Kai Eicker-Wolf skizziert in seinem Text kurz – und teilweise etwas verkürzt – die Marxsche und die postkeynesianische Sicht auf die Bedeutung von Geld, Löhnen und Zinsen in der kapitalistischen Ökonomie, insbesondere für Verteilungsverhältnisse und Akkumulationsprozess. Er stellt – m.E. richtig – fest, dass Marx von einem auf Edelmetall als Geldware basierten System ausgeht und dass die darauf beruhenden Aussagen für die heutigen Bedingungen nicht mehr zutreffen. Zumindest sind Einschränkungen und Modifikationen in Hinsicht auf die veränderten Bedingungen notwendig.
Dies ermöglicht aber kein Verdikt über die Marxsche Theorie, die sich eben auf die in dieser Hinsicht damals anderen Bedingungen bezog, sondern nur über marxistische Theoretiker, die behaupten, sie sei in dieser Hinsicht unverändert anwendbar. Für die meisten zeitgenössischen marxistischen ÖkonomInnen ist es aber klar, dass Inflation und Zins unter den heutigen monetären Bedingungen anders reguliert sind und wirken als zu Marx’ Zeiten. So ist es weitgehend Konsens unter MarxistInnen, dass die Höhe der Zinssätze für die Finanzierungsbedingungen wie auch als alternative Ertragsmöglichkeit gegenüber realwirtschaftlichen Investitionen von erheblicher Bedeutung ist. Dabei sind viele Keynessche Gedankengänge mit der Marxschen ökonomischen Theorie gut zu verbinden und in zeitgenössische Theoriebildung eingeflossen.[1]
Auch Eicker-Wolf ist der Auffassung, dass die Marxsche Theorie in Bezug auf viele realwirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge und Wirkungsmechanismen weiterhin relevant ist und wichtige Erkenntnisse vermittelt. In Bezug auf von ihm als ”monetär” bezeichnete Fragen verwirft er sie jedoch grundsätzlich als ”wenig überzeugend”, ohne auf aktuelle Versionen und Weiterentwicklungen einzugehen und stellt ihr einen postkeynesianischen Ansatz als bessere Alternative gegenüber. Dem ist an zentralen Punkten zu widersprechen.
Bestimmungsgründe der Akkumulations- und Krisenentwicklung
Dies betrifft erstens die Determinanten der Akkumulationsentwicklung. Sicherlich beeinflussen die Zentralbanken den Akkumulationsprozess und haben durch Hochzinspolitik zu den Krisen 1974/75, 1980-82, 1992/93 und 2001-2003 erheblich beigetragen und sie verschärft bzw. verlängert. Daraus folgt aber nicht, dass dies der letzte, ausschlaggebende oder gar einzige Grund dieser Krisen war. Die Zentralbanken reagierten ihrerseits auf realwirtschaftliche und monetäre Entwicklungen[2] – ohne ihre eigenständige Rolle und die Möglichkeiten einer anderen, die Krisen abmildernden Geldpolitik zu leugnen.
Im Kern lagen diesen Krisen jedoch realwirtschaftliche Prozesse
zugrunde (damit meine ich sowohl angebots- wie nachfrageseitig
wirkende, also selbstverständlich geldvermittelte), und zwar
nicht nur „exogene Schocks“ wie
Ölpreissteigerungen, sondern vor allem die von Marx
beschriebene immanente Krisenhaftigkeit des kapitalistischen
Akkumulationsprozesses, die sich in zyklischen
Konjunkturschwankungen äußert. Die Investitionen der
Unternehmen laufen im Aufschwung systematisch der dahinter
zurückbleibenden Entwicklung der Endnachfrage voraus, und die
sich daraus entwickelnden Überkapazitäten und Probleme
der Realisierung des Mehrwerts führen regelmäßig zu
krisenhaften Einbrüchen der Investitionen.[3] Auch diese realwirtschaftlichen Prozesse laufen
nicht völlig „naturwüchsig“ ab, sondern
werden durch gesellschaftliche und politische Institutionen und
Vorgänge mitbestimmt, insbesondere durch die Entwicklung der
Tarifeinkommen, die stabilisierende Wirkung der
Sozialversicherungen und die staatliche Finanzpolitik und
Geldpolitik. Dadurch kann jedoch die krisengenerierende
Eigendynamik der kapitalistischen Akkumulation nur modifiziert,
gemildert oder verschärft, nicht aber aufgehoben werden.
Ohne eine Analyse der realwirtschaftlichen und insbesondere der in den spezifisch kapitalistischen Produktions- und Verteilungsverhältnissen liegenden Krisenursachen ist eine den realen Prozessen und Gesetzmäßigkeiten gerecht werdende Analyse der Wirtschaftsentwicklung nicht möglich. Das gilt erst recht für die längerfristigen, strukturellen Wachstumsprobleme und Krisenphasen kapitalistischer Entwicklung, die sich mit dem zyklischen Verlauf der Akkumulation verknüpfen. Die von Eicker-Wolf skizzierte postkeynesianische Position wird dieser Anforderung nicht gerecht. Sie überschätzt die Bedeutung monetärer und geldpolitischer Faktoren und liefert damit ein einseitiges und verzerrtes Bild des Gesamtprozesses.
Lohnentwicklung und Inflation
Dies gilt – zweitens – insbesondere für die Darstellung der Zusammenhänge zwischen Lohnentwicklung, Verteilungsentwicklung und Inflation. Hier behauptet Eicker-Wolf geradezu apodiktisch: „Lohnsteigerungen über dem Anstieg der Arbeitsproduktivität führen nicht zur Verbesserung der Verteilungsposition der abhängig Beschäftigten sondern zu Inflation“. Als Beleg führt er empirische Daten an, nach denen die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten[4] deutlich enger mit der Entwicklung der Inflationsrate als mit der der Lohnquote zusammenhängt. Dies widerspreche Marx’ Position, nach der Lohnauseinandersetzungen die Reallöhne bestimmten und sich unmittelbar auf die Verteilungsposition, aber nicht auf die Preise auswirkten.
Hier ist zunächst anzumerken, dass dies unter den von Marx vorausgesetzten Bedingungen eines auf Gold basierten Geldsystems durchaus zutrifft, da die Preise dann durch den relativen Wert der Geldware gegenüber dem der einzelnen Waren bestimmt sind. Dabei ist sich Marx des Unterschieds zwischen Nominallohn und Reallohn durchaus bewusst. Er äußert sich mehrfach über die Auswirkungen von Veränderungen der Produktivität in der Produktion der Waren wie des Goldes auf die Preise, wodurch dann die Reallöhne verändert werden. Er ging davon aus, dass dies im Anschluss durch Veränderung der Geldlöhne wieder kompensiert würde, behandelte aber auch Phänomene der Abweichung des Preises der Arbeitskraft, also des Lohns, von ihrem Wert, in Abhängigkeit von besonders günstigen oder ungünstigen Kräfteverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund größerer oder kleinerer „relativer Übervölkerung“ (Arbeitslosigkeit).[5] Aber die von Eicker-Wolf angesprochene Varianz des Preisniveaus in Abhängigkeit von der Lohnentwicklung hatte Marx tatsächlich nicht analysiert bzw. antizipiert, weil sie damals in dieser Form noch nicht bestand.
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Von größerem Interesse als diese historische Frage ist aber, wie die tatsächlichen Verhältnisse unter den heutigen Bedingungen theoretisch angemessen widerzuspiegeln sind. Die von Eicker-Wolf formulierte postkeynesianische Auffassung leistet das nicht. Da die gewerkschaftlichen Lohnforderungen und ihre Durchsetzungsmöglichkeiten selbst in hohem Maße von den vorangegangenen und voraussichtlichen Preissteigerungsraten abhängen[6], ist der angeführte statistische Zusammenhang zwischen diesen Größen wenig überraschend. Wie Eicker-Wolf selbst feststellt, zeigen Korrelationen nicht unbedingt Kausalitäten, und insbesondere ist die Richtung des möglichen Kausalzusammenhangs hier unbestimmt. Es geht nicht darum, eine Wirkung der Lohnentwicklung auf die Inflation zu leugnen, sondern darum, dies als eine Wechselwirkung zu begreifen, in der auch andere Faktoren und Zeitverzögerungen eine wichtige Rolle spielen.
Lohnentwicklung und Verteilungsposition
Auf der anderen Seite belegen die von Eicker-Wolf dargestellten Datenreihen keineswegs, dass es zwischen der Höhe der Lohnsteigerungen und der Verteilungsposition keinen Zusammenhang gebe, im Gegenteil. Vielmehr zeigt sich durchgehend eine hoch signifikante Korrelation, zumeist mittlerer, in Deutschland und einigen anderen Ländern auch hoher Stärke. Da Veränderungen der Lohnquote in der Regel deutlich geringer sind als die der Preissteigerungsraten, ist es auch kein Wunder, dass die Korrelation zwischen Lohnstückkostenentwicklung und Preisentwicklung stärker ist als die zur Lohnquotenveränderung.
Werden beide Datenreihen im Zusammenhang betrachtet, stellt sich die Entwicklung so dar: Die bereinigte Lohnquote stieg oder sank im Wesentlichen in dem Maße, wie es den abhängig Beschäftigten gelang, Lohnsteigerungen durchzusetzen, die über der Summe aus Produktivitätszuwachs und Preissteigerungen lagen, oder wie sie dahinter zurück blieben, also ob sie den „verteilungsneutralen Spielraum“ für Lohnerhöhungen (mehr als) ausschöpfen konnten oder nicht. Dies ist nun auch wiederum nicht überraschend, da zwischen diesen Größen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung definitionsmäßig enge Zusammenhänge bestehen.[7]
Diese ganze ex-post-Betrachtung der Entwicklung ist deshalb nur von begrenztem Erkenntniswert. Die wissenschaftlich und für gewerkschaftliche Tarifpolitik eigentlich relevante Frage wäre die nach den realen Auswirkungen expansiver, über den ex ante erwarteten Verteilungsspielraum gezielt hinausgehender Tarifpolitik auf die Verteilungsverhältnisse, aber auch auf das Wachstum der absoluten Lohnsumme. Hier gibt es viele modifizierende Variablen, weshalb dies erheblich schwieriger zu operationalisieren und empirisch zu untersuchen ist: die Differenzen zwischen Tarifforderungen und Abschlüssen und zwischen Tariflohn- und Effektivlohnentwicklung, die Vielfalt der auf die Preis- und Wirtschaftsentwicklung einwirkenden Faktoren einschließlich wirtschafts- und geldpolitischer Maßnahmen und gesamtwirtschaftlicher Rückkopplungseffekte und die daraus folgenden Schwierigkeiten, Ursachen und Wirkungen bestimmter Entwicklungen zu isolieren und zuzuordnen.
Ob und in wieweit die Unternehmen in der Lage sind, höhere Lohnkosten durch Preiserhöhungen abzuwälzen, hängt von den jeweiligen Nachfrage- und Konkurrenzbedingungen ab und muss konkret untersucht werden. Eine theoretische Vorannahme der vollständigen Überwälzung höherer Lohnkosten und Konstanz der Profitquote ist jedenfalls nicht zu begründen. Es lässt sich so auch überhaupt nicht erklären, dass und wieso sich in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte erhebliche Veränderungen der Lohnquoten und Profitraten in beide Richtungen abgespielt haben – mit einem Bruch der Entwicklungsrichtung in der Krise 1974/75. An Marx anknüpfende Überlegungen zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit, Kräfteverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und der Entwicklung der Löhne und Verteilungsverhältnisse bieten hier bessere Erklärungen als postkeynesianische Ansätze.
Ökonomische Theorie und Gesellschaft
Das bedeutet wiederum nicht, dass Erkenntnisse des Postkeynesianismus – der ja auch vielfältig ist – über das Verhältnis von Vermögens-, Güter- und Arbeitsmärkten, die Rolle der Geldpolitik und unsicherer Erwartungen usw. nicht bedeutsam wären. Sie können einen wichtigen Beitrag zur Erklärung bestimmter Phänomene heutiger kapitalistischer Ökonomien leisten, nicht mehr und nicht weniger. Sowohl marxistisch als auch (post-)keynesianisch orientierte ÖkonomInnen sollten Erkenntnisse der anderen theoretischen Richtungen einbeziehen und ihr gesamtes Theoriegebäude immer wieder kritisch überprüfen. Maßstab kann dabei nur die Fähigkeit zur Erklärung der sozialökonomischen Realität sein – und die Stärkung der Gegenpositionen zur herrschenden modernen „Vulgärökonomie“[8] und ökonomischen Religion in Form von Neoklassik und Neoliberalismus.
Dabei muss Ausgangspunkt die Erkenntnis sein, dass die Wirtschaft ein komplexes System im Rahmen der übergeordneten Systeme Gesellschaft und Weltmarkt ist und Ökonomie eine Sozialwissenschaft. Es gibt hier keine streng einseitigen Kausalitäten, sondern nur relative Dominanz und Abhängigkeit und immer – oft widersprüchliche – Wechsel- und Rückwirkungen im Rahmen des Gesamtsystems und mit anderen sozialen Systemen. Mit der schlichten Anwendung fixer Formeln und Modelle ist es da nie getan, notwendig bleibt immer die Analyse der konkreten Bedingungen der jeweiligen Situation. Dabei bleibt immer Unsicherheit und Raum für begründete unterschiedliche Einschätzungen. Letztlich ist auch in ökonomischer Hinsicht die Geschichte das Resultat der menschlichen Tätigkeiten unter den jeweiligen Handlungsbedingungen und insoweit nicht vollständig vorbestimmt, sondern prinzipiell offen für Gestaltung und gesellschaftliche Veränderung.
[1] Vgl. etwa Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Hein oder Zinn.
[2] Vgl. zu einer allgemeinen Darstellung der Marxschen Auffassung Hein: 267-275
[3] Vgl. Marx, Kapital I: 662, Kapital III: 254f, 259f., 501, Memorandum `84: 87-90; Goldberg: 34-72, Priewe, und zuletzt die Darstellung von Müller in Z. Nr. 49, der ich weitgehend folge. Auch ich gehe von i.d.R. 8-10-jährigen Investitionszyklen aus.
[4] Die Lohnstückkosten steigen dann und in dem Maße an, wie die Steigerung der Lohnkosten je Stunde (inkl. aller sog. Lohnnebenkosten) die Steigerung der Arbeitsproduktivität (Bruttowertschöpfung bzw. Bruttoinlandsprodukt je geleisteter Arbeitnehmerstunde) übersteigt. Nur wenn dieser Anstieg stärker ist als der des Preisniveaus, ist damit eine Umverteilung zugunsten der Lohnabhängigen verbunden; wenn das Preisniveau stärker steigt als die Lohnstückkosten, wurde der „verteilungsneutrale Spielraum“ nicht ausgeschöpft und es findet Umverteilung zugunsten der Kapitaleinkommen statt.
[5] Vgl. insb. Marx, Kapital I: 666-670
[6] Zentrale Orientierungsgröße ist hier der gesamtwirtschaftliche „Verteilungsspielraum“ als Summe aus prozentualer Produktivitätssteigerung und Preissteigerung, vgl. ver.di Bundesvorstand: 30
[7] Im Detail ergeben sich Abweichungen wegen der Differenz zwischen tatsächlicher und bereinigter Lohnquote und wegen des sinkenden Anteils des Volkseinkommens am Bruttoinlandsprodukt, v.a. wegen des steigenden Anteils der Abschreibungen und des Saldos von Produktionsabgaben und Subventionen. Weitere Abweichungen treten auf, weil hier die Entwicklung von Quoten auf Basis jeweiliger Preisen und konstanter Preise verglichen wird. Diese Abweichungen sind in den einzelnen Jahren gering, können aber kumuliert über längere Zeiträume erhebliches Gewicht erlangen. In Bezug auf die Bestimmung des „verteilungsneutralen Spielraums“ und die verteilungspolitische Bewertung der Lohnquotenentwicklung ist außerdem von Bedeutung, welche Preissteigerungsraten betrachtet werden. Die Preissteigerungen für den Konsum privater Haushalte lagen seit Mitte der 1990er Jahre um 3,5 Prozentpunkte höher als die Entwicklung des für die Lohnstückkosten relevanten Deflators des Bruttoinlandsprodukts, und die Preise für Anlageinvestitionen sind seit Mitte der 1990er Jahre insgesamt gar nicht gestiegen.
[8] Marx, Kapital I: 95, Fußnote 32