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Der Bernstein-Kautsky-Streit und die Unvermeidbarkeit ideologischer Kontroversen

Juni 2004

Kürzlich erschien im Campus-Verlag eine ausgezeichnete Edition des Briefwechsels zwischen Eduard Bernstein und Karl Kautsky.[1] Sie umfaßt von insgesamt knapp 1000 Briefen 309 Briefe aus der Zeit von 1895 bis 1905 (von 1901 bis 1905 liegen nur vier Briefe vor). In der Kernzeit wurden durchschnittlich mehr als fünf Schreiben pro Monat zwischen London (Bernstein) und Stuttgart ‑ ab Oktober 1897 Berlin ‑ gewechselt. Die großenteils ausführlichen Briefe (der Briefwechsel füllt 998 Seiten) dokumentieren ein packendes Dauergespräch zweier gleichwertiger Partner, dessen Faszination man sich schwer entziehen kann. Man bedauert, dass Telefon und SMS die Möglichkeit solcher Dokumentationen heute immer unwahrscheinlicher machen.[2]

1.

Kautsky und Bernstein waren – neben der erheblich jüngeren und gerade beginnenden Rosa Luxemburg – die theoretischen Köpfe des großen Revisionismusstreits, der die deutsche und in gewissem Maße sogar die europäische Sozialdemokratie um die vorige Jahrhundertwende in seinen Bann zog und vieles vorwegnahm, was dann auf Grund der Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg zur Spaltung der Arbeiterbewegung führte.

Das Auffälligste und auch Überraschende ist erst einmal die im Briefwechsel deutlich werdende tiefe freundschaftliche Verbindung der beiden. Kautsky spricht in einem Brief vom 29.7.1899 von Bernstein als seinem ältesten Freund. Die Freundschaft war verbunden mit einer weit darüber hinausgehenden engen Zusammenarbeit bei größter Übereinstimmung der Ansichten, die in einer entscheidenden Periode die Neue Zeit (NZ) als theoretisches Organ des Marxismus prägte. Kautsky war Redakteur, Bernstein neben Franz Mehring ständiger Mitarbeiter. Das gemeinsame Vorgehen wurde bis in die Details abgesprochen. Alle Manuskripte werden gegengelesen. Die Anreden der Briefe sind ganz persönlich, Bernstein schrieb an den „liebsten Baron“ und Kautsky an „my dear old boy“. Die Ehefrauen fügten jeweils einen persönlichen Beitrag an, und selbst auf der Höhe des Konflikts setzte Luise Kautsky hinzu: „always yours in spite of all Marxism and Anti-Marxism“ (22.12.1898). Regina Bernstein schrieb am 20.12.1999, dass das neue Jahr ein friedfertigeres sein möge, „denn mehr oder weniger ist ja unser Empfinden dem Streit der Männer unterworfen. Man ist ja nicht ungestraft Frau eines durch die Politik verdorbenen Mannes“.

Beide Dioskuren gehen von der Aufgabe aus, im Geist von Marx und Engels deren Theorie zu vertreten und an neuen Gegenständen weiter zu entwickeln. Bernstein stand mit Engels in engem Kontakt, der am Schluß durch die erste Frau Kautskys als Engels Vertraute schwer behindert wurde (Regina Bernstein an Luise Kautsky am 5.6.1893 und Bernstein an Kautsky am 29.10. 1894, angeführt in Diss., S. 234). In der Außenpolitik sahen beide inzwischen manche Dinge neu und anders, teilten auch nicht die besonders von Wilhelm Liebknecht und englischen Parteiführern vertretene Auffassung, dass alle Gegner der Türkei zu verurteilende Agenten des Zarismus seien. Das wurde besonders deutlich in der Auseinandersetzung mit dem Ausrottungsfeldzug der Türken in Armenien (Bernstein am 5.10.1896, Kautsky am 7.10.1896). In der Auseinandersetzung Großbritanniens mit den Burenstaaten, die vom deutschen Kaiser Wilhelm II. heftig unterstützt wurden, vertraten beide die Seite Großbritanniens, wobei das Argument der „höheren Kultur“ immer wieder eine Rolle spielte (Einleitung Briefwechsel, S. XXX f. ).

Einen wesentlichen Platz im Briefwechsel nehmen Sorgen um die persönliche materielle Existenz ein. Beide versuchen, neben den Einkünften aus der Neuen Zeit, durch Publikation von Büchern, durch Herausgaben aus dem Nachlass von Marx und später von Engels ihr spärliches Einkommen aufzubessern. Eine dauerhafte Lösung ist immer wieder nicht in Sicht. Weißt Du „einen reichen Mann, der die NZ als Wochenschrift übernehmen u fortführen würde, mit uns beiden als ständigen Mitarbeitern?“ fragte Kautsky am 21.3.1896. Bernstein, der nach wie vor wegen Verstoßes gegen das Sozialistengesetz und entsprechende Regelungen in der Schweiz aus beiden Ländern ausgewiesen war, liebäugelte 1896 mit einer Anstellung bei einer Bank in Johannesburg. Kautsky unterstützte diese „Erholungstour“, vor allem wegen des unwürdigen Zustands, „dem Dich die Kurzsichtigkeit und Kleinkrämerei unserer leitenden Geister ausgesetzt“ hat (12.6.1896). Der schwierige Umgang mit Verlegern und Politikern erbitterte beide gleichermaßen. Am wohl drastischsten kam das zum Ausdruck in einem Resümee schwieriger Auseinandersetzungen mit dem Verleger Johann Heinrich Wilhelm Dietz, der immer das Gespenst seines Bankrotts beschwor und seinen Umzug nach Berlin ablehnte, in dem ironischen Vorschlag Kautskys, zu den Muskitos an der Küste Nicaraguas auszuwandern. „Also, gründen wir eine Zeitung der Muskitoküste“, wo es weder Bücher noch Zeitungen gäbe. „Unsere Renten genügen, uns ein fürstliches Dasein dort zu sichern. Also auf zu den Muskitos, setzen wir den Ozean zwischen uns und alle Verleger und Parteileiter!“ (24.6.1896).

Trotz allen Wehklagens über Verleger und Politiker, zu dem jeder Wissenschaftler, auch der Autor dieser Zeilen, etwas hinzufügen könnte, hatten beide sich innerhalb kurzer Zeit eine einflußreiche Position geschaffen. Sie waren inzwischen durch großen Fleiß und glückliche Umstände nach dem Tode von Engels zu den beiden führenden Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie aufgerückt, die ihrerseits zur führenden Partei der Internationale wurde. Und sie selbst sahen das auch nicht anders. Ihre enge, grundsätzlich gleichberechtigte Zusammenarbeit verstärkte diese Position außerordentlich.

2.

Was aber war nun die Ursache ihres Konflikts? Der Briefwechsel erlaubt es, sein Heranreifen von Woche zu Woche zu verfolgen und sich ein Bild von den Ursachen dieses Konflikts zu machen, der, beginnend um die Wende 1897/1898, seinen öffentlichen Ausbruch auf dem Stuttgarter Parteitag der SPD am 4.10.1898 erreichte und Anfang 1900 mit dem Austritt Bernsteins aus dem Mitarbeiterstab der NZ seinen offiziellen Abschluß fand.

Schelz-Brandenburg hat seine Sicht in seiner einleitend erwähnten Dissertation vorgetragen. Für Kautsky sei mit seiner Polemik gegen Johann Karl Rodbertus „die Marxsche Theorie nicht mehr als Mittel der Erkenntnis, im Diskurs mit anderen Ansätzen auch als Gegenstand ihrer selbst im Sinne der doppelten Aufhebung zu begreifen, sondern als letzte Instanz für die Entscheidung über politische Differenzen“. Zu diesem Zweck mußte sie kanonisiert, „von den jeweils konkreten Umständen abgelöst“ werden, „das Todesurteil sowohl für den Materialismus wie für die Dialektik“ (S. 70). Marxismus war für ihn „Marxsches ‚System‘ plus Arbeiterpartei“ (S. 103). Mit der Massenpartei sei die Partei nicht mehr die Versammlung der Weisen, sondern ein Ort der Erkenntnis. Mit der Schrift Kautskys „Karl Marx Oekonomische Lehren. Gemeinverständlich dargestellt und erläutert“ von 1887 hätte „sich das Parteiinteresse die Marxsche Lehre selber“ unterworfen. „Die Marxsche Theorie ... begann jetzt, zur Ideologie zu werden, bezogen in erster Linie auf die Umgestaltung der Partei von einer sozialen zu einer weltanschaulichen Bewegung“ (S. 129). Kautsky sei kein Parteitheoretiker gewesen – für Schelz-Brandenburg wohl ein Widerspruch in sich – , auch kein Theoretiker des Sozialismus wie Engels, sondern Kompilator, ein Ideologe, der alles vom Votum von Friedrich Engels abhängig machte (S. 217 f.). Er setzte der Unübersichtlichkeit der Realität „die Übersichtlichkeit seiner Doktrin entgegen“ (S. 355). Hatte er sich zuerst an Engels orientiert, so wurde jetzt August Bebel zu seinem Fixstern, erfüllte sein Rückversicherungsbedürfnis (S. 321 f.). Kautsky machte – und damit war in den Augen von Schelz-Brandenburg das Urteil gesprochen – den Marxismus zur Ideologie, entwickelte ihn zum „dienstbaren Geist für die Parteipolitik“ (S. 398). So war seine Ideologie ein Vorläufer jener Ideologie, die Legitimationsideologie der gescheiterten Gesellschaftsordnungen war, so konnte sie die Basis für Lenins Marxismus geben (S. 397 f.). Darin lag der himmelhohe Unterschied zu Bernstein, der „diese Käfighaltung der Theorie verhindern wollte“ (S. 355), der den offenen Diskurs forderte und praktizierte (S. 402).

In der Einleitung zum Briefwechsel wird diese Position grundsätzlich wieder aufgenommen. Mit der Massenpartei werden „Erhalt und Ausbau der Partei und nicht die theoretische Durchdringung der Gesellschaft ... , lange vor dem leninistischen Hybrid-Typ, zur dominanten Aufgabe der Parteimitglieder“. Dieser Primat der Partei über die Theorie wurde von Kautsky proklamiert, „was von Bernstein nach wie vor als contradictio in adjecto schmerzlich empfunden, ja erlebt wird“. (Einleitung Briefwechsel, S. XIII)

Läßt sich diese radikale Gegenüberstellung – Parteiideologe auf der einen, undogmatischer Theoretiker auf der anderen Seite – tatsächlich auf den Briefwechsel stützen? Dabei geht diese Gegenüberstellung von einem negativ besetzten Ideologiebegriff aus, der Ideologie als falsches Bewußtsein faßt und sich auch auf Marxsche Äußerungen berufen kann. Wird dieser Ideologiebegriff akzeptiert, so ist der unparteiische Theoretiker von vornherein dem parteiischen Ideologen moralisch überlegen. Ich bin aber der Auffassung, dass eine solche Gegenüberstellung die Differenz der beiden Dioskuren gerade in den entscheidenden Jahren nicht erfaßt. Das soll aus charakteristischen Stellen des Briefwechsels belegt werden.

Dabei soll es nicht darum gehen, wer mit der Auseinandersetzung eigentlich angefangen hat (vgl. den Streit dazu in den Briefen Kautskys am 14.10.1998 und 20.6.1999, Bernsteins am 22.6.1999). Für das Verständnis der Ursachen ist das auch nicht wichtig. Insofern hat Kautsky recht, wenn er schreibt: „Im Übrigen ist die Frage, wer der Angegriffene, eine höchst gleichgiltige. Wo prinzipielle Gegensätze vorhanden, kommt es stets zu einem Kampf und es ist, wo nicht zwei berechnende Gegner einander gegenüberstehn, eine Sache des Zufalls, wer als der Angreifer und wer als der Angegriffene erscheint.“ (26.6.1899).

3.

Bernstein veröffentlichte seit 1896 in der NZ in einer Reihe „Probleme des Sozialismus“ nicht weniger als acht Artikel teilweise in mehreren Fortsetzungen, die eine Grundfrage nach der anderen aufwarfen. Das machten solche Titel wie „Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft“, „Allgemeines über Utopismus und Eklektizismus“ oder „Das realistische und das ideologische Moment im Sozialismus“ überaus deutlich. Alle diese Artikel bekam Kautsky auch zu lesen, waren Gegenstand ihres Briefwechsels.

Schon am 26.8.1897 schrieb Bernstein, dass er die NZ nicht „streng marxistisch“ redigieren würde. Wir müßten uns vielleicht gerade als Schüler von Marx und Engels kritisch zu ihnen verhalten. „Mir zwingt sich das heute immer stärker auf, und nicht nur, soweit ich konservativer werde.“ Im Gegensatz zu ihrer Methode könne er „ihre Resultate nur noch theilweise“ anerkennen. Kautsky stimmt in seiner Antwort vom 30.8.1897 zu, dass Resultate in Frage gestellt werden müßten. Man müsse in diesem Sinn Selbstkritik üben, aber nicht um ihrer selbst willen. Die Dialektik erfordere nicht, dass jede Erkenntnis sich später als falsch herausstellen muß. Die Methode habe die marxistische zu sein und an der materialistischen Geschichtsauffassung und der Überzeugung vom Proletariat als der treibenden Kraft festzuhalten. Würde das aufgegeben werden, „dann müßte ich allerdings gestehen, dann wäre ich fertig. Dann hätte mein Leben keinen Inhalt mehr“. Ein streng marxistisches Organ ohne Borniertheit und ohne Dogmenfanatismus sei notwendig. Bernstein antwortet ihm am 1.9.1897, dass er in der Theorie vor allem bei Engels immer mehr schwache Punkte sähe und dass man den Kampf gegen die absolute Dialektik, also gegen absolute Gegensätze auch in der Gesellschaftsentwicklung führen müsse, wo partielle Widersprüche gelöst werden und der übrige Körper nur mäßig verändert wird. Zu dieser Überlegung habe ihn vor allem das Scheitern von Marx beim 3. Band des Kapital gebracht. Marx, legte er am 23.10.1897 nach, schrieb seine „Briefe als Parteimann, als Revolutionär, nicht als Historiker, und damit können diese Briefe heute nicht als Geschichtsquelle betrachtet werden, wenn man sie absolut nimmt“.

Bernstein hatte in einer Rezension „Die Menge und das Verbrechen“ geschrieben, dass in einer erregten Menschenmenge „das verbrecherisch veranlagte Element leichter Einfluß und je nach dem die Oberhand“ gewinne. Kautsky schrieb ihm am 12.11.1897, dass diese Formulierung von reaktionärer Seite ausgebeutet werden könne „was Wasser auf die Mühle deiner Gegner in der Partei wäre“. Er hatte in einer Note auf den Unterschied von zusammengelaufener und organisierter Menge aufmerksam gemacht. Bebel hielt diese Formulierung Kautsky gegenüber trotz dessen Note für bedenklich.

Im Fall des Artikels „Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft“ schlug Kautsky Bernstein „aus rein taktischen Gründen“ Weglassungen vor und nannte als Beispiel den Satz, dass ihm unter gewissen Umständen die Republik mit einem Großherzog an der Spitze als vernünftigste Regierungsform erschiene. Die berühmte Sentenz „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles!“ wurde von Kautsky nicht bemängelt (Kautsky 18.12.1897, Fußnote von S.-B.).

Am 23.12.1897 bekennt Bernstein, dass er sich an der deduktiven Methode so sehr den Magen verdorben habe, dass er jetzt bei den Arbeiten tüchtiger Empiriker einen wahren Genuß finde. Dahinter stecke auch ein Stück Umkehr.

Während Bernstein immer neue Fragen aufwirft, wird Kautsky immer besorgter, nicht zuletzt auch durch seine Kontakte in Berlin. Er könne jetzt viel mehr als vorher in Stuttgart erfahren, wie unsere Sachen wirken. „Da habe ich gefunden, daß Deine Arbeiten das meiste Interesse erregen, aber hin und wieder auch denjenigen, die ihnen zustimmen, nicht opportun erscheinen.“ Sie fürchten, daß Du in Deiner Selbstkritik nicht die geistige Mauserung der Partei erreichst, „sondern nur, daß Du Deinen Einfluß in der Partei verlierst“. Wärst Du Deutschland näher, so würdest Du Deine Kritik „in Formen kleiden, die den Parteileuten sympathischer wären“. Er sei Optimist, Bernstein Pessimist geworden. Du siehst nur die Parteipresse, ich auch die bürgerliche. „Ein gut Theil der Parteifehler sind Fehler aller Parteien, aller Journalisten“. Der Satz zu Ziel und Bewegung habe „das Kopfschütteln mancher unserer Freunde erregt“. Das Ziel im Sinne eines Abschlusses der Bewegung sei tatsächlich eine nebelhafte Utopie. Aber der Satz könne auch anders gedeutet werden und gerade „für uns Theoretiker ist das Ziel wichtiger als die Bewegung“, die wir zum Bewußtsein ihrer Richtung, ihres Ziels bringen müssen (28.1.1898). Es wäre sehr gut, wenn Bernstein wenigstens nach Zürich kommen würde. Vor allem solle sich die Polemik auch gegen rechts, etwa gegen die Frankfurter Zeitung richten, die Bernstein als ruhig und vernünftig und als Zeugen dafür bewertet, dass die Partei nicht mehr revolutionär sei. Diesem Vorschlag kam Bernstein allerdings nicht nach. Die Endzielsentenz wurde auch von August Bebel gegenüber Kautsky am 15.2.1898 kritisiert. Bernstein akzeptierte die Kritik und sandte dem Vorwärts eine Korrektur, die dasselbe sage: „Die Bewegung ist mir alles, denn sie trägt ihr Ziel in sich“ (Fußnote von S.-B. zum Brief Bernsteins vom 5.2.1898).

Am 18.2.1898 fand Kautsky in einem Artikel zur Zusammenbruchstheorie drei Thesen, die nicht mehr „den Eindruck der Selbstkritik, sondern der Skepsis, des Zweifelns an unserer Sache selbst hervorbringen“, die Thesen nämlich, dass nicht alles verstaatlicht bzw. kommunalisiert werden kann, dass die Genossenschaftsidee im Rückgang begriffen sei und dass viele Unternehmen schließlich gar nicht anders als privat betrieben werden könnten. Bernstein zöge nicht nur gegen die große Revolution, „in der nach jakobinisch-blanquisti­schem Muster ohne weiteres der sozialistische Staat eingerichtet wird“, sondern gegen jede Revolution zu Felde. Es sei auch nicht richtig, dass in der Revolution immer die wertlosesten Leute oben aufkommen. Bernstein ersetzte das durch die Formulierung, die Revolution riefe auch Narren auf „und leider ist vorläufig die Welt noch so, dass die Narren ziemlich große Chancen haben“. „Ob wir die Revolution wünschen oder nicht,“ so Kautsky, „ob sie uns Sieg oder Niederlage bringt, sie ist in Deutschland unsere historische Aufgabe, an der wir vielleicht zu Grund gehn, die wir aber erfüllen müssen“. Wieder hebt er die immer stärker werdende Kritik in der Partei hervor. „Die Mehrheit unserer Leute wurde wüthend über Dich, manche aber, namentlich der Jüngeren, soll er geradezu schwankend und muthlos gemacht haben“.

Bernstein bleibt unbeeindruckt. Er habe die ganze Polemik in einem Artikel bringen wollen. „Und trotzdem bedaure ich die schroffe Form nicht. Sie hat die Blase zum Platzen gebracht“ antwortet er am 20.2.1898. Und wieder legt er nach. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats hieße für ihn jakobinische Anarchie. „Diese liegt überhaupt dem Marxismus in seiner ersten Gestalt, wie er im Kom Manifest entwickelt ist, zu Grunde, wie denn auch Marx im 18. Brumaire ganz logisch sich zur Partei der Anarchie zurechnet und in den Blanquisten die proletarische Partei erblickt hat“. Bernstein bedauerte jetzt das Scheitern des Johannesburger Planes. Er sei in Wirklichkeit nur Sozialreformer. Kautsky wiederholt am 26.2.1898 noch einmal, dass die Partei überwiegend keine Revolution wünsche, aber nicht akzeptieren könne, dass eine Revolution notwendig unser Ruin sein müsse. Wir könnten nicht „in den Kampf ziehen mit dem Bewußtsein, wir müssen geschlagen werden, dann sind wir schon geschlagen ... Der Führer mag seine Sache verloren geben, aber er wird es den Soldaten nicht sagen, wenn der Kampf unvermeidlich ist“. Bernstein leugnet am 28.2.1898 nicht den tiefen Wandel seiner Anschauungen. Er sei Skeptiker. Am 24.3.1898 schreibt er etwas resignierend: „Ich sehne mich nach einer Existenz, wo ich der Partei ganz unbefangen gegenüberstehe, durch nichts gebunden oder getrieben als meine Überzeugung. ... Heute leide ich unter dem Gefühl einer doppelten Verantwortung: der des Theoretikers und der des Agitators“.

Nach einigen Wochen, in denen die Auseinandersetzung um den Selbstmord von Eleanor Marx und die Verantwortung ihres Ehemannes Edward Bibbins Aveling beide in Anspruch nimmt, wird Kautsky wieder mit einem Artikel „Das realistische und das ideologische Moment im Sozialismus II.“ konfrontiert. Diesmal ist es vor allem der Schlußsatz, der ihn provoziert: „Wer nicht von einem jähen Sprung oder Tanz über Blut und Leichen in die vollendete kommunistische Gesellschaft träumt ...“.

Es ist jetzt schon kein Konflikt zwischen zwei Freunden mehr, sondern ein Konflikt zwischen „Dir“ und „uns“: „Du hast Dich so sehr in das polemische Bewußtsein gegen uns hineingearbeitet, dass es überall den Anschein hat, als ständest Du im Gegensatz gegen uns, auch dort, wo Dir jedermann Recht geben wird“, schreibt er am 26. und 27.5.1898. Er würde gerne wissen, was noch an Problemen käme und er warte mit Ungeduld auf die Konklusionen, bis zu denen er sich sein Urteil aufspare. „Eine neue Lehre kann man nur in ihrer Gesamtheit erfassen und prüfen, und bevor ich das Gesamtbild nicht vor mir habe, kann ich ein abschließendes Urteil nicht fällen. ... Du hast unsere Taktik über den Haufen geworfen, unsere Werthlehre, unsere Philosophie. Alles kommt jetzt darauf an, was Du Neues an Stelle des Alten zu setzen gedenkst.“ (16.6.1898)

Am 19.7.1898 erklärt Kautsky Bernstein: „Du verengländerst ... furchtbar rasch“, und schreibt ihm, dass er, wenn er dort bliebe, für die Partei verloren sei, weil er in Konflikt mit der Mehrheit der Parteigenossen kommen müsse. Bernstein habe nur noch Interesse für Selbstkritik der Bewegung, setzt er am 26.7.1898 fort, nicht mehr für die Kritik unserer Gegner. „Dadurch gewinnt aber die Selbstkritik einen zerstörenden Charakter, sie nimmt uns Waffen, die wir bisher gebraucht, ohne uns bessere zu geben“. Mit jedem Artikel „zeigt sich deutlicher Deine Abwendung vom Marxismus“, komme er dem Fabianismus näher. In Konsequenz dessen gewinne in der NZ „die Kritik des Marxismus ... die Oberhand über seine Propagirung und Anwendung, denn Du bist unser Theoretiker. Ich bin blos der Redakteur.“

Noch einmal schlägt Kautsky Bernstein eine gemeinsame Redaktion auf dem Kontinent vor und resümiert dann: „Wir sind einmal keine Eingänger ... , die keine Rücksichten zu nehmen brauchen ... Wir sind Parteimänner und müssen, wenn auch nicht unsere Überzeugungen, so doch unser Vorgehen den Bedürfnissen der Partei anpassen. Für diese Beschränkung werden wir reichlich entschädigt dadurch, daß hinter uns die ganze Kraft der Partei steht, die jedem unserer Worte eine ganze andere Bedeutung verleiht, als es das des begabtesten Eingängers hat.“ Für Bernstein geht es in seiner Antwort, wenn man nicht zu willkürlichen Konstruktionen greifen will, nicht ohne Eklektizismus ab, was den praktischen Kampf aber nicht beeinträchtige (28.7.1898). Die letzten Briefe drehen sich dann um das Gesicht der NZ, Auseinandersetzungen mit Dietz, das Verbleiben von Bernstein in der NZ.

4.

Der Rest ist schneller berichtet. Wenn man Schritt für Schritt das Reifen der Auseinandersetzung verfolgt hat, kann man nur zu dem Schluß kommen, dass beide, Bernstein wie Kautsky, den Konflikt wollten, dass das Auftreten Kautskys gegen ihn auf dem Stuttgarter Parteitag vom 3. bis 8. Oktober 1898 keine Überraschung sein konnte.

Rosa Luxemburg, erst vor kurzer Zeit in die deutsche Partei eingetreten, hatte im September 1898 bereits scharfe Angriffe gegen Bernstein gerichtet. Sie sprach jetzt dazu auf dem Parteitag in Stuttgart. In ähnlicher Richtung traten Parvus (Alexander Helphand) und Clara Zetkin auf. Eine Erklärung Eduard Bernsteins, die seine grundsätzliche Position noch einmal umriß, wurde von Bebel vorgetragen, was wiederum eine prinzipielle Erklärung Karl Kautskys gegen Bernstein auslöste. Zetkin und Parvus hatten Kautskys langes öffentliches Schweigen verurteilt. Ob dieses Schweigen auf der Freundschaft zu Bernstein beruhte, ob es Taktik war, ob der entscheidende Druck von Bebel ausgeübt wurde, ob Kautsky tatsächlich, wie er behauptet, erst zwei Tage vorher sich entschieden hatte, zum Parteitag zu kommen (23.10.1898), ist in meinen Augen nicht entscheidend. Es gab einen tiefen Widerspruch zwischen der gewandelten Überzeugung Bernsteins und der seiner Kontrahenten.

Im weiter fortgesetzten Briefwechsel beruft sich Bernstein immer wieder darauf, dass „wir zu dogmatisch“ waren, dass die NZ zu sehr Kampfblatt sei; die Taktik der Partei sei tatsächlich anders als die offizielle Theorie und von der „Voraussetzung einer nahe bevorstehenden Katastrophe unbeeinflußt“ (10.10.1998). Er sei tatsächlich vom Standpunkt der alten Parteitheoretiker abgewichen, stelle jetzt nach dem Sturm aber fest, „dass sehr viel mehr von meinen Artikeln akzeptirt werde als zuerst der Fall“. „Eine große Anzahl deutscher und ausländischer Sozialdemokraten“ hätte seinen Standpunkt anerkannt (27.10.1898).

Wenige Tage später kündigt Bernstein Kautsky sein Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ an, nicht zuletzt, „um zwischen uns eine klare Situation zu schaffen“. Er sähe den Blick Kautskys durch „gewisse doktrinäre Spinnweben getrübt“, und wenn es ihm gelinge, sie fortzureißen, könnten sie doch wieder „Kampfgenossen bleiben“ (31.10.1898). Die Kritik von rechts sei immer schwieriger, man sei dann kein Wirrkopf, aber eben ein halber Verräter. Bernstein schreibt, er hielte einen totalen Umschlag der Stimmung für wahrscheinlich. Die Ereignisse trieben aber beide auseinander: „Während ich die Konsequenzen meiner Zweifel am Marxismus ziehe, untergehst Du den Einflüssen Deiner Umgebung in Berlin.“ (16.2.1899) Ein sehr großer Teil der Partei denke und fühle wie er, ein anderer nicht minder großer Teil stünde dazwischen, und er zweifle, ob Kautskys Teil größer sei als beide andere zusammen. Jedenfalls sei er entschlossen, nicht freiwillig aus der NZ auszuscheiden (1.3.1899).

Kautsky allerdings war sich seiner Sache sicher. „So sehr mich persönlich Deine Siegeszuversicht angenehm berührt, die aus Deinen letzten Briefen spricht, so sähe ich doch ungern, daß Du Dich in Illusionen wiegst, aus denen das Erwachen unangenehm wäre“. Ohne neue Tatsachen werde Bernstein nicht die Mehrheit der Partei auf seine Seite bekommen (18.11.1898). Kautsky schreibt in der NZ drei Artikel gegen Bernstein: zur materialistischen Geschichtsauffassung, zur Dialektik und über Wertgesetz und Klassen. Jetzt sei „der Moment, wo der Gegensatz ausgefochten werden muß, es muß sich entscheiden, ob ein erheblicher Theil der Partei für oder wider Dich ist ... Dazu ist es aber auch nothwendig, den vorhandenen Gegensatz auf schärfste hervortreten zu lassen und nicht ihn zu vertuschen.“ (30.3.1899) In der Auseinandersetzung um die Rolle Bernsteins in der NZ wird er immer grundsätzlicher. „Ich halte die NZ für ein Organ des Kampfes, das auch die Diskussion zu pflegen hat, das aber nicht in ihr aufgehen darf. ... Ich kann die Verantwortung für die NZ nicht mehr tragen, wenn ich verpflichtet sein soll, Alles zu veröffentlichen, was Du einsendest.“ Er müsse Bernsteins Artikel prüfen, ob sie im Parteiinteresse liegen oder nicht (29.7.1899).

Gegen diese Einschränkung empört sich Bernstein. „Das mußt Du doch begreifen, dass sich in mir jeder Nerv dagegen auflehnen würde, auf solche Bedingung gerade für die Neue Zeit zu arbeiten. Ich könnte es einfach nicht, ich brächte nicht einen Artikel zusammen.“ (3.8.1899) Kautsky veröffentlicht 1899 sein Buch der Auseinandersetzung mit Bernstein: „Bernstein und das Sozialdemokratische Programm“. Unter dem Druck Kautskys und vor allem von Dietz erklärt Bernstein am 30.4.1900 seinen Austritt aus dem Mitarbeiterstab der NZ.

5.

Der entscheidende Satz Kautskys war schon Ende 1898 gefallen. Er glaube nicht, irgend jemanden daran hindern zu können, für Bernstein Partei zu ergreifen, der es sonst tun würde. „Du bist ebenso Kirchenvater wie ich und genießest das gleiche Ansehn“ (30.11.1898). Solange Kautsky und Bernstein bedingungslos zusammenstanden, konnten sie gemeinsam Kirchenväter sein. Bei derart grundlegenden ideologischen Meinungsverschiedenheiten aber mußte einer von ihnen den Platz räumen. [3]

Die sozialdemokratische Partei, die Bewegung brauchte eine Verständigung über Grundaussagen, die den Mitgliedern und Sympathisanten die Möglichkeit gab, sich der überwältigenden Wirkung der herrschenden Ideologie zu entziehen. Diese Auseinandersetzung ist politisch-ideologischer Kampf. Die Verbindungen mit der Politik einerseits und mit der Wissenschaft andererseits konnten, mußten auch Widersprüche hervorbringen. Der ideologische Kampf kann seinem Wesen nach nicht der habermassche repressionsfreie Diskurs sein. Allerdings kann Ideologie durch Vereinfachung, durch radikale Politisierung die Reaktion auf eine sich verändernde Wirklichkeit verweigern und gerade dadurch den angestrebten Einfluss auf das Massenbewußtsein verlieren.

In der Situation der neunziger Jahre, nach dem Ende des die Partei zusammenschmiedenden Drucks des Sozialistengesetzes, mußte notwendig ein Kampf um die eigene Ideologie neu einsetzen. Sollte die Ideologie die Partei festigen, so konnte sie nicht zwei einander widersprechende „Chefideologen“ haben. Es ging nicht um den Kampf eines Theoretikers gegen einen Ideologen, sondern um den Kampf zweier Ideologen und Theoretiker.

Die Schwäche von Bernsteins Position lag darin, dass er die Siegeszuversicht der Partei unterminierte, bisherige Grundwahrheiten in Frage stellte, ohne eine konstruktive Antwort zu geben. Deshalb organisierte ihr Vorsitzender, August Bebel, 1898 in Stuttgart und ein Jahr später in Hannover in einer viertägigen Debatte die Verurteilung von Bernstein. Eine ganze Reihe von Thesen Bernsteins waren richtig, jedenfalls wurden echte Probleme aufgeworfen. Die Partei brauchte eine neue Sicht auf viele Fragen, aber diese identitätsstiftende Sicht konnte (und wollte) Bernstein nicht geben. Dem vereinfachten Glauben Kautskys an den „naturgesetzlichen“ Sieg des Großbetriebes, der Arbeiterbewegung und folglich des Sozialismus setzte er eine ebensolche „Naturgesetzlichkeit“ der Entwicklung der Demokratie entgegen. Die meisten Parteigänger Bernsteins in den Partei- und Gewerkschaftsfunktionen machten eine Politik im Sinne Bernsteins, aber hielten eine dem entsprechende Ideologie für überflüssig oder jedenfalls für verfrüht. Ignaz Auer schrieb ihm und zitierte das dann auf dem Parteitag in Hannover, wo die Anhänger Bernsteins nur 21 Stimmen erhielten (auch Auer stimmte für die offizielle Resolution): „Lieber Ede, Du bist ein großer Esel, denn so was sagt man nicht, so was tut man!“ (Einleitung Briefwechsel, S. XLVII). Eine Partei mit einer 40 Jahre alten Organisation und einer noch älteren Tradition könne nicht im Handumdrehen eine solche Wendung machen.

6.

Auch heute braucht eine Partei, die die kapitalistische Gesellschaft ablehnt, eine marxistische Ideologie, die zugleich wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit steht. Die Hauptvertreter einer solchen Ideologie waren damals Rosa Luxemburg und Wladimir Iljitsch Lenin in ihrer Auseinandersetzung mit Imperialismus und Militarismus. In der SPD waren die Massen für eine andere Gesellschaftsordnung, ein großer Teil der Führer nicht mehr, was die ideologische Führerschaft eines Kautsky zur Folge hatte. Luxemburg charakterisierte 1910 (übrigens lange vor Lenin) Kautskys zwei Gesichter als „himmelstürmende Theorie – und ‚Ermattung‘ in der Praxis, revolutionärste Perspektiven in den Wolken – und Reichstagsmandate als einzige Perspektive in der Wirklichkeit“.[4] Inzwischen hat sich die SPD längst von einer eigenständigen Ideologie verabschiedet.

Die Schwierigkeiten bei der Herausbildung einer den heutigen Verhältnissen adäquaten Ideologie beruhen letztlich auf der schweren Niederlage des europäischen Sozialismus Ende der 80er Jahre und der damit verbundenen radikalen Veränderung der Kräfteverhältnisse. Der der Niederlage folgende Rückzug ist noch längst nicht beendet. Eine Revolution ist nirgends in Europa in Sicht. Viele Mitglieder und Sympathisanten der PDS sind mit dem Anpassungskurs insbesondere in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern tief unzufrieden, sehen aber keine Alternative. Niemand weiß, ob die verbreitete Abneigung gegen alle Parteien in eine radikal rechte Entwicklung umschlägt. Die entscheidenden Spitzenpolitiker der PDS sind in der Gesellschaft, im Staat „angekommen“ und unterliegen nach wie vor der Faszination der Regierungsbeteiligung. Die mit diesen Führern verbundenen Ideologen sind heute mit – begrenzter ‑ Macht und Geldmitteln ausgestattet, haben eine ähnlich destruktive Rolle wie damals Bernstein, stimmen immer wieder Verurteilungen der DDR und von entsprechenden Denkmalen und Denkzeichen zu. Auch in ihrer Selbstkritik ist wie bei ihrem Vorgänger vieles von zerstörerischem Charakter, „sie nimmt uns Waffen, die wir bisher gebraucht, ohne uns bessere zu geben“. Hat man einen ideologischen Sieg errungen, so ruft man von oben: Nieder mit den Ideologen, Schluß mit den Debatten. Marxistischen Ideologen bleibt heute vor allem nur das übrig, was Kautsky damals dem unterlegenen Bernstein empfahl, Bücher zu schreiben und den Marxismus auf die heutige Welt anzuwenden. Schelz-Brandenburg erklärte am Schluß der Einleitung des Briefwechsels, dass im Gegensatz zum „Marxismus-Leninismus“ es in dieser Debatte keine Verfolgungen und keinen Mord gegeben habe. Tatsächlich sind spätere Morde nicht nur dem „Marxismus-Leninismus“, sondern auch der deutschen Sozialdemokratie zuzuschreiben. Die Tatsache, dass das wissenschaftliche Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung beinahe erlischt, seit der Sozialismus aufhörte zu existieren, ist keineswegs so absurd wie Schelz-Brandenburg annimmt (Einleitung des Briefwechsels, S. I/II). Schließlich räumte er selbst im Vorwort seiner Dissertation (S. 3) ein, dass es Lehrstühle für die Geschichte der Arbeiterbewegung in der BRD erst seit 1971 gab, was jedenfalls teilweise auf das Interesse der emanzipatorischen Studentenbewegung an den Materialien und Darstellungen der DDR zurückzuführen sei.

Mit dem Verschwinden der DDR ist die Bahn wieder frei für traditionelle Sichten, wie gegenwärtig das lebhafte Interesse an Vertreibungsgeschichte zeigt. Die beabsichtigte Ersetzung eines Palastes der Republik durch das Schloßgebäude der Hohenzollernmonarchie symbolisiert das in kaum zu übertreffender Art und Weise. Solange die kapitalistische Gesellschaft besteht, werden ihre Verfechter den ideologischen Kampf gegen frühere und gegenwärtige Sozialisten führen, um jeden Gedanken an eine Alternative zu ersticken. Solange bleiben Ideologen, die einen Sozialismus für notwendig und möglich – nicht für sicher – halten, erforderlich, alte und, wie zu wünschen, auch immer mehr junge. Die Linke wird einen langen Atem haben müssen.

[1] Till Schelz-Brandenburg (Herausgeber), Eduard Bernsteins Briefwechsel mit Karl Kautsky (1895-1905), Frankfurt/New York 2003. Im folgenden als „Briefwechsel“ zitiert.

[2] 1992 war bereits die Bremer Dissertation des Herausgebers erschienen: Till Schelz-Brandenburg, Eduard Bernstein und Karl Kautsky, Entstehung und Wandlung des sozialdemokratischen Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz 1879 bis 1932, Köln, Weimar, Wien 1992. Im folgenden als „Diss.“ zitiert.

[3] Unter Ideologie verstehe ich eine Einheit von theoretischen und Wertungsaussagen, die von einer Organisation getragen wird und sich im Kampf mit anderen Ideologien befindet. Ideologie ist also nicht schlechthin verkehrtes Bewußtsein. Der Marxismus als Ideologie hat immer den Anspruch erhoben, in seinen theoretische Aussagen mit den Ergebnissen der Wissenschaft übereinzustimmen. Jede Ideologie zielt auf die Beeinflussung des Massenbewußtseins, unterliegt dabei auch den Gefahren der Vereinfachung, der Unterordnung unter Apparatinteressen, der Missachtung des wissenschaftlichen Diskurses. Zum Ideologiebegriff vgl. U-J. Heuer, Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten, Baden-Baden 2002, S. 547-586 (Kap 13 „Ende der Ideologie?“).

[4] R. Luxemburg, Über Theorie und Praxis, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1971, S. 414.