Mit Subventionen den Kapitalismus retten?

Eingestellt, 18.12.23

18.12.2023
von Jürgen Leibiger

Mit stolzgeschwellter Brust trat der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im Sommer vor die Presse, um zu verkünden, der Branchen-Primus der Chip-Produktion, die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company TSMC, würde in Dresden eine Halbleiter-Fabrik mit 2000 Arbeitsplätzen errichten. Den Taiwanesen wurde ihre Entscheidung mit 5 Milliarden Euro Subventionen, der Hälfte der gesamten Investitionssumme, versüßt. Auch manche Dresdner und Dresdnerinnen erfüllte das mit einigem Stolz (»wir haben einen super Wirtschaftsstandort«) und natürlich wurde die Schaffung neuer Beschäf- tigungsmöglichkeiten begrüßt. Aber es gab in der lokalen Szene und Presse durchaus auch Bedenken. Würden der Energie- und Wasserbedarf und die Abwasserableitung einer solchen Fabrik, die erforderliche Verkehrsanbindung in dem angepeilten Areal, in dem bereits mehrere große Halbleiterproduzenten angesiedelt sind, und die notwendigen Sozialeinrichtungen nicht die Möglichkeiten der bestehenden Infrastruktur übersteigen? Würden nicht auch städtische Ressourcen umgelenkt und dann an anderer Stelle fehlen? Würden die notwendigen Fachkräfte nicht aus den bestehenden Betrieben nur abgeworben, so dass es unter dem Strich zu gar keiner nennenswerten zusätzlichen Beschäfti- gung käme?

Wenn es um solche großen Investitionen geht, wischen die Regierungsvertreter in ihrer Euphorie derartige Bedenken zumeist beiseite. Man bekomme das alles schon irgendwie hin und die Vorteile würden mögliche Nachteile bei Weitem über- wiegen. Außerdem dürfe das alles nicht so sehr durch die lokale Brille gesehen werden; es gehe dabei um übergreifende Ziele, schließlich stünden die technologische Souveränität, die wirtschaftliche Unabhängigkeit und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, Europas, ja des ganzen »Westens« auf dem Spiel. Außerdem würde die Wertschöpfung in Sachsen gesteigert. Die Antwort auf die Fragen, inwiefern Investitionen taiwanesischer und US-amerikanischer Firmen zu mehr technologischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit führen sollten und ob deren Gewinne nicht in diese Länder transferiert würden, bleiben unbeantwortet. Bei Ansiedlungswünschen chinesischer Firmen wird selbstverständlich ein äußerst restriktiver Kurs gefahren.

Die Subvention der TSMC-Ansiedlung ordnet sich in eine ganze Reihe subventions- und industriepolitischer Entscheidungen der jüngsten Zeit ein. Intel erhält für seine bei Magdeburg geplante Wafer-Fabrik 10 Milliarden, eine Drittel der Gesamt- investition, ZF/Wolfspeed bekommt für seine saarländische Chipanlage dreiviertel Milliarden. Für den Ausbau von Infineon in Dresden fließt eine Milliarde, weitere 1,4 Milliarden gehen an verschiedene andere Projekte im sogenannten Silicon Saxony. Insgesamt fördert die Bundesregierung ab nächstem Jahr 31 Halbleiterprojekte mit 20 Milliarden Euro. Die Mittel kommen aus dem Klima- und Transformationsfonds KTF, der mit 180 Milliarden ursprünglich der Dekarbonisierung der Wirtschaft dienen sollte. Weitere Mittel stellen die Länder bereit, und beim Ausbau der stadtnahen Infrastruktur sind auch die kommunalen Haushalte gefordert. Die Halbleiterindustrie frisst neben gewaltigen Mengen an Wasser vor allem auch Energie. Für die Errichtung einer Fabrik, die Komponenten der Wasserstoff-Produktion zur Energiegewinnung herstellt, brachte Bundesminister Robert Habeck den Förderbescheid über 162 Millionen Euro persönlich nach Sachsen. Die meisten dieser Subventionen sind von der Europäischen Union im Rahmen des IPCEI-Programms (Im- portant Project of Common European Interest) inzwischen genehmigt. Mit dem »Chip-Act« hofft die EU bis zu 43 Milliarden staatliche und private Investitionen für den Ausbau der europäischen Halbleiterindustrie zu mobilisieren und den Anteil Europas in diesem Bereich von weltweit unter 10 auf 20 Prozent zu erhöhen.

Aber selbst diese beachtliche Größenordnung ist wenig im Vergleich zu den USA oder Südost-Asien. Der US- Anteil an der Halbleiterindustrie liegt bei 38 Prozent; werden die Marktanteile nach Firmensitzen berechnet, also US-amerikanische Produktion außerhalb des Landes mitgezählt, sogar bei 54 Prozent. Für die nächste Zeit sind Investitionen um die 200 Mrd. US-Dollar geplant. In China umfassen die geplanten Investitionen für die nächsten Jahre 150 Milliarden US-Dollar, Japan 6,6, Taiwan 100, Südkorea 452, Indien 10. Der Marktanteil Asiens liegt bei aktuell 48 Prozent; Tendenz steigend.1 Ob der Plan mit dem 20-prozentigen Anteil Europas an der weltweiten Chip-Produktion aufgeht, ist angesichts dieser Zahlen mehr als zu bezweifeln.

Mit Blick auf diese Entwicklung und die staatlichen Programme, die dahinterstehen, wurde in der FAZ die Frage gestellt: »Ist in der Chipindustrie eigentlich der Sozialismus samt Staats- finanzierung, Plan- und Komman- dowirtschaft ausgebrochen?«2 Über solche aufgeregten und dümmlichen Kommentare kann man eigentlich nur den Kopf schütteln. Der ganze Bereich der Mikroelektronik und der Kommunikations- und Informationstechnik ist seit weit mehr als hundert Jahren nicht ohne staatliche Unterstützung und Steuerung denkbar. Leutnant Werner von Siemens entwickelte 1846 seinen ersten elektrischen Telegrafen als Mitglied der Telegrafenkommission des preußischen Militärs. Seitdem ist diese Entwicklung nicht nur in Deutschland ganz maßgeblich durch militärstrategische Überlegungen mitgeprägt worden.3 Industriepolitik und Subventionen sind mitnichten erst heute »ausgebrochen«. Sie sind seit vielen Jahrzehnten, eigentlich schon seit weit über hundert Jahren, mal mehr und mal weniger fester Bestandteil kapitalistischer Politik, entweder im internationalen Konkurrenzkampf zur Förderung des heimischen Kapitals (so gewährte schon das gerade gegründete Deutsche Reich im Konkurrenzkampf gegen andere Länder sogenannte Postdampfersubventionen), zur Unterstützung der kolonialen Expan- sion einheimischer Unternehmen und imperialistischer Aggressionen oder als Element der Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus – heute im Kern als »der Westen« bezeichnet – und Sozialismus. Die Gesamtsubventionen von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland (Finanzhilfen und Steuervergünstigungen) betrugen 1970 insgesamt 31,4 Milliarden DM (fast 17 Milliarden Euro), 1989 vor dem Anschluss der ostdeutschen Länder 76,6 Milliarden DM (ca. 40 Milliarden Euro) und werden laut jüngstem Subventionsbericht der Bundesregierung im nächsten Jahr 88,7 Milliarden Euro betragen. Da die Finanzierung bestimmter Ausgaben nach neuester Mode aus diversen Sondervermögen ähnlich dem KTF-Fonds erfolgt, die außerhalb der Staatshaushalte geführt werden, dürften die aktuellen Beträge wohl noch höher sein.

Der Kapitalismus kam noch nie ohne den Staat aus. Und auf dem Gebiet der Wirtschaft war er auch nie nur die Institution des Niederhaltens der Arbeiterklasse, der Garantie des Eigentums und der Sicherung systemischer Ordnungsgrundlagen. Er war immer auch Wirtschaftsteilnehmer und Marktakteur. Schon ein Verfechter »freier Märkte« wie der vor dreihundert Jahren geborene Adam Smith widmete beträchtliche Teile seines Werks den wirtschaftlichen Aufgaben des Staates. Adolf Wagner spricht Ende des 19. Jahrhunderts von einem Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit. Dieser Tatbestand unterlag historischen Wandlungen und im 20. Jahrhundert hatte die Verquickung von Staat und Konzernen eine Qualität erreicht, die mit dem Begriff des Staatsmonopolis- tischen Kapitalismus ganz gut charakterisiert ist.

Eine Zeit lang schien es manchen Kommentatoren, mit der neoliberalen Verfassung des Kapitalismus und der Implosion des Sozialismus sei das nun alles vorbei und die Parole »Mehr Markt, weniger Staat« würde Wirklichkeit werden. Aber selbst in diesen Jahrzehnten hat es trotz des Drucks auf die Sozialsysteme und der Privatisierungen keinen generellen Rückbau des Staates, seiner industriepolitischen Ambitionen oder der Subventionen gegeben. Die Staatsquote blieb unverändert hoch und begann sogar wieder zu steigen. Heute erfolgt diese Entwicklung, darin eingeschlossen die Subventionen für die Halbleiterindustrie, nicht nur unter dem Zeichen der internationalen Konkurrenz schlechthin, sondern auch aus Angst vor China. »It‹s all about China, stupid« titelte ein Papier des Kölner IW vor einiger Zeit4. Die privatwirtschaftlich und monopolistisch verfassten Konzerne haben es nicht vermocht, die zunehmende Konkurrenzfähig-

keit staatlich geförderter chinesischer Firmen auch auf diesem Gebiet zu verhindern. Mehr noch, Wachstum und Entwicklung vieler dieser Konzerne sind ohne den chinesischen Markt und das chinesische Arbeitskräftereservoir kaum noch denkbar. Ein Vertreter der Dresdner VW-Niederlassung äußerte bei einem Vortrag in Dresden einmal, sie würden die chinesischen Parteitagsbeschlüsse genauer studieren als wir das mit Parteitagsdokumenten in der DDR wahrscheinlich jemals gemacht hätten. So stecken die Verfechter »des Westens« in einer Zwickmühle und müssen versuchen – den obigen Slogan ironisch gewendet – den Markt mit dem Staat zu retten.

 

1) Alle Zahlen dieses Abschnitts nach: Frank Bösenberg (Geschäftsführer Silicon Saxony e.V.): A Silicon Symphony – Überblick zu technologischen und Marktentwicklungen für die europäische Halbleiterindustrie. Vortragsfolien Seniorenakademie Dresden vom 13.06.2023.

2) Stephan Finsterbusch: TSCM-Fabrik in Dresden: Der Sündenfall der Chipbranche. Faz.net vom 9.8.23.

3) Vgl. dazu auch verschiedene Beiträge in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 135, September 2023.

4) Mit dem Slogan »It’s the economy, stupid!« gewann Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaft.