In einer Zeit, in der der Generalsekretär der SPD den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ aus dem Parteiprogramm streichen möchte, in der andere ihn in „Chancengerechtigkeit“ oder gar „Generationengerechtigkeit“ umtaufen wollen, ist es vielleicht von Interesse, an eine Kunstaktion im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 zu erinnern, die mit der Parole „Soziale Gerechtigkeit statt Freiheit der Reichen“ das eigentliche Problem auf den Punkt bringen wollte. Anlaß waren das 150jährige Jubiläum der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 und die bei den Gedenkfeiern, Artikeln und Ausstellungen dazu – wie sich herausstellte: mit Recht – vermuteten Verkürzungen und Einseitigkeiten. Es wurde nämlich oft verschwiegen oder nicht deutlich gemacht, daß es 1848 nicht nur um nationale Einheit und demokratische Freiheiten ging, sondern auch um die Frage, welche und wessen Freiheit verwirklicht werden sollte: Die Freiheit der Reichen, die Freiheit des Kapitals, die Freiheit des Marktes - oder die Freiheit von Armut und Not, die Freiheit der Besitzlosen, die das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, auf Arbeit, Wohnung und Gesundheit einschließt. „Freiheit ist Gerechtigkeit!“ - so stand es im Aufruf zur Gründung eines Frankfurter Arbeitervereins vom 13. März 1848.
Die Idee zu der Kunstaktion entstand, als wir den Rheingauer Historiker Josef Staab bei einer Führung in der Pfarrkirche in Kiedrich sagen hörten, daß die „Spirale der Gerechtigkeit“, die Erhart Falckener 1510 in die vorderste Bank des Gestühls für die Gemeinde schnitzte, mit der Reformation und dem Bauernkrieg zu tun habe. Das einzigartige, in Publikationen vielfach abgebildete gotische Schnitzwerk Falckeners ist schon deshalb ungewöhnlich, weil sonst nur die Sitze für die adligen Grundherren und Stifter und für die geistlichen Herren reich verziert wurden, während die Bänke für das gemeine Volk eher schmucklos blieben. Der Text der historischen „Spirale der Gerechtigkeit“ beginnt mit dem Ausruf: „Gerechtigkeit ist in großer Not“, stellt unter anderem fest: „Die Falschheit, die ist hochgeboren“, und endet mit der Aufforderung: „Lobt Gerechtigkeit“. Wir fanden das in einer Zeit wachsender sozialer Ungerechtigkeit und von oben verbreiteter Falschmeldungen über deren Ursachen sehr aktuell.
In den Bauernaufständen von 1525 spielten die Rheingauer und vor allem die Kiedricher eine bedeutende Rolle. Sie forderten Unabhängigkeit von den Kirchenoberen und eine Aufhebung der Klöster, die in der Konkurrenz mit den Weinbauern stets die Nase vorn hatten. Nach dem Scheitern des Aufstands wurden die Anführer gehenkt und jedem Haushalt der Gemeinde Kiedrich eine hohe Geldbuße auferlegt. 1848 sind die in den Bauernkriegen erhobenen Forderungen nach Freiheit von feudaler Unterdrückung und sozialer Gerechtigkeit wieder aufgenommen worden. Am 4. März 1848 zogen 30.000 Nassauer, darunter viele Bauern aus dem Rheingau, vor das Wiesbadener Schloß und forderten von ihrem Landesherrn unter anderem: „Allgemeine Volksbewaffnung mit freier Wahl seiner Anführer“; „Unbedingte Preßfreiheit“; „Sofortige Einberufung eines deutschen Parlaments“; „Erklärung der Domänen zu Staatseigenthum“. Es ging ihnen dabei auch darum, die Steuer- und Abgabenlast zu senken. Der Herzog von Nassau war unter dem Druck der Volksbewegung bereit, alle Forderungen zu erfüllen. In einem Flugblatt „An die Bewohner des Rheingaues“ vom 5. März 1848 hieß es daraufhin: „Wir gehen einer schönen und glücklichen Zukunft entgegen.“ Leider kam es anders. Im Frankfurter Paulskirchenparlament beschränkten sich die gewählten Vertreter des Bürgertums - Frauen, Arbeiter und Bauern waren nicht vertreten - weitgehend auf Verfassungsdebatten. Die Verfechter einer konstitutionellen Monarchie, die in der Paulskirche die Mehrheit stellten, waren nicht zu einem Bündnis mit den demokratischen Republikanern und den entstehenden Vereinigungen der Arbeiter fähig und bereit, um der feudalen Reaktion entgegenzutreten. Der Revolutionsversuch von 1848 scheiterte.
Als organisatorischen Träger unserer Aktion nutzten wir die KunstGesellschaft Frankfurt am Main, einen seit 1981 bestehenden Verein, der Kunst und Kultur nicht abgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen betrachtet, in denen sie entstehen und wirken. Der Frankfurter Künstler Rolf Kissel fand sich bereit, eine aktuelle Fassung von Falckeners „Spirale der Gerechtigkeit“ zu gestalten. Den Text beriet eine Arbeitsgruppe. Kissel versah das Symbol der Spirale mit zwei Pfeilen, nach innen und nach außen, um die Alternative aufzuzeigen. Die Parole „Soziale Gerechtigkeit statt Freiheit der Reichen“ wurde entsprechend grafisch umgesetzt. Der „Gerechtigkeitspfeil“ weist nach vorn, ins Offene, in die Zukunft, während der „Reichtumspfeil“ im Inneren der Spirale auf einem dunklen, „chaotischen“ Feld endet. Der Künstler arbeitete mit den Farben der französischen Fahne (Anspielung auf die Revolution von 1789) und der deutschen Fahne von 1848 und heute. Es versteht sich, daß dabei „Soziale Gerechtigkeit“ in roten, „Freiheit der Reichen“ in gelben Buchstaben gehalten war, was außer auf Gold auch auf die Partei der Besserverdienenden verwies, die neoliberale Positionen am extremsten vertritt. Einige wie bei anderen Arbeiten Kissels scheinbar zufällig verteilte Buchstaben und zeichnerischen Elemente sowie ein liegendes Fragezeichen lockerten das Bild auf. Es wurde auf eine 2 x 4 Meter große Stoffbahn als Fahne gemalt, ferner als Postkarte in einer Gesamtauflage von 2. 000 Stück gedruckt, einmal das Motiv pur und einmal auf ein Foto von der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt am Main montiert.
Die Fahne wurde im Mai 1998 auf der Burg Scharfenstein bei Kiedrich und am Freiheitsdenkmal neben der Frankfurter Paulskirche gezeigt. Dazu gab es ein kleines Theaterstück und Lieder der demokratischen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Während der „Wiesbadener Kurier“ und das „Rheingau-Echo“ ausführlich über die Kiedricher Aktion berichteten, fand sich in der „Frankfurter Rundschau“ über die Aktion auf dem Paulsplatz nur eine kleine Notiz. Auch als wir die Fahne bei der offiziellen Festveranstaltung „150 Jahre Revolution von 1848/49“ am 18. Mai - trotz eines Demonstrationsverbots, aber unbehelligt - vor der Paulskirche weithin sichtbar hochhielten, fand sich davon kein Foto in der Frankfurter Presse. Alle Honoratioren mußten bei ihrem Einzug in die Kirche, die dem Einzug der Abgeordneten zur ersten deutschen Nationalversammlung entsprach, an der Fahne mit der „Spirale der Gerechtigkeit“ vorbei. An der Spitze der damalige Bundespräsident Roman Herzog, während Kanzler Kohl die Veranstaltung seiner Anwesenheit nicht für wert befand. In der „Frankfurter Rundschau“ schrieb Karin Ceballos Betancour in ihrem spöttischen Bericht von der Gedenkfeier den doppelsinnigen Satz: „Lautlos entrollt die Kunstgesellschaft eine Fahne, fordert ‚Soziale Gerechtigkeit statt Freiheit der Reichen‘ und kämpft mit dem Wind.“ Daneben ein Foto des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, der „den Startschuß zum bundesweiten Freiheitslauf“ gab.
Die Zeitschrift der GEW Hessen und die des Vereins Business Crime Control brachten Berichte über unsere Aktion. Am 20. Juni zeigten wir die Fahne auf der Großdemonstration „Aufstehen für eine andere Politik“ in Berlin, und im September, unmittelbar vor der Bundestagswahl, bei einer Kundgebung der IG Metall-Jugend in Frankfurt am Main. Das traditionelle Sommerfest der KunstGesellschaft in Kiedrich verbanden wir mit einer erneuten Kunstaktion, über die in der Wiesbadener und Rheingauer Presse wieder Artikel und Bilder erschienen. Diesmal hielt Josef Staab eine Rede, die in der Zeitschrift „Rheingau Forum“ Nr. 4/1998 abgedruckt wurde. Über die Besonderheiten der Kiedricher und Rheingauer Geschichte sagte er:
„Wilhelm Heinrich Riehl, der ... Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde, nannte 1865 den Rheingau das ‚Bauernland mit Bürgerrechten‘. Hier war das im Mittelalter Unvereinbare doch vereint; denn Bürger mit allen Rechten persönlicher Freiheit und Entscheidungsvollmacht gab es damals nur in den Städten - Stadtluft machte frei. Auf dem Lande herrschte die Unfreiheit ... Abgesehen von Einzelfällen haben sich nur wenige geschlossene Landschaften, so in Friesland und in den Alpen, davon frei halten können. Und dazu zählte auch unser Kurmainzischer Rheingau, wo sich keine Grundherrschaften bilden konnten. Die in Fachkreisen bekannte und gerühmte Freiheit unseres Landes rührte zum Einen aus seiner Vergangenheit als Karolingische Krondomäne; zum Anderen aus der vom Landesherrn, dem Erzbischof, geförderten Rodungstätigkeit zur Gewinnung von Weinbergsneuland ab dem 11. Jahrhundert.
Die dafür gewährten sozialen Vergünstigungen entsprangen weniger einem christlich-sozialen Verantwortungsbewußtsein des geistlichen Landesherrn, vielmehr wohl der nüchternen Berechnung, daß die sozusagen als freie Unternehmer wirtschaftenden Weinbauern über Zehnten und Steuern mehr in die Staatskasse bringen als unterdrückte Leibeigene ...
Der Absicherung dieser Ausnahmesituation dienten zwei Maßnahmen: Einmal das Rheingauer Gebück, das als undurchdringlicher Baumverhau von ca. 30 km Länge den freien Rheingau von seiner unfreien Umgebung abschloß ...
Sodann ist das Rheingauer Weistum von 1324 zu nennen, eine Art Magna Charta des Rheingaus ... Am 27. Mai - auch darin zeitgleich zu 1525, dem Beginn des Bauernkrieges - trafen sich die Bevollmächtigten der Gemeinden auf der Gerichtsstätte, der Lützelau bei Winkel, setzten fest, was von Alters her rechtens im Rheingau war, und überreichten das recht unsystematisch, aber praktikabel formulierte Ergebnis ihrem Landesherrn, der ein solches Weistum angefordert hatte ...
Daß man es beispielsweise auch mit der Sorge für Unterdrückte ernst nahm, zeigt die Bestimmung, einem unfreien, verfolgten Flüchtling, der Eintritt in den Schutz des Gebücks begehrte, müsse man helfen, bis zwei Räder seines Wagens die Grenze passiert hätten. Dann war er der Auslieferung an seinen früheren Herrn entzogen und kam in den Genuß der begehrten Rheingauer Freiheiten.
Kein Wunder auch, daß - bei derartigen Privilegien - das Bildungsniveau der Rheingaudörfer das der Umgebung weit übertraf: Fast überall finden wir schon im 14. und 15. Jahrhundert dreiklassige Schulen, sogar mit Lateinunterricht, in Kiedrich seit etwa 1370; daß schon früh auch für Mädchen Schule gehalten wurde; daß die entsetzlichen Hexenverfolgungen im Rheingau nicht Fuß fassen konnten ...
Anfang Juni 1525 forderten die im Schwäbischen Bund zusammengeschlossenen Fürsten nach der Niederschlagung des Aufstandes in Süddeutschland den Rheingau zur Unterwerfung auf und drohten mit dem Einmarsch. Die Abgesandten der Rheingauer Landschaft ... erreichten in zähen Verhandlungen ..., daß der Rheingau vom Einfall des Schwäbischen Bundes mit all seinen Greueln verschont blieb.
Die nachfolgende Unterwerfung führte zum Verlust vieler alter Privilegien und legte dem Land eine saftige Kontribution auf ...
Mehrere Eingaben um Milderung der harten Bedingungen hatten insofern Erfolg, als man mit der neuen Landesordnung von 1527 einigermaßen leben konnte; denn mit der nach wie vor gewährten Anerkennung der persönlichen Freiheit und Rückgabe der - wenn auch eingeschränkten - Selbstverwaltung lenkte die Landesregierung ein, die es mit dem Rheingau nicht gänzlich verderben wollte und konnte.“
Wie sich solche Traditionen halten und auswirken, konnte man noch in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts sehen, als Kiedrich sich der Politik der Nazis lange verweigerte und seinem Beinamen „Nein-Dorf“ Ehre machte.
Insgesamt kann man sagen, daß es uns mit unserer Kunstaktion gelang, im lokalen und regionalen Rahmen an ein bekanntes und populäres historisches Symbol anzuknüpfen, es zu aktualisieren bzw. umzufunktionieren und damit eine öffentliche Wirkung zu erzielen. Wichtig für den Erfolg und die teilweise Überwindung der stillschweigenden Medienzensur, die oft mit dem Qualitätsargument arbeitet, war, daß wir unsere politische Botschaft in einer modernen künstlerischen Form vorbrachten. „Soziale Gerechtigkeit statt Freiheit der Reichen“ - diese Forderung setzten wir auch gegen die alte und im Wahljahr 1998 wieder aufgewärmte Formel „Freiheit statt Sozialismus“. Damit meinten wir natürlich nicht, daß die demokratischen Freiheiten in irgendeiner Weise nachrangig seien. Sie sind bei wachsender sozialer Ungleichheit ebenfalls bedroht. Warum benutzten wir gerade das Symbol der Spirale? Vermutlich aus ähnlichen Gründen, weshalb Erhart Falckener es 1510 benutzt hat. Es ist ein universelles Symbol, das beides enthält: Kreis und Linie; Innen und Außen; Vordergrund und Tiefe; Mahlstrom und Mandala. Die Spirale ist ein Symbol dafür, daß Geschichte nicht die Wiederkehr des Immergleichen ist oder sein muß.