager, Ausstattung der Orchester u.a. Einrichtungen) gelangte auf unbekannten Wegen in Privathände. Der Wiederaufbau der Gewerkschaften kommt nur mühsam voran, weil die Unternehmer dagegen sind. Etwas stärker ist nur die Organisation der Bildungs- und Kulturarbeiter. Die gewerkschaftspolitisch aktive Gewerkschaft der Lokomotivführer gehört zur Linkspartei.

1996 hat sich die SDP als gegenüber Rechten und Linken indifferent erklärt und sich unter dem Namen der „Moderaten“ (Rahvaerakond Mõõdukad, „Volkspartei Die Gemäßigten“) mit der Agrarpartei vereinigt. Drei Jahre später schloss sich ihr die aus einigen kleinen Rechtsparteien gebildete Volkspartei an. Die Partei ist in alle Parlamente gewählt worden und war an rechten Regierungskoalitionen beteiligt. Als sich Gerüchte verbreiteten, die Sozialistische Internationale wolle die „Moderaten“ ausschließen, besann man sich wieder auf linke Rhetorik; seit Dezember 2003 heißt die Partei wieder Sozialdemokratische Partei. Weil die heutige Linkspartei damals den Namen „Sozialdemokratische Arbeitspartei“ (ESDAP)[13] trug, glaubten viele Wähler bei den Wahlen zum Europarlament im Sommer 2004, dass sie für die Arbeitspartei gestimmt hätten. Das veranlasste die ESDAP, die im Mai jenes Jahres eine Mitbegründerin der Europäischen Linkspartei geworden war, zu einer abermaligen Namensänderung in Estnische Linkspartei. Die angebotene Zusammenarbeit hat die SDP jahrelang abgelehnt.[14]

Die Estnische Linkspartei, die seit Juli 2008 nach ihrer Vereinigung mit der russischsprachigen Konstitutsioonipartei „Vereinigte Linkspartei Estlands“ heißt, hat unter wechselndem Namen, aber bei stets gleicher ideologischer Orientierung, in den letzten 17 Jahren als einzige linke Partei an allen Parlaments- und Kommunalwahlen teilgenommen. Sie war in einer Listenverbindung mit der Konstitutsioonipartei 1999-2003 mit zwei Abgeordneten im Parlament vertreten. Da die Parteien in Estland staatliche Unterstützung entsprechend ihrer Abgeordnetenzahl im Parlament erhalten, konnte die Linkspartei bis 2003 ein kleines Büro unterhalten; heute reichen die Mitgliedsbeiträge dagegen kaum noch für die anfallenden Postgebühren.

Betrachtet man die wirtschaftliche und politische Lage Estlands, so ist der Boden für eine linke bzw. soziale Denkweise eigentlich sehr günstig. Deshalb geben sich die Rechtsparteien auch alle Mühe, die Existenz der Linkspartei zu verschweigen, sie – wo dies nicht möglich ist – zu verleumden und ihre Teilnahme an den Wahlen gesetzlich zu verhindern. Parteipropaganda bleibt untersagt, was sogar für Werbung auf den Strassen gilt.

In den Medien wird jede andere als die herrschende Meinung sogleich als feindlich und kommunistisch abgestempelt. Daher ist es gelungen, die Mehrheit der estnischen Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ein ehrlicher Este alle Linken und Russen (was nach offizieller Meinung ja das gleiche ist) abzulehnen hat, und dass Hitler, der gegen den Kommunismus kämpfte, nur ein kleiner Ganove im Vergleich zu Stalin war. Man verschweigt dem Volk, dass Hitlers Sieg die Verschleppung aller Esten (außer jenen zehn oder 15 Prozent, die den Nazis zur Eindeutschung tauglich erschienen) nach Nordwestrussland bedeutet hätte, wo sie als Aufseher über die russischen Arbeiter eingesetzt werden sollten. Dagegen ist die stalinistische Deportation der „politisch unzuverlässigen” Familien nach Sibirien in den Jahren 1941 und 1949 – insgesamt waren zweieinhalb Prozent der Bevölkerung betroffen – ein Dauerthema. Man muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass mehr als drei Viertel der Deportierten Anfang 1957 zurückgekehrt waren, darunter auch die Autorin dieses Aufsatzes.

Die Linkspartei wird auf jede mögliche Weise angeschwärzt und ihren Mitgliedern werden berufliche Hindernisse in den Weg gelegt. Deshalb hat die Linkspartei wenig Mitglieder „in den besten Jahren“ – die Leute haben einfach Angst. Dazu kommt die bei vielen tiefsitzende Allergie gegen die Begriffe „sozialistisch”, „sozialdemokratisch”, „linksdenkend” die alle als mit „kommunistisch“ gleichbedeutend erklärt werden. Und „kommunistisch” ist gleichbedeutend mit „russisch” und „schuld an allem“.

Obwohl viele Menschen sich privat zur Linken bekennen, versteht das breite Publikum unter links eher die Zentrumspartei als die größte Partei, die sich um die sozialen Belange der Menschen (darunter auch der „Nichtesten“) kümmert. Die Zentrumspartei wehrt sich selbst gegen diese Charakteristik. Sie gehört zusammen mit ihrem heftigsten Gegner, der Reformpartei, zur Liberalen Internationale. Gegen sie und ihren Vorsitzenden, den Tallinner Bürgermeister Edgar Savisaar, hat sich das ganze rechte Lager einschließlich der „Sozialdemokratischen Partei“, verschworen. Ungeachtet dessen hat sie stabile 20 bis 27 Prozent Unterstützung mit steigender Tendenz (Dezember 2008: 32 Prozent).

Die meisten potentiellen Wähler hat die Linke unter der enttäuschten und erbitterten Hälfte der Wahlberechtigten, die bisher keine ihren Interessen entsprechende Wahlmöglichkeit sehen und die an den Wahlen nicht teilnehmen. Bei ihnen Gehör zu finden und von ihnen wahrgenommen zu werden, darum will sich die Vereinigte Linkspartei jetzt bemühen.

Ausblick

Was die wirtschaftliche Lage Estlands anbetrifft, so ist der „Boom“ inzwischen Vergangenheit und die internationale Finanzkrise hat Estland voll erfasst. Ein erster Krisenschub folgte schon der Demontage des Bronzesoldaten mit einem Einbruch beim Transithandel 2007/2008, den besonders der Tallinner Hafen zu spüren bekam. Nach verschiedenen Berechnungen soll der Einbruch ein Volumen von 3-10 Mrd. estnischen Kronen ausmachen.

2008 stellte sich heraus, dass das wirtschaftliche Wachstum und das Staatsbudget viel zu optimistisch kalkuliert worden waren – man hatte noch mit 8 Prozent Wachstum gerechnet – und am Ende des Jahres ergab sich ein Defizit von nahezu 20 Prozent im Staatshaushalt bei katastrophaler Minderung der Einnahmenseite. Die Umsatzsteuer brachte im Dezember, dem umsatzträchtigen Weihnachtsmonat, nur zwei Drittel der Vorjahreseinnahmen, die Steuereinnahmen erreichten insgesamt nur 95 Prozent der dem Haushalt zugrunde liegenden Schätzung. Inzwischen sind Warenumsatz und insbesondere die Industrieproduktion deutlich gefallen, letztere um ca. 20 Prozent, wobei der industrielle Sektor nur etwa 18 Prozent des estnischen Gesamtproduktes ausmacht. Die Veränderung des Bruttosozialprodukts beträgt für 2008 -2,2 Prozent und soll in 2009 noch weiter fallen. Zugleich steigt die Arbeitslosigkeit. Lag die Rate im Mai 2008 bei 4,4 Prozent, so im November schon bei 8,3 Prozent. 60 Prozent der Unternehmen wollen ihre Beschäftigtenzahl weiter verringern, nur zwei Prozent planen, Lohnarbeitskräfte einzustellen. Zugleich ist die Regierung dabei, die „Verteidigungsausgaben“ kräftig zu erhöhen (um sich vor Russland zu schützen!) und im Gegenzug Sozialleistungen und die Unterstützung der Schulen zu vermindern. Während die Preise für PKW und für Wohnraum gefallen sind – bei letzteren ist die Spekulationsblase geplatzt – , haben sie bei Waren des einfachen Konsums und bei kommunalen Dienstleistungen – also den Hauptausgaben der „kleinen Leute“ – kräftig angezogen, um etwa ein Viertel.

Unter diesen Bedingungen sollte in der Gesellschaft der Gedanke der Solidarität wieder an Bedeutung gewinnen und damit auch linke Ansichten, die freilich in den größeren Medien noch systematisch zurückgewiesen werden. Wenn der prognostizierte Anstieg von Bankrotten und Entlassungen eintrifft und die Möglichkeiten, auf Kredit zu leben, zusammenbricht, sollten die Esten sich zunehmend bewusst werden, dass der „König Kapital“ eigentlich nackt ist.

[1] Noam Chomsky, Media Control. The Spectacular Achievements of Propaganda. Second Edition. New York, 2002. Dieses Büchlein erschien 2006 in estnischer Übersetzung von Pearu Helenurm in einem Kleinverlag.

[2] Die seit dem schwedisch-russischen Frieden von Nystand (September 1721, Beendigung des 2. Nordischen Krieges) zum Territorium des zaristischen Russland gehörigen baltischen Provinzen waren nach der Oktoberrevolution unabhängige bürgerliche Nationalstaaten geworden. Die estnische Bourgeoisie stützte sich dabei auf deutsche Truppen (Februar 1918 Besetzung Tallinns; Abzug und Übertragung der Macht im November 1918). Sie hatten im Februar 1920 Friedensverträge mit Sowjetrußland abgeschlossen, was gegenseitige Anerkennung bedeutete, ein Vorgang, dem Lenin „welthistorische Bedeutung“ beimaß (vgl. ders., Werke Bd. 30, S. 307, mit Bezug auf den russisch-estnischen Friedensvertrag von Tartu, 1920). Durch die Westmächte wurde Estland erst 1921 (England, Frankreich, Italien) bzw. 1922 (USA) anerkannt. Zum Hitler-Stalin-Pakt und der Angliederung der baltischen Staaten an die Sowjetunion 1940 vgl.: Schauplatz Baltikum. Szenarium einer Okkupation und Angliederung. Dokumente 1939/1940. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Michael Rosenbusch, Horst Schützler und Sonja Striegnitz, Berlin 1991.

[3] Hier ist eine historische Anmerkung notwendig. Das Baltikum war von Anfang an Ziel deutscher Annexionspolitik. In Hitlers „Mein Kampf“ (München 1939, S. 154) ist nachzulesen, das „neue Reich“ müsse sich „wieder auf die Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu geben“. Der Wirtschaftshistoriker Hans-Erich Volkmann urteilt in einer Studie des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes („Ökonomie und Machtpolitik: Lettland und Estland 1933-1940“, in: Hans-Erich Volkmann, Ökonomie und Expansion: Grundzüge der NS-Wirtschaftspolitik. Beiträge zur Militärgeschichte Bd. 58, München 2003, S. 275-302): „Die Würfel über das Schicksal des baltischen Raumes waren demzufolge, lange bevor Hitler zum Russlandfeldzug blies, gefallen. Dies war all denjenigen, die sich bemühten, den Nationalsozialismus in seinen Zielprojektionen zu erkennen, auf Grund einer Fülle an wissenschaftlicher und populärer Literatur auch bewusst ...“ (S. 277) Volkmann gibt eine ausführliche Übersicht zur Einbeziehung der estnischen Wirtschaft in die NS-Kriegsvorbereitung der dreißiger Jahre. Das Land war Objekt „wirtschaftliche(r) Ausbeutung zur Stärkung des deutschen Rüstungspotentials im Frieden und zur blockadesicheren Rohstoff- und Nahrungsmittelversorgung in einem auch gegen Frankreich und seine möglichen Verbündeten als unausweichlich erachteten Krieg.“ (S. 280) Dazu gehörte u.a. ein 1935 abgeschlossener Vertrag der deutschen Kriegsmarine zur langfristigen Belieferung mit estnischem Schieferöl. Dieses Abkommen wurde später mit einer 50prozentigen Beteiligung an der estnischen Steinöl AG aufgestockt (S. 289). Volkmann konstatiert, dass Estland (und Lettland) ihre Wirtschaft „in so fataler Weise an die des Dritten Reiches gekettet hatten, dass es bereits Ende der dreißiger Jahre keine außenhandelspolitische Alternative mehr gab.“ (S. 288) Politisch schlug sich das schon früh „in einer reservierten Haltung der Regierung in Riga und Reval gegenüber dem Moskauer Vorschlag eines gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichteten Ostpaktes ‚zur Garantie der Unabhängigkeit der Randstaaten’“ (S. 278/279) nieder. Unter militärstrategischen Gesichtspunkten urteilt Churchill über die sowjetische Annexion des Baltikums folgendermaßen: „Vom Standpunkt der Sowjetregierung aus muß gesagt werden, daß es für sie lebenswichtig war, das Aufmarschgebiet der deutschen Armeen so weit wie möglich im Westen zu halten, damit die Russen mehr Zeit gewinnen konnten, ihre Streitkräfte aus allen Teilen des ungeheuren Reiches zusammenzuziehen. Sie erinnerten sich noch lebhaft an das Verhängnis, das 1914 über ihre Armeen gekommen war, als sie eilig zum Angriff auf die Deutschen vorgestoßen waren, obschon sie erst eine Teilmobilmachung vollzogen hatten. Jetzt aber lagen ihre Grenzen viel weiter östlich als im vorhergehenden Krieg. Sie mußten daher die baltischen Staaten und einen großen Teil von Polen durch Gewalt oder Betrug besetzen, bevor sie selbst angegriffen wurden. Wenn ihre Politik kaltblütig war, so war sie damals auch im höchsten Maße realistisch.“ Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg, Berlin, München, Wien 1989, S. 187.

[4] Auseinandersetzung um kleinere Territorien, die 1920 im Friedensvertrag von Tartu Estland, nach 1945 der Russischen Sowjetrepublik zugeschlagen wurden.

[5] Die Geburtenrate ist in letzten zwei Jahren etwas gestiegen, aber das Geburtendefizit stieg im Laufe der letzten 16 Jahren auf etwa 90.000.

[6] Vgl. z.B. auf deutsch die auch für Touristen bestimmten Broschüren: Mart Laar, Der rote Terror. Repressalien der sowjetischen Besatzungsmacht in Estland; ders., Der vergessene Krieg. Die bewaffnete Widerstandsbewegung in Estland 1944-1956; ders., Estland im Zweiten Weltkrieg (alle Tallinn, 2005). 2008 erschien eine 480 Seiten umfassende Apologie der Estnischen Legion (es handelt sich um die 3. Estnische SS-Freiwilligen-Brigade [Estnische Legion], aus der im Januar 1944 die 20. Waffen-Grenadier-Division der SS [estnische Nr. 1] gebildet wurde): The Estonian Legion in Words and Pictures/Eesti Leegion. Sonas ja Pildis. Zweisprachige Ausgabe: Estnisch und Englisch. Editors/Koostajad: Mart Laar/Lauri Suurmaa. Foreword/Saateks: Heino Kerde, mit einer CD „Eesti Leegioni Laulud“ mit 24 Musiktiteln.

[7] Mart Laar, Eesti uus algus, Tallinn, 2002.

[8] Nackmayer diplomierte nach eigenen Angaben 1990 bei Gesine Schwan, war seit 1990 in der Bundesrepublik Leiter von Stabsstellen in Ministerien, Landes- und Kommunalbehörden an der Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung (u.a. 1996 bis 1999 Sprecher und Büroleiter des Berliner Parlamentspräsidenten) und von 1999 bis 2003 Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in den drei baltischen Ländern. 2003 Rückkehr nach Berlin und Gründung der Unternehmensberatung Baltic-Business-Contact.

[9] Mart Laar, Das estnische Wirtschaftswunder, 2002. S. 5.

[10] Bei seinem Regierungsantritt als Ministerpräsident 1992 war Laar 32, vier weitere Minister unter 30 Jahre alt. Ihnen fehlten nicht nur Bildung und Erfahrung, sondern auch soziale Empathie, Mitgefühl.

Kürzlich teilte die Konrad-Adenauer-Stiftung (Verbindungsbüro Estland) folgendes mit: Nach der „Rosenrevolution“ in Georgien wurde Mart Laar im Jahr 2005 als Wirtschaftsberater von Staatspräsident Mikheil Saakashvili engagiert, nachdem er bereits zuvor in Jugoslawien, Moldawien, der Ukraine und Mexiko beratend tätig war. „Zuletzt war Mart Laar nur wenige Tage vor Ausbruch des Konflikts in Tbilisi. Dort traf er sich mit der georgischen Staatsführung, um über die Problemlage in Abchasien zu diskutieren. ... Von Krieg sei dabei keine Rede gewesen. Von dem Überfall georgischer Truppen auf Südossetien sei Laar überrascht worden und bezeichnete diesen als Fehler. Dennoch sieht er eine Mitverantwortung für den Ausbruch des Krieges beim Westen. Beim NATO-Gipfel in Bukarest versagte die NATO auf Druck von Frankreich und Deutschland Georgien eine klare Beitrittsperspektive aufgrund der ungelösten Konflikte mit Südossetien und Abchasien. Schon damals habe Laar die entsprechenden Politiker vor den möglichen Konsequenzen gewarnt. Nach Laars Einschätzung ist die georgische Staatsführung von der Lösung des Konfliktes mit den beiden Regionen als Voraussetzung für den NATO-Beitritt ausgegangen und wollte nur ein schnelles Ergebnis herbeizwingen.“ A. M. Klein, Die „Estnisierung“ Georgiens. Die geheime Mission des Mart Laar im Kaukasus, 25.8.2008. www.kas.de/estland. Am 8. August hatte Laar bei seiner Ankunft am Tallinner Flughafen in einem Interview noch erklärt, dass Georgien angreifen musste. Erst später veränderte er seine Aussagen. Die Operation Georgiens hatte den Namen „den Platz aufräumen!“

[11] In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurden die Ereignisse des Jahres 1940 als Volksrevolution dargestellt, der der freiwillige, vom Parlament beschlossene Anschluss an die Sowjetunion folgte (vgl. auf deutsch: Olaf Kuuli, Die Revolution von 1940 in Estland, Tallinn 1979). Die Besonderheiten der Situation – Wahlen, die unter dem starken Druck der nach Abschluss des Beistandspakts im Lande stationierten sowjetischen Truppen stattfanden und bei denen die bisher dominierenden bürgerlichen und reaktionären Kräfte nicht mehr kandidieren konnten, wodurch vordergründig ein inneres Kräfteverhältnis geschaffen wurde, das der realen Stimmung nicht entsprach – blieben dabei unberücksichtigt. Diese Konstellation war in Verbindung mit den Repressionsmaßnahmen einer der Anknüpfungspunkte für die faschistischen Okkupanten und ist es ebenso für die heutigen konservativen bürgerlichen Machthaber.

[12] Der estnische „Denkmalskrieg“ datiert spätestens vom August 2004. Damals wurde auf Anordnung der durch die europäische Reaktion aufgeschreckten Regierung ein zwei Wochen vorher in der Ortschaft Lihula errichtetes Denkmal für estnische Kämpfer der Waffen-SS bei Dämmerung abgerissen, wobei auch Gummiknüppel und Tränengas gegen die zumeist minderjährigen Verteidiger des Monuments zum Einsatz kamen. Dieses Denkmal wurde im Oktober 2005 erneut in der Ortschaft Lagedi aufgestellt. 2002 stand es bereits in der Stadt Pärnu, wo es aber ebenfalls hatte demontiert werden müssen. Dasselbe Szenario wurde am 27./28. April 2007 in Tallinn in umgekehrter Form abgespielt; diesmal musste die Weltpresse sich mit Estlands „Bronzesoldaten” und den anlässlich seiner nächtlichen Demontage entstandenen Unruhen beschäftigen. Das Standbild eines trauernden, an die Befreiung Estlands vom Faschismus erinnernden Sowjetsoldaten steht jetzt statt im Stadtzentrum gegenüber der Nationalbibliothek auf dem stadtauswärts gelegenen Militärfriedhof. Die Regierung genoss ob dieses Akts kurze Zeit unerhörte Popularität. Und sie verstand die erklärte Solidarität der EU als eine unbedingte Unterstützung gegen Russland. So suchte man immer neue Vorwände, um die Russophobie zu vertiefen. Das innenpolitische Ziel war dabei die Anschwärzung des Hauptrivalen der 2007/2008 regierenden Reformpartei (31 Sitze), der Zentrumspartei (29 Sitze), die man als „Russenpartei” denunzierte und der man das Bestreben nachsagte, bei uns wieder eine russische Übermacht einzuführen (als ob Estland gar nicht Mitglied der EU wäre). Das Volk hat der Regierung den zutreffenden Spitznamen „Säulenregierung” gegeben. Nach der durch die „Bronzenacht” gelungenen Spaltung der Esten und „Nichtesten” in zwei scheinbar unversöhnliche Lager hat die Regierung sich jetzt im Rahmen der Vorbereitung einer pompösen Jubiläumsfeiers aus Anlaß des 90. Jahrestages der Estnischen Republik auf die Errichtung einer aufwendigen, 20 m hohen und mit einem Kreuz gekrönten Freiheitssäule aus Glas konzentriert. Damit hat sie die Spaltung auch des estnischen Teils der Bevölkerung in Befürworter und Gegner erreicht. Doch ist der Bau wegen der unerprobten Technologie derweil ins Stocken geraten. Im Januar 2009 wurden die vier angeblichen “Anstifter” der Unruhen um die Demontage des Bronzesoldaten im übrigen vom zuständigen Kreisgericht entgegen dem Plädoyer der Staatsanwältin mangels Beweisen freigesprochen – in den Augen der radikalen Esten ein Skandal.

[13] Aus der EKP ging im November 1992 die Demokratische Arbeitspartei Estlands (Eesti Demokraatlik Tööpartei) hervor, die sich im Januar 1998 in Sozialdemokratische Arbeitspartei Estlands (Eesti Sotsiaaldemokraatlik Tööpartei) und im Dezember 2004 in Estnische Linkspartei (Eesti Vasakpartei, EVP) umbenannte. Sie ist seit 2004 Mitglied der Europäischen Linkspartei. Bei den estnischen Parlamentswahlen 2003 erhielt sie 0,4 Prozent, 2007 0,1 Prozent der Stimmen.

[14] In Lettland haben sich die Linken mit den Sozialdemokraten verbunden und sitzen im Parlament. Die Vorgängerin der Estnischen Parteien war die schon 1988 von den national gesinnten Kommunisten gegründete „Volksfront zur Unterstützung der Perestrojka”, eine wirkliche Massenorganisation. Sie stand an der Spitze der „singenden Revolution” – es versammelte sich am Tallinner Sängerplatz ein Viertelmillion Menschen – und sie spielte auch bei der Organisation der „Baltischen Kette“ am 23. August 1989 eine führende Rolle, bei der am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes eine 600 km lange Menschenkette durch alle drei Baltische Staaten gebildet wurde.