Berichte

Vor den europäischen Aktionstagen gegen Sozialabbau

„Initiative für Politikwechsel" und Aktionskonferenz „Alle gemeinsam gegen Sozialkahlschlag" in Frankfurt/M.

März 2004

Im Vorfeld der durch das 2. Europäische Sozialforum in Paris angeregten Europäischen Aktionstage gegen Sozialabbau (2. und 3. April 2004) fanden u.a. in Frankfurt/M. eine Reihe von Tagungen statt, bei denen es um die Entwicklung sozialer Bündnisse gegen die Sozialstaatsdemontage in der Bundesrepublik ging. Sie zeigten, dass die Neuformierung einer außerparlamentarischen Bewegung, die auf der Zusammenarbeit verschiedener sozialer Bewegungen, Organisationen und Initiativen im „zivilgesellschaftlichen“ Raum beruht, gegenwärtig zwar mit vielen Problemen zu kämpfen hat, aber auch, dass sie vorankommt.

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Die „Initiative für einen Politikwechsel“ (über deren Aktivitäten zuletzt von U. Wilken in Z 52, Dezember 2002, S. 177ff. berichtet worden war) bilanzierte am 23. November 2003 bei ihrer Arbeitstagung „Für ein soziales Bündnis“ die Probleme der aktuellen sozialpolitischen Entwicklung. VertreterInnen aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und NGOs legten ihre Ansichten dar, wie und mit welcher Perspektive praktisch in die sozialen Auseinandersetzungen eingegriffen werden könnte.

Einigkeit bestand darüber, dass der Sozialabbau keineswegs zwangsläufige Folge demographischer Trends ist, sondern in der Situation einer Stagnationskrise dem Druck mächtiger Interessen folgt. „Der Sozialstaat ist nicht Auslöser sondern Opfer der Krise“ (Prof Gerhard Bäcker, Wissenschaftleraufruf „Sozialstaat reformieren statt abbauen“). Möglichkeiten des Aus- statt Abbaus von beschäftigungs- und sozialpolitisch orientierten staatlichen Interventionen sind absolut gegeben, wie das Beispiel Schwedens zeigt, so Prof. Karl-Georg Zinn (Aachen). Bäcker plädierte insbesondere für eine „ideologische Debatte“ über soziale Gerechtigkeit, um der neoliberalen Dominanz in der öffentlichen Meinung entgegentreten zu können. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, Ottmar Schreiner, prognostizierte weitere Verschärfungen u.a. bei der Regelung der Zumutbarkeit von Arbeit. Angesichts geschwächter Gewerkschaften und eines wachsenden Niedriglohnsektors sei eine Debatte über gesetzlichen Mindestlohn notwendig. Die Anwesenheit Schreiners unterstrich mögliche Wechselwirkungen zwischen Linken auf parlamentarischer Ebene und außerparlamentarischen Initativen, provozierte in der Diskussion aber auch verschiedene Fragen nach deren Abstimmungsverhalten im Anschluß an die zu erwartenden Beschlüsse des Vermittlungsausschusses. Werner Rätz vom attac-Kokreis brachte Forderungen ein, die nicht zum gängigen Kanon der sozialstaatlich orientierten sozialpolitischen Diskussion gehören: Ein Recht auf Existenzgeld für alle Menschen; Lösung des globalen Schuldenproblems („kein gutes Leben für alle nur in diesem Land“); Legalisierung von rechtlich ungeschützten MigrantInnen; Einstellung der Förderung von Destruktivtechnologien (genannt wurden Atom- und Gentechnologie). In der Debatte kamen u.a. zum Ausdruck: Hoffnungen auf einen „Politikwechsel“ knüpfen sich immer weniger an Parteien, sondern an „Politik von unten“; das Massenbewußtsein ist ausgesprochen diffus, viele erleben zum ersten Mal sozialen Abstieg, wobei offen ist, in welche politische Richtung der Protest geht. Der Vergleich verschiedener Demonstrationen (Berlin, Wiesbaden, Düsseldorf) zeigte nicht nur die Rolle von „Basis-Aktivitäten“ bei deren Zustandekommen, sondern gerade die Bedeutung des aktiven Eingreifens besonders der Gewerkschaften, wobei (siehe Wiesbaden) die Mobilisierung des Protests gegen CDU-geführte Regierungen leichter fällt als gegen eine Sozialdemokratie an der Regierung.

Dabei zeigen sich durchaus Unterschiede zwischen den Einzelgewerkschaften. In ver.di hat sich (so Hartmut Limbeck, Vorsitzender von Ver.di in NRW) eine mit der „neuen Sozialdemokratie“ verbundene Richtung nicht so durchsetzen können wie in anderen Einzelgewerkschaften. Limbeck verwies auch darauf, dass heute der Meinungsaustausch am Arbeitsplatz („Pausengespräche“) angesichts arbeitsorganisatorischer Umstrukturierungen bedeutend schwieriger sei; die Gewerkschaften müssten also auch nach anderen Ansatzpunkten im politischen Kampf suchen. Seitens der IG Metall unterstrich Hans-Jürgen Urban die Erfahrung „Bewegungen konstituieren sich über Bewegung“. Eine Bewegung von autonomen, zusammenarbeitenden Organisationen sehr heterogenen Zuschnitts sei für alle Beteiligten „gewöhnungsbedürftig“; für die Gewerkschaften sei das derzeit ein Lernprozess. Die Sozialen Wohlfahrtsverbände werden durch die Sozialdemontage besonders stark getroffen (Franz Segbers vom Diakonischen Werk in Hessen und Nassau). Die vom Regierungschef des Landes in neofeudaler Manier verkündeten Kürzungen der Zuschüsse für die Sozialverbände zögen einen Personalabbau nach sich. Dadurch könnten in Hessen rd. 300.000 BürgerInnen in Zukunft bisher gewährte soziale Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen. Sabine Leidig (Geschäftsfüherin attac) empfahl eine Orientierung der entstehenden sozialen Bündnisse an Erfahrungen der globalisierungskritischen Bewegung. Neben der Fokussierung auf Einzelforderungen hatte sie hier stärker die Entwicklung von allgemeinen Forderungen im Auge, die es unterschiedlich motiviertem Protest ermöglichen, sich an Bewegungen zu beteiligen (Forderungen wie „Menschen vor Profit“, „Die Welt ist keine Ware“). Die über das Europäische Sozialforum vorankommende Internationalisierung des Sozialprotests sei wichtig, wobei sich eine Ungleichzeitigkeit der Bewegung in den einzelnen Ländern zeige. In einzelnen Ländern gab es Generalstreiks, Erfolge habe es aber noch nicht gegeben.

Die Tagung stand insgesamt noch unter dem Eindruck der beiden großen Demonstrationen in Berlin und Wiesbaden. Aus Sicht von Horst Schmitthenner (IG Metall) sind Hintergrund der überraschend starken Sozialproteste eine wachsende Unzufriedenheit mit der Berliner Politik; es gäbe keine mehrheitliche Position in der Gesellschaft mehr, die einer der Parteien eine Lösung der sozialen Probleme zutraue; andererseits könne keine der Parteien auf Dauer gegen die gesellschaftliche Mehrheit Politik machen. In dieser Konstellation bestehe die Chance, NGOs und Gewerkschaften zu gemeinsamem Handeln zusammenzuführen.

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Auf der Aktionskonferenz „Alle gemeinsam gegen Sozialkahlschlag“ am 17. und 18. Januar 2004 in Frankfurt/M. waren rund fünfhundert Aktivisten aus sozialen Initiativen, dem Netzwerk attac, Gewerkschaften, Erwerbslosenorganisationen und ähnlichen Organisationen und Gruppen präsent. Die Veranstalter sprachen von 50 bis hundert Gruppen/Initiativen und Organisationen. Der Tagung war am 30. November 2003 ein durch das Europäische Sozialforum angeregtes Treffen vorausgegangen, bei dem die Vorbereitung der Aktionskonferenz und Kontaktaufnahme zu den Gewerkschaften beschlossen worden war. Im Zentrum der Tagung stand (neben Berichten einer größeren Zahl von lokalen Initiativen über ihre Aktivitäten) die Frage, ob die hier repräsentierten Initativen mit den DGB-Gewerkschaften gemeinsam handeln und ins Bündnis gehen wollten und ob sich hierfür eine tragfähige Basis finden ließe. In den Eingangsstatements von Hans-Jürgen Urban (IG Metall-Vorstandsverwaltung), Anne Allex (Runder Tisch der Erwerbslosenbewegung) und Sabine Leidig (attac) wurde dieses Ziel formuliert, wobei die z.T. starken Divergenzen bei der Beurteilung von Handlungsmöglichkeiten und Zielen schon hier deutlich wurden.

Urban, der die Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass eine gemeinsame Orientierung von Protestinitiativen und Gewerkschaften für den 3. April möglich sei, forderte eine intensivere Diskussion zwischen allen beteiligten Strömungen über Ziele und Strategie des Protests. Der Versuch, „den Sozialstaatskapitalismus in einen Standort- und Aktionärskapitalismus umzuwandeln“, werde nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene betrieben, sondern in starkem Maße auf der europäischen Ebene vorangetrieben. Dem müsse auch auf diesen beiden Ebenen etwas entgegengesetzt werden. Als Essentials aus gewerkschaftlicher Sicht wurden genannt: Öffentliche Finanzierung öffentlicher Aufgaben unter Heranziehung der privaten Geldvermögen und Unternehmen. Kein Sektor der Gesellschaft dürfe von der Arbeit ausgeschlossen werden, wobei die Gewerkschaften Antwort auf die Fragen geben müssten „was für eine Erwerbsarbeit?“, „was ist ‚gute Arbeit’?“. Für den Ausbau sozialer Sicherungssysteme müssten hohe Einkommen stärker herangezogen werden. Große Bedeutung komme der Entwicklung von Formen direkter Demokratie zu; Europa müsse stärker demokratisiert werden. Für die Gewerkschaften gehe es besonders um Schutz und Ausweitung von Betriebsrats-Rechten. Anne Allex konstatierte eine „wachsende Empörung“ in der Gesellschaft über die Agenda 2010. Die Demonstration vom 11. November in Berlin sei Indikator „eines Stimmungsumschwungs“ im Lande. Die unabhängige Erwerbslosenbewegung habe große Probleme mit der Haltung der Gewerkschaften. DGB-Chef Sommer habe die Ergebnisse der Hartz-Kommission begrüßt. Die Gewerkschaften seien insofern „mitverantwortlich für die Sozialraubpolitik“. Andererseits gäbe es Signale der Umorientierung. Man wolle dies ernst nehmen und längerfristig mit den Gewerkschaften und mit attac kooperieren. Zu den eingebrachten Forderungen gehörten: Grundeinkommen für Erwerbslose, gesetzliches Mindesteinkommen für Erwerbstätige, Kampf gegen unversicherte Arbeit, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich auf 30 Stunden/Woche, gleiche Rechte für Migranten. Anders als Allex (und mit mehr Realismus) beurteilte Sabine Leidig (attac) die Stimmung in der Öffentlichkeit. Beim Anwachsen des Protests dürfe die Widersprüchlichkeit des Massenbewusstseins nicht unterschätzt werden (Schwanken zwischen Ablehnung und Akzeptanz des Sozialabbaus je nach Betroffenheit und Maßnahmen, weitgehende Akzeptanz der Wettbewerbs- und Standortargumentation, geringe Einsicht in die wirklichen Verteilungsgegensätze zwischen Kapital und Arbeit etc.). Insgesamt sei die Oppositionsbewegung derzeit fragmentiert und daher für die Mehrheit der Bevölkerung nicht wirklich attraktiv. Als Elemente einer „neuen Bewegung“ nannte Leidig: Pluralismus und Konsens, Kooperation ohne zentrale Entscheidung auf Basis von Konsensprinzip und wechselseitigem Respekt der einzelnen Beteiligten. Arbeit mit „Foren“, die einen Raum für die Suche nach strategischen Konzepten bieten könnten. Kombination von Interessenvertretung und Aktivierung von Betroffenen zu selbsttätigem Handeln. Insgesamt – hier die gleiche Argumentation wie bei der Tagung der „Initiative für einen Politikwechsel“ – gehe es um Forderungen, die möglichst vielen einen Zugang zu den Bewegungen ermöglichten. Forderungen nach linearer Verkürzung der Wochenarbeitszeit seien zwar grundsätzlich richtig, für viele aber kein Bezugspunkt. Hier kam die sicher richtige Überlegung zum Tragen, dass in einer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft die Entwicklung übergreifender Forderungen und weniger die Verallgemeinerung sehr konkreter Einzelforderungen notwendig ist. Solche „Dächer“, unter denen sich viele versammeln können, seien Leitbilder wie „Die Diktatur der Vermögenden brechen“ (stärkere Besteuerung der Reichen; Schuldenerlaß für arme Länder usw.) oder das gegen die wachsende Kommerzialisierung des Lebens gerichtete Leitbild „Die Welt ist keine Ware“, was auch Formen der Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft umfasse.

Viele Teilnehmer der Tagung hielten solche Überlegungen allerdings für längst nicht weitgehend genug. Kritik an den Gewerkschaftsführungen mit bekannten Stereotypen („drängende Basis“ gegen „bremsende Führung“) und die Neigung, sich beim Aufstellen von Forderungen zu überbieten, spielten ebenso eine Rolle wie nicht zu übersehende Organisationsegoismen. Bei der Diskussion über die Abschlusserklärung eskalierte der Konflikt dann im Zusammenhang mit Forderungen nach Streik bzw. Generalstreik zu einem powerplay besonders trotzkistischer Gruppen gegen die Vertreter von attac, die dafür plädiert hatten, keine Formulierungen aufzunehmen, die potentielle Bündnispartner (DGB) „überfordern“ würden. Es sollte aber möglich sein, im Zuge der Vorbereitung der Aktionstage solch unsinnige Konflikte praktisch zu überwinden.

André Leisewitz

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Die zweite Tagung der „Initiative für einen Politikwechsel“ (Frankfurt/M., 1. Februar 2004) mit gut hundert Teilnehmern war erfrischend nüchtern in der Analyse, betont sachlich in der Kontroverse und beruhigend realistisch bei der Zielsetzung. Ein breites politisches Bündnis gegen Sozialabbau ist möglich, aber der Weg dorthin alles andere als einfach. Hierzu bedarf es eines hohen Maßes an „konstruktiver Selbstbeschränkung“, stellte Daniel Kreutz vom nordrhein-westfälischen Bündnis Soziale Bewegung treffend fest. Häufig engagierten sich die sozial wie politisch unterschiedlichen Organisationen und Initiativen ausschließlich unter dem Blickwinkel der weitestgehenden Verankerung ihrer eigenen Positionen. Zusammenarbeit müsse anders aussehen, das forderte auch Werner Rätz von attac. Inhaltliche Differenzen seien zwar vorhanden, doch gleichzeitig sei es geboten, eine „gemeinsame Bewegung aufzubauen“, dabei interne „Widersprüche auszuhalten“ und verschiedene politische Kulturen zu respektieren. So empfahl er für den Umgang miteinander: „Rücksicht nehmen“!

Der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Franz-Josef Möllenberg erläuterte eingangs nicht nur die Motivation der Gewerkschaften zur Beteiligung an den Europäischen Aktionstagen am 2. und 3. April 2004, sondern verschwieg auch nicht die „Hemmnisse der Mobilisierung in den Betrieben“. Die Demonstrationen müßten sich „gegen die Politik des Sozialabbaus der Bundesregierung“ richten, aber ebenso „ein Europa des äußeren Friedens“ und eine „Beschränkung der Macht der Konzerne“ thematisieren.

Dabei unterstrich der NGG-Vorsitzende den Wunsch des Deutschen Gewerkschaftsbundes, ein möglichst breites Bündnis gegen Sozialkahlschlag zu schaffen. Von einer solchen Orientierung erwartet Bernd Riexinger, ver.di-Bezirksleiter in Stuttgart, konkrete Signale für die sozialen Initiativen. Der Aktionstag am 3. April dürfe keinesfalls von den Gewerkschaften dominiert werden, vielmehr müßten sie den regionalen Bündnissen gegen Sozial- und Lohnabbau eine repräsentativen Beteiligung bieten und mit ihnen „auf Augenhöhe“ kooperieren. Nur auf diese Weise könnten die DGB-Gewerkschaften „fester Bestandteil, vielleicht sogar Motor der außerparlamentarischen Protestbewegung“ werden. Allerdings sollten die Aktivitäten nicht zu kurzatmig angelegt sein, sondern in eine „dauerhafte Auseinandersetzung über den 3. April hinaus“ münden.

Welch große Strecke zu einem breiten gesellschaftlichen Bündnis noch zurückzulegen ist, veranschaulichte Horst Schmitthenner, nach dem Ausscheiden aus dem geschäftsführenden Vorstand der IG Metall jetzt deren Beauftragter für soziale Bewegungen. Auch er wünsche sich „eine vorrevolutionäre Situation, bei der nur noch der Funke fehlt“. Doch auf dem Boden der Wirklichkeit sei festzustellen, daß die Gewerkschaften „im letzten Jahr den Widerstand bereits aufgeben hatten“. Insofern wäre der Aufruf des DGB und sein Einsatz im Europäischen Gewerkschaftsbund für einen europaweiten Aktionstag ein „großer Fortschritt“, der auch eine bisher nicht gekannte Offenheit der Gewerkschaften für Bündnisse signalisiere – also ein Schritt nach vorn auf dem richtigen Weg; nicht mehr, aber auch nicht weniger.