Nord-Süd: Ökonomie und Politik des „New Imperialism"

Zur politischen Ökonomie der Nord-Süd-Kapitalbewegungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts

September 2004

I.

In diesem Beitrag sollen einige Überlegungen zur Entwicklung der Kapitalbewegungen und Finanzbeziehungen zwischen Nord und Süd in den letzten 50 Jahren vorgestellt werden. Angeregt wurde ich dazu durch die erneute Lektüre eines Aufsatzes von Dieter Boris aus dem Jahre 1966[1], einer der ersten Texte, aus denen damals etwas Substantielles über die Beziehungen zwischen Nord und Süd zu lernen war.

In diesem Aufsatz analysierte Dieter Boris den Strukturwandel der internationalen Kapitalbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Konstellation der Kapitalbeziehungen zwischen Nord und Süd war in dieser Periode (im Vergleich zur Periode vor dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegsperiode) im wesentlichen durch einen Rückgang der privaten zugunsten der öffentlichen Transfers, vor allem in Form der sog. Entwicklungshilfe, gekennzeichnet. Neben der Dominanz der öffentlichen Kapitalexporte (die auf „neue politische und strategische Aspekte in der Motivationsstruktur der kapitalistischen Staaten” – „neben den auf dem Prinzip individueller Profitmaximierung beruhenden ‘rein’ ökonomischen Momenten” – hinwiesen) war auch in Bezug auf die privaten Kapitalexporte ein deutliche Formveränderung zu konstatieren:

„Gegenüber den bis 1914 vorherrschenden Transferpraktiken der Anleihefinanzierung, der Kreditgewährung, dem Erwerb ausländischer Aktienanteile und Obligationen (portfolio investment) tritt heute mehr und mehr die durch unmittelbare Kontrolle und höhere Effektivität sich auszeichnende Direktinvestition großer Wirtschaftsunternehmen in den Vordergrund. Dabei ist der Anteil der privaten Auslandsinvestitionen an den gesamten Nettoinvestitionen zurückgegangen, der Anteil der Nettokapitalausfuhr am Bruttosozialprodukt ist erheblich gesunken: der Anteil der britischen – zu rund ¾ in die abhängigen Gebiete fließenden – Auslandsinvestitionen betrug in den Zeit von 1890-1910 3,1% des Sozialprodukts, 1934/38 hingegen nur mehr 1,3%; heute (1962) beträgt der Anteil des gesamten Kapitalexports – also auch des öffentlichen – durchschnittlich 1,1% des Bruttosozialprodukts der kapitalistischen Industrieländer, wobei der von den Entwicklungsländern aufgenommene Teil nur 0,6% ausmacht; der Beitrag des Privatkapitals für diese Länder ist sogar auf durchschnittlich 0,14% des Bruttosozialprodukts der Industrieländer zusammengeschrumpft.” (S. 177)

Diese Entwicklungen ließen schon damals eine Reihe interessanter Schlußfolgerungen zu: dass beispielsweise „der gegenwärtige Imperialismus ... nicht mehr ohne weiteres – auf Grund der wachsenden Selbstvermittlung des organisierten Kapitalismus – als geschlossenes System aus einem ökonomischen Krisen- und Zwangszusammenhang zu konstruieren” war (S. 176); dass die Bedeutung der Kolonialgebiete bzw. der späteren Dritten Welt für die Reproduktionsfähigkeit des Kapitalismus in den entwickelten Metropolen beträchtlich abgenommen hatte; dass aber gleichwohl die internationale kapitalistische Expansion für die Zielregionen im Süden von nicht zu unterschätzender Bedeutung geblieben war, zumal sich deren problematische Aspekte, wie die Förderung der Verschuldung, der oft damit einher gehende Kapitalabzug oder die Verschlechterung der Terms of trade, nach wie vor deutlich akzentuierten.

Interessant sind die erwähnten Aspekte der Analyse aber auch mit Blick auf die aktuelle Globalisierungsdebatte. So wäre zu fragen, ob es sich bei der mit dem Allerweltswort von der Globalisierung bezeichneten Entwicklung nicht zu einem beträchtlichen Teil um die Rekonstruktion eines internationalen Kapitalismus handelt, der vergleichbare Niveaus der internationalen Verflechtung in der Periode des „klassischen” Imperialismus schon einmal erreicht hatte. Je nachdem, welche Perspektive man einnimmt, wird man diese Entwicklung als „Wiederauferstehung einer liberalen Welt” („a liberal World restored”) bejubeln oder aber die jener Periode durchaus vergleichbare Zunahme von Gegensätzen zwischen Arm und Reich – im Inneren der Nationen wie im Weltmaßstab – beklagen, auf zunehmende Tendenzen der Militarisierung hinweisen, auf die Wiederbelebung der ökonomischen Interessengegensätze zwischen den kapitalistischen Metropolen usw.

Und dennoch wird man den aktuellen Entwicklungen nicht einfach mit der stereotypen Wiederholung von Thesen aus der Imperialismustheorie Hobsons, Hilferdings oder Lenins gerecht werden können, sondern sich um die konkret-historische und empirische Analyse der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklungsphase bemühen müssen, die ich zur Abgrenzung gegenüber früheren Globalisierungsschüben gerne als „neue Globalisierung” bezeichne. Dazu gehört nicht zuletzt, dass die einstige Expansion der imperialistischen Nationalstaaten heute zugunsten eines Systems von internationalen Organisationen in den Hintergrund getreten ist. In diesen Organisationen spielen die Nationalstaaten zwar nach wie vor eine erstrangige Rolle – sie garantieren jedoch mehr und mehr durch das von ihnen geschaffene und vertretene Regelsystem die internationale Bewegungsfreiheit der ökonomischen Akteure.

Doch bleiben wir beim Kernthema dieses Beitrags.

II.

In Bezug auf die Kapitalbewegungen zwischen Nord und Süd während der letzten 50 Jahre lassen sich mehrere Phasen und unterschiedliche Muster klar voneinander abgrenzen, die jeweils durch tiefgreifende Strukturwandelprozesse hervorgebracht werden. Diese „Metamorphosen” betreffen die Zusammensetzung der Kapitalströme, die Adressaten der finanziellen Transaktionen ebenso wie ihre Relevanz für die südlichen Länder und die Verteilung auf die unterschiedlichen Regionen in der Entwicklungswelt.

1. Bis Anfang der 70er Jahre blieb das von Dieter Boris analysierte Muster der Transaktionen vorherrschend mit einem Übergewicht der öffentlichen Entwicklungshilfe und einem allmählichen Anstieg privater Direktinvestitionen im Ausland, die allerdings in überwiegendem Maße (wie im übrigen auch die Hauptströme des Warenhandels) in andere Industrieländer flossen. In den 50er und 60er Jahren stellten öffentliche Kredite und Schenkungen den Hauptanteil am externen Finanzierungsbeitrag der Entwicklungsländer, während ausländische Direktinvestitonen (FDI: Foreign Direct Investment, Direktinvestitionen im Ausland) regelmäßig lediglich 20 bis 30% ausmachten. – Die Adressaten dieser Kapitalflüsse waren in der Hauptsache die Regierungen der jungen Nationalstaaten, besonders derjenigen, die sich ohne große Widersprüche in die antikommunistische Strategie des Containment und des Roll-back gegenüber dem sozialistischen Lager einfügten. Die regionalen Schwerpunkte der öffentlichen Hilfeleistungen lagen meist in Afrika und Asien, während das Privatkapital schwerpunktmäßig nach Lateinamerika floß. Dass die Expansionsrichtungen des öffentlichen und privaten Kapitals sich umgekehrt proportional zum Entwicklungsstand der Zielregionen verhielten, das öffentliche Kapital also vorrangig in die ärmeren Länder und Regionen floß, verweist auf eine wichtige Funktion, die der öffentlichen Entwicklungshilfe von Anfang an zugedacht war, nämlich über Infrastrukturentwicklung und dergleichen den Boden und die Rahmenbedingungen für die privatkapitalistische Expansion zu bereiten.

2. Während der 70er Jahre stiegen – in absoluten Zahlen gemessen – die öffentliche Entwicklungshilfe und die FDI weiter an, zur dominierenden Tendenz wurde jedoch das starke Wachstum der privaten Finanzflüsse, vor allem in Form privater Bankkredite. Zwischen 1975 und Anfang der 80er Jahre belief sich der Anteil der privaten Bankkredite auf rund zwei Drittel der gesamten Nettozuflüsse von Nord nach Süd, was die Tendenz zur Verschuldung (der südlichen Regierungen) enorm beschleunigte. Mit dem offenen Ausbruch der Schuldenkrise 1982 wurde diese Phase abrupt beendet.

3. Zwischen der ersten Hälfte der 80er Jahre und Mitte der 90er Jahre differenzierte sich das Muster der Kapitalbeziehungen weiter. Während der Anteil der privaten Kapitalströme – infolge des Rückgangs der internationalen Bankkredite – im Gefolge der Schuldenkrise in den 80er Jahren auf nur noch 50% am gesamten Nettofluß zurückging (bei gleichzeitiger Stagnation bzw. Schrumpfung der öffentlichen Leistungen), brachten die Finanzmärkte in den 90er Jahren einen erneuten Boom des Kapitalexports in die Entwicklungsländer, besonders in die emerging economies, hervor, so dass der Anteil des privaten Kapitalexports an den gesamten Nettoflüssen stark anstieg (auf rund 80%). Parallel zum Wiederaufschwung der privaten Bankkredite (die sich auf Asien konzentrierten) änderte sich in den 90er Jahren auch die Struktur der privaten Transaktionen selbst: Neben den stark wachsenden FDI erlangten erstmals seit langem wieder private Portfolioinvestitionen eine wesentliche Bedeutung; zwischen 1990 und 1996 waren sie durchschnittlich etwa gleich hoch wie die ausländischen Direktinvestitionen im Süden. Hinzu kam, dass – im Unterschied zu den 70er Jahren – jetzt nicht mehr nur Regierungen, sondern auch der private Sektor in den EL als Kreditnehmer bzw. Schuldner auftraten. Mit der Finanzkrise in Ost- und Südostasien 1996/97 wurde auch dieser Phase ein abruptes Ende gesetzt.

Tab. 1: Nettokapitalströme in Entwicklungsländer 1997-2002
(2002 geschätzt; in Mrd. US-Dollar)

Tabelle siehe Datei zum Download!

Quelle: Weltbank

4. Inzwischen hat das Muster der Finanzbeziehungen zwischen Nord und Süd einen erneuten Wandel durchgemacht, der vor allem durch das fast völlige Versiegen der verschuldungsrelevanten privaten Kapitalflüsse nach Süden und eine Dominanz der ausländischen Direktinvestitionen gekennzeichnet ist (vgl. Tab. 1). Seit ihrem Höhepunkt Mitte der 90er Jahre, als sich die an EL vergebenen privaten Bankkredite und die Investitionen nördlicher Geldgeber in staatliche Schuldverschreibungen (Bonds) im Süden auf durchschnittlich rund 135 Mrd. US-Dollar pro Jahr belief, hat das Engagement der privaten Gläubiger im Süden kontinuierlich abgenommen, so dass sich die Dritte Welt heute – bei privaten Krediten und Bonds – erneut – wie nach Ausbruch der Schuldenkrise zu Beginn der 80er Jahre schon einmal – in der Position des Nettokapitalexporteurs befindet, der mehr an den Norden zahlt als er umgekehrt in Form neuen Geldes erhält. Im jüngsten Weltbank-Bericht über globale Entwicklungsfinanzierung („Global Development Finance” 2003) wird dies nun als relativ stabiles Muster beschrieben, da als unwahrscheinlich gilt, dass die schuldenrelevanten Nettoflüsse in absehbarer Zeit das hohe Niveau der 90er Jahre wieder erreichen. Da sich inzwischen auch die Portfolioinvestitionen als relevante Größe wieder verflüchtigt haben und die öffentlichen Hilfetransfers nach wie vor stagnieren, bleibt die Dritte Welt im wesentlichen auf die Direktinvestitionen verwiesen, die mit derzeit rund 150 Mrd. US-Dollar im Jahresdurchschnitt alle anderen Typen finanzieller Transaktion in den Schatten stellen (siehe im einzelnen Tab.1).

Insgesamt betrachtet haben sich die Nettokapitalzuflüsse in die EL seit 1970 nominal mehr als verzwanzigfacht. Real ist die Steigerungsrate freilich weniger beeindruckend: Gemessen am Importpreisindex der Entwicklungsländer (der ihre Kaufkraft in Bezug auf ausländische Waren widerspiegelt) hat sich der Nettokapitalzufluß nur verfünffacht. Und selbst der Boom in den 90er Jahren repräsentierte so gesehen lediglich eine Rückkehr zum Niveau der 70er Jahre (Akyüz/Cornford 2002). Gemessen an der Entwicklung der internationalen Kapitalmärkte insgesamt hat die Bedeutung der Entwicklungsländer weiter abgenommen. Ihr Anteil am globalen Kapitalfluß ist von 13,2% (1996) auf 7,6% (2000) zurückgegangen (World Bank 2001).

III.

Der mehrfache Strukturwandel in den Kapitalbeziehungen zwischen Nord und Süd kann nicht losgelöst von der Entwicklung der politisch-institutionellen Rahmenbedingungen auf globaler Ebene und nicht unabhängig von den Bedingungen der internationalen Kapitalakkumulation analysiert werden. Auf die zentrale Bedeutung der Abkehr vom Bretton-Woods-System Anfang der 70er Jahre für die Revitalisierung des privaten Kapitalverkehrs ist oft hingewiesen worden. Dies gilt umso mehr, als damit nicht lediglich der Übergang vom Festkurssystem zu einem „Non-System” (David Felix) der flexiblen Wechselkurse und die allmähliche Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs verbunden war. Rückwirkend betrachtet verband sich mit der Aufgabe des von Keynes inspirierten (wenn auch damals schon nur in verkrüppelter Form realisierten) Bretton-Woods-Modells die Abkehr von dem Anspruch, wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien auch im globalen Maßstab Geltung zu verschaffen. Der Orientierung auf die Liberalisierung des Welthandels bei gleichzeitiger Regulierung des Kapitalverkehrs und der Wechselkurse entsprach die Organisierung öffentlicher Auslandshilfeprogramme in der Hoffnung, Entwicklungsabstände wenn nicht aufzuheben, so doch deutlich zu verringern. Dass letzteres im Kontext des Kalten Krieges oftmals für strategisch-militärische Zwecke pervertiert wurde, ändert nichts an den originären Intentionen. In dem Maße wie der Kalte Krieg durch Tendenzen der Entspannung verdrängt wurde, kamen deshalb – zumindest auf der ideologischen Ebene – weitsichtigere entwicklungspolitische Konzeptionen zum Zuge, etwa die mit den Namen Robert McNamara und Erhard Eppler verbundene Strategie der Grundbedürfnis-Befriedigung, die auf die mittel- und langfristige Integration unterprivilegierter Völker und Länder in die Weltwirtschaft zielte.

Doch solche, auf staatliche Transferleistungen setzende Konzeptionen hatten kaum noch Realisierungschancen, nachdem der neo-liberale Geist einmal aus der Flasche entwichen war und die erste tiefgreifenden Strukurkrise des Nachkriegskapitalismus Mitte der 70er Jahre die profitable Verwertung des überschüssigen Kapitals in den Metopolen behinderte. Jetzt nährte der vom Recycling der Ölmilliarden gespeiste Boom der privaten Bankausleihungen die Hoffnung auf nachholende Entwicklung im Süden und bereitete gerade dadurch den kommenden Zusammenbruch, die Verschuldungskrise, vor.

Die Schuldenkrise bescherte namentlich dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einen Bedeutungszuwachs, den er sich nicht hatte träumen lassen, nachdem seine eigentliche Funktion, nämlich die Überwachung des Systems fester Wechselkurse, mit der Aufgabe des Bretton-Woods-Arrangements obsolet geworden war. Nun fiel ihm eine Rolle zu, für die er zwar nicht ausgelegt war, die er aber dennoch umso effektiver wahrnehmen sollte: die des Krisenmanagers der Weltfinanzmärkte und vor allem des Schuldeneintreibers im Interesse der privaten Gläubiger. Dazu zielten seine Interventionen in die Ökonomien der Schuldnerländer vorrangig auf die Wiederherstellung der Schuldendienstfähigkeit nach außen. Es war die Geburtsstunde der Strukturanpassungspolitik und der eigentliche Beginn der neoliberalen Offensive im Zeichen des sog. Washington Consensus. Sie bescherte Lateinamerika ein verlorenes Jahrzehnt und Afrika nunmehr über zwei Jahrzehnte der Dauerstagnation und Rückentwicklung. Nur Asien blieb recht lange ein „weißer Flecken auf der Landkarte des Neoliberalismus” (Perry Anderson).

Der von der Akkumulationsdynamik des globalen Kapitalismus angetriebene Aufbau einer zweiten Verschuldungswelle in den 90er Jahren wurde durch die schnelle Liberalisierung der Außenwirtschaft und die Privatisierung ökonomischer Aktivitäten in den Entwicklungsländern begünstigt, wobei in Asien besonders die Kombination der Deregulierung der externen Kapitalzuflüsse mit einem wachsenden Anteil des privaten Sektors als Kreditnehmer zu Buche schlug und schließlich dazu führte, dass die Wiedersprüche des neuen Verschuldungspushs in der Asienkrise eklatierten.

Was die Performance des IWF in den jüngsten Finanzkrisen betrifft, so ist diese in der Öffentlichkeit inzwischen zwar schwer angeschlagen. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass er diese Krisen – über den Ausbau der von ihm verwalteten Kriseninterventionsfonds – wieder einmal dazu genutzt hat, seine Machtposition im System der globalen ökonomischen Governance weiter zu befestigen und auszubauen.

Es ist nicht zu übersehen, dass die Häufigkeit von Finanzkrisen und die allgemeine finanzielle Instabilität in der Weltwirtschaft seit der Kehrtwende Anfang der 70er Jahre stark zugenommen hat. Diese Finanzkrisen – denken wir nur an die Krise des Europäischen Währungssystems 1992, die inzwischen fast schon chronische Instabilität des japanischen Finanzsektors oder auch an die starke Volatilität zwischen Euro und Dollar in der unmittelbaren Gegenwart – betreffen zwar nicht nur die Entwicklungsländer; doch sind gerade dort die Konsequenzen solcher Krisen wesentlich tiefergehender als in Industrieländern. Ein plötzlicher Abzug auswärtigen Kapitals, verbunden mit starken Währungsabwertungen, wird hier sehr schnell zur Bedrohung auch der inneren finanziellen Stabilität. Umgekehrt übersetzen sich heimische Finanzkrisen sehr schnell in Währungsturbulenzen, Zahlungsprobleme und externe Schuldenkrisen. Hinzu kommt: „Die Verwundbarkeit der Entwicklungsländer ist größer, weil ihre externe Nettoverschuldung in der Regel höher ist und ein wesentlich höherer Anteil ihrer externen Verschuldung in ausländischer Währung denominiert ist. Die Verwundbarkeit des einheimischen Finanzsystems erhöht sich ferner, wenn die Auslandsschulden durch den privaten Sektor und nicht von souveränen Regierungen aufgenommen wurden.” (Akyüz/Cornford 2002: 120)

In der jüngsten Konstellation in den Kapitalbeziehungen zwischen Nord und Süd zeigt sich nun auf besondere Weise, wie abhängig die externen Finanzzuflüsse der Dritten Welt inzwischen vom ökonomischen Zyklus der entwickelten kapitalistischen Zentren sind. Die ausgeprägte Boom-and-Bust-Bewegung der Finanzmärkte in den 90er Jahren mündete in eine deutliche Veränderung des Investitionsverhaltens der Banken und privaten Investoren, das den allgemeinen Stagnationstendenzen der Weltwirtschaft entspricht. Eine besondere Tragik liegt darin, dass die Dritte Welt just zu einem Zeitpunkt von diesen Stagnationstendenzen erfaßt wird, zu dem die internationale Gemeinschaft sich – zumindest in Deklarationen wie auf dem Millennium-Gipfel und der Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Monterrey – darauf verständigt hat, den internationalen Ressourcenfluß von Nord nach Süd deutlich zu beleben.

IV.

Nachdem es angesichts der Instabilität und der Volatilität der privaten Finanzflüsse in den Süden und angesichts ihres aktuellen Versiegens sowie vor allem angesichts der oft katastrophalen Konsequenzen der Finanzkrisen für die betroffenen Volkswirtschaften immer schwieriger wird, die euphemistische Rede vom „Entwicklungsbeitrag des Privatkapitals” aufrecht zu erhalten, wird jetzt verbissen nach verbleibenden positiven Seiten der Kapitalbewegungen zwischen Nord und Süd gesucht. So lautet das Hauptargument in der neuesten Ausgabe von Global Development Finance, der anhaltende Einbruch auf den Kreditmärkten werde relativiert durch die positive Entwicklung beim Zufluss privater Direktinvestitionen, die verschuldungsneutral seien. Hier wäre allerdings darauf hinzuweisen, dass auch Direktinvestitionen keineswegs nur verschuldungsneutrale Transaktionen, sondern auch konzerninterne Operationen einschließen, die negativ in der Zahlungsbilanz des Gastlandes zu Buche schlagen können. Bei näherem Hinsehen zeigt sich zudem, dass auch die Direktinvestitionen im Süden (ebenso wie weltweit) in den letzten Jahren stagnierend bis rückläufig waren, ganz abgesehen von ihrer traditionell hochgradigen Konzentration auf eine kleine Anzahl von Entwicklungsländern. Seit 1996 hat auch der Anteil der Dritten Welt an den weltweiten Direktinvestitionen wieder abgenommen: von 34,9% auf nur noch 15,9% im Jahre 2000.

Für die Instabilität der Direktinvestitionen im Süden lassen sich eine Reihe von Push- und Pull-Faktoren benennen, die in den letzten Jahren besonders augenfällig wurden:

- Bereits 2001 wies die Weltbank in ihrem „Global Development Finance“-Bericht (GDF) darauf hin, dass der Süden angesichts der beispiellosen Expansion der US-Ökonomie während der 90er Jahre in seiner globalen Konkurrenzposition gegenüber dem Norden weiter zurückgefallen sei, was sich auch bei den Direktinvestitionen bemerkbar mache. Nach dem Höhenflug der 90er Jahre wird das international vagabundierende Kapital wieder verstärkt zur Finanzierung des eigenen Wirtschaftswachstums im Norden absorbiert – allerdings auch hier wegen der falschen politischen Rahmenbedingungen mit zweifelhafter Wirkung.

- Hinzu kommt, dass eine Reihe politisch erzeugter Sonderfaktoren, die den FDI-Boom im Süden angeheizt hatten, inzwischen ihre Wirksamkeit eingebüßt haben: So sind die großen Privatisierungen der 90er Jahre, die in Lateinamerika zu rund 50% über Auslandskapital finanziert wurden, inzwischen weitgehend abgeschlossen; auch die nach der Asienkrise zu beobachtende Welle von Mergers & Acquisitions, die bis zu 80% für den FDI-Boom verantwortlich waren, ist inzwischen wieder abgeebbt.

- Was die Rolle der südlichen Regierungen und die Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern selbst betrifft, so kommt eine neuere UN-Studie für die Gruppe der 24 (Entwicklungsländer) zu dem Ergebnis, dass sich die gängigen Förderinstrumente zum Anreiz von Direktinvestitionen weitgehend als stumpfe Waffen erwiesen haben (Hanson 2001). In einem neueren Bericht konkretisiert die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL 2001): „Die Konkurrenz um Direktinvestitionen hat zu einer Fülle von Abkommen zur Förderung und Absicherung von FDI geführt, doch die Politik, möglichst viele ausländische Investitionen hereinzuholen, hat kaum Folgewirkungen gezeigt.“ Zu beobachten sei, wie Land für Land ad hoc seine industriellen Anlagen privatisiere und seine Ressourcen und Banken ausverkaufe; es gäbe jedoch kaum Länder, die gezielt bestimmte Sektoren identifizieren, um FDI dorthin zu lenken. So habe das hereinströmende US-amerikanische und europäische Kapital zwar die Finanz-, Kommunikations- und Energiesektoren Lateinamerikas umstrukturiert, die globale Konkurrenzposition des Kontinents bei Exportprodukten und Fertigwaren habe sich dadurch jedoch kaum verbessert.

V.

Das externe Finanzierungsmuster des Südens, das trotz der Stagnationstendenzen vorrangig durch Direktinvestitionen aus dem Ausland bestimmt wird, ist in den Augen von Mainstream-Ideologen, wie dem Chefökonomen der Weltbank, Nicholas Stern, dennoch eine positive Entwicklung, da der Wechsel von „Debt“ zu „Equity“ zeige, dass die Bemühungen der Entwicklungsländer um ein „positives Investitionsklima“ in den letzten Jahren weitgehend erfolgreich gewesen seien. Hält man sich noch einmal die Analysen der in den 80er Jahren entwickelten offiziellen Schuldenstrategie vor Augen, so war dies in der Tat eine der zentralen Zielsetzungen von nördlichen Regierungen, internationalen Organisationen und privaten Gläubigern.

So gesehen könnte man sage, dass das mit den „Reformen“ des Washington Consensus verbundene Kalkül in dieser Hinsicht durchaus aufgegangen ist. Solange dies die in den Washingtoner Institutionen vorherrschende Perzeption ist, gibt es freilich auch keinen Grund, kurzfristig auf eine Abkehr von den neoliberalen Dogmen zu hoffen. Kein geringerer als der „Erfinder“ des Washington Consensus, John Williamson, hat jetzt in einem neuen Buch zusammen mit Pedro Pablo Kuczynski (Kuczynski/Williamson 2003) klargestellt, dass alle derzeit diskutierten Modifikationen am neoliberalen Grundkurs nicht mit einem Abgehen von den Kernforderungen gegenüber dem Süden verwechselt werden dürfen:

„Die neue Agenda weist die Liberalisierungsreformen des Washington Consensus nicht zurück, obwohl Korrekturen im Detail notwendig sein mögen. Im Gegenteil unterstreicht sie die Notwendigkeit, die Liberalisierung in mancherlei Hinsicht weiter voranzutreiben, z.B. in Bezug auf die weitere Flexibilierung der Arbeitsmärkte. Sie erkennt jedoch auch die Notwendigkeit an, diese Reformen durch den Aufbau und die Stärkung der für einen schlanken Staat erforderlichen Institutionen zu ergänzen, damit dieser seine aktivierende und steuernde Rolle in der Marktwirtschaft spielen kann. Ein anderer Punkt ist die Notwendigkeit, die Region (d.h. Lateinamerika; R.F.) weniger krisenanfällig als in der Vergangenheit zu machen. U.a. bedarf es einer grösseren Disziplin in Bezug auf die Verschuldung des öffentlichen Sektors, um den Spielraum für eine antizyklische Fiskalpolitik zu bewahren.

Ein letzter entscheidender Aspekt der politischen Neujustierung besteht – parallel zu höherem Wachstum – im Streben nach einer Verringerung der Einkommensungleichheit. Haushaltpolitische Instrumente (wie die Besteuerung von Eigentum zur Finanzierung regionaler oder lokaler Regierungsaufgaben) können dafür hilfreich sein, müssen jedoch ergänzt werden durch die Versorgung der Armen mit Bildung, Land, Mikrokrediten und Eigentumstiteln, damit diese in die Lage versetzt werden, durch Arbeit der Armut zu entkommen.“

Die Hartnäckigkeit, mit der an der Quintessenz des Washington Consensus festgehalten wird, bzw. die Hindernisse, die einer substantiellen „Reform der Reformer“ (Falk 2002) im Wege stehen, sind Indizien dafür, wie sehr sich das an marktfundamentalistischen Positionen orientierte neoliberale Regelwerk inzwischen zu quasi-konstitutionellen globalen Strukturen verdichtet und verfestigt hat. Dieser „Neokonstitutionalismus“ mit seinem „disziplinierenden Neoliberlismus“ als Hauptmerkmal (Stephen Gill) hat die ökonomische Abhängigkeit des Südens noch einmal erheblich vertieft und seine politischen Spielräume weiter drastisch eingeschränkt. Alternative Strategien und jegliche Reformperspektive für das internationale System werden sich demgegenüber daran messen lassen müssen, ob sie mit dem vorherrschenden Marktradikalismus brechen und durch die Demokratisierung der real existierenden Global Governance (Aksu/Camilleri 2002) die Position der Unterprivilegierten im Weltsystem verbessern.

Literatur

Aksu, Esref/Joseph A. Camilleri (eds.), 2002: Democratizing Global Governance, Palgrave Macmillan: New York

Akyüz, Yilmaz/Andrew Cornfeld, 2002: Capital Flows from Developing Countries and the Reform of tue International Financial System, in: Nayyar, 2002, pp. 108-143

Boris, Hans-Dieter, 1966: Zur politischen Ökonomie der Beziehungen zwischen Entwicklungsländern und westlichen Industriegesellschaften, in: Das Argument, Nr. 38/8. Jg., Heft 3/Juni, S. 173-202

CEPAL, 2001: La Inversión Extranjera en America Latina y el Caribe, Informe 2000, CEPAL: Santiago de Chile

Falk, Rainer, 2002: UNO-Universität zu Global Governance: Höchste Zeit für die Reform der Reformer, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Sonderdienst Nr. 8/Dezember

Hanson, Gordon H., 2001: Should Countries Promote Foreign Investment?, G-24 Discussion Paper Series No. 9, United Nations: New York-Geneva

Kuczynski, Pedro-Pablo/John Williamson (eds.), 2003: After the Washington Consensus: Restarting Growth and Reform in Latin America, 400 pp., Institute for International Economics: Washington D.C.

Nayyar, Deepak (ed.), 2002: Governing Globalization. Issues and Institutions, A Study prepared for tue World Institute for Development Economics/Research of tue United Nations University (UNU/WIDER), Oxford University Press: Oxford-New York

World Bank, 2001: Global Development Finance 2001: Building Coalitions for Effective Delopment Finance, 2 vol., The World Bank: Washington D.C.

World Bank, 2003: Global Development Finance 2003: Striving for Stability in Development Finance, 2 vol., The World Bank: Washington D.C.

[1] Dieter Boris, Zur politischen Ökonomie der Beziehungen zwischen Entwicklungsländern und westlichen Industriegesellschaften, in: Das Argument, Nr. 38/8. Jg., Heft 3/Juni 1966, S. 173-20.