Berichte

Krise der Politik

Frankfurt/Main, 10. bis 11. Dezember 2004

März 2005

Die Referenten der von WissenTransfer in Zusammenarbeit mit der Friedens- und Zukunftswerkstatt Frankfurt, der Initiative für einen Politikwechsel, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem VSA-Verlag veranstalteten Tagung waren sich einig, dass es sich bei der gegenwärtigen Krise des politischen Systems um eine „Krise der Repräsentation“ handelt, die einer wachsenden Zahl von Menschen die Möglichkeiten der politischen Partizipation entzieht.

Im ersten von insgesamt drei Diskussionsblöcken wurde eine Bilanz der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse seit den 70er Jahren gezogen. Joachim Bischoff formulierte in seinem Vortrag einen Begriff von Emanzipation, der die Öffnung der „civil society“ gegenüber dem Menschen und seinen Rechten fasst. Das bürgerliche Konzept einer Zivilgesellschaft sei stets von einem zentralen Widerspruch gekennzeichnet gewesen. Dem emanzipativen Gedanken habe die Exklusivität, die aus der bürgerlichen Verankerung erfolgte, entgegengestanden. Im Antagonismus von Kapital und Arbeit sei die Arbeit eigentlicher „Träger der zivilisatorischen Projekte der Zivilgesellschaft“ gewesen. Als solche bezeichnete Bischoff etwa den Sozialstaat und die Verankerung sozialer Rechte. Der Kompromiss, der die Phase des Fordismus charakterisierte, sei inzwischen aufgekündigt worden. Politisch machte Bischoff zwei „Versöhnungsversuche“ der Dissonanz zwischen „Zivilgesellschaft“ und „Arbeitswelt“ im gegenwärtigen Kapitalismus aus. Die Sozialdemokratie versuche, mit dem Konzept einer „zivilen Bürgergesellschaft“ die öffentliche Verantwortung sozialer Sicherung auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Dagegen propagiere die CDU mit ihrer nationalen Rhetorik einen „Patriotismus der Wertschöpfung“ als identitätsstiftende Ideologie. Gegen neoliberale Angriffe müsse ein breites Bündnis, das neben den Gewerkschaften auch andere Akteure enthält, den emanzipativen Gedanken der Zivilgesellschaft verteidigen.

Auch Klaus Dörre ging in seinem Vortrag vom Zusammenhang zwischen Sozialstaatsdemontage, Prekarisierung der Arbeit und der Krise des politischen Systems aus. Dabei beschäftigte ihn zentral, wie Umstrukturierungen in der Arbeitswelt einen Nährboden für rechtspopulistische Orientierungen befördern. Dörre diagnostizierte eine „Krise des Sozialen“, die ihren Kern in einer „Krise der Lohnarbeit“ habe. Eine „Erhöhung des Exploitationsgrades der Arbeitskraft“ korreliere mit der Jagd auf kurzfristige Gewinne durch Privatisierung und Flexibilisierung. Dem entspreche eine Prekarisierung der Arbeit. Zu beobachten sei eine zunehmende Tendenz zum gesellschaftlichen und politischen Ausschluss: „Wer in Unsicherheit lebt und nicht planen kann, wird von der politischen Partizipation ausgeschlossen.“ Übergänge zu rechtsextremem Denken fänden sich in „allen Abteilungen“. Dabei unterschied Dörre ein Muster vorbehaltloser Unterwerfung unter die Leistungsnorm als Anforderung („Ausgrenzende Integration“) von einem „rebellischen Muster“, das dagegen aufbegehrt mit „Türken und Frauen am Band zu stehen“. Sozialdemokratie und CDU, so Dörre, vertreten zwei divergierende Konzepte der Reintegration. Während die SPD auf einen „Neoliberalismus mit Müntesubtext als Wiedererkennungseffekt für Kernbelegschaften“ setze, versuche die CDU eine rechtspopulistische Strategie: „Wir alle müssen leiden, aber wir tun es für Deutschland“ (vgl. „Patriotismus der Wertschöpfung“ bei Bischoff). Die rechtextremistischen Parteien könnten zwar in einigen Gebieten so etwas wie eine gesellschaftliche Hegemonie aufbauen, insgesamt seien sie aber unkoordiniert und unsicher in der Wahl ihrer Adressaten. Die Hauptgefahr gehe von einer rechtspopulistischen Unterhöhlung etablierter Organisationen und Parteien aus. Auf den Rechtspopulismus mit der Strategie eines linken Populismus zu reagieren, hält Dörre für „keine wirkliche Perspektive“.

Im zweiten Block wurden Veränderungen des politischen Feldes (Bourdieu) und die Macht neuer Akteure analysiert. Johanna Klages untersuchte die Rolle der Medien bei der Etablierung einer neoliberalen Vorherrschaft. Die Medien seien als „Produzenten des Mainstreams“ für die Konstitution des politischen Feldes zentral: erstens statten sie nach Klages so genannte „Spitzenpolitiker“ mit „symbolischem Kapital“ aus und bieten ihnen ein Forum; zweitens schließen sie bestimmte Diskurse und Positionen aus der Debatte aus. Entscheidend sei die Konstellation, in der sich das politische und das ökonomische Feld zueinander und zu den Medien befinden. Im Zusammenspiel von politischen Akteuren, „neuen Akteuren“ (etwa Beratungsfirmen und Think Tanks) und „exklusiven Presseclubs“, die frühzeitig Informationen erhalten, werde ein öffentlicher Diskurs vorgeformt, der neoliberale Inhalte verallgemeinere. Zudem unterlägen Medienunternehmen selbst den Effizienzkriterien kapitalistischer Akkumulation. Linke Akteure seien – ohne eigene mediale Repräsentation – mit dieser Macht konfrontiert.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie beschäftigte Frank Deppe in seinem Vortrag. Er stellte die Frage nach dem „Bruch eines historischen Bündnisses“ in den strukturellen Zusammenhang der Krise des Fordismus in den siebziger Jahren und der globalen Restrukturierung des Kapitalismus in neoliberalem Gewand. Dabei stützte er sich auf die Untersuchungen des kanadischen Sozialwissenschaftlers Stephen Gill, der für diesen Prozess den Begriff „neuer Konstitutionalismus“ geprägt hat: „Das heißt: die Anpassung an die Gesetze des Marktes und des transnationalen Wettbewerbs wird den politischen Akteuren auf den verschiedenen Ebenen gleichsam als Naturzwang (‚Es gibt keine Alternative‘) vorgegeben.“ (17)[1] Das Postulat der Alternativlosigkeit entziehe politischen Akteuren jeden grundsätzlichen Einfluss und zeigt, dass die „Krise der Repräsentation“ zugleich eine „Krise der Demokratie“ sei: „[Die Demokratie] birgt stets die Gefahr, dass die Gesellschaft durch politische Mehrheitsentescheidungen, die aus der Sicht einzelwirtschaftlicher Effizienz ‚unvernünftig‘ sind, die Kräfte des Marktes und des Wettbewerbs beeinträchtigt. Diese tendieren ihrerseits dazu, sich solchen politischen Einflüssen [...] zu entziehen oder daran mitzuwirken, die Demokratie abzuschaffen.“ (19) Die sozialdemokratische Regierung habe „mit dem Hinweis auf die angebliche Alternativlosigkeit bewusst ihre subalterne Rolle im Rahmen des ‚neuen Konstitutionalismus‘ akzeptiert.“ (20) Frank Deppe betonte die Unverzichtbarkeit der „Wahrnehmung des politisches Mandats durch die Gewerkschaften“ für eine autonome Gewerkschaftspolitik sei (23). Eine Repolitisierung der Gewerkschaften sei zudem entscheidend für die „Neugründung der politischen Linken“ (23).

Im dritten Block der Tagung untersuchten am Samstag Alex Demirovic, Peter Wahl, Horst Schmitthenner und Paul Schäfer „Kräfte der Gegenöffentlichkeit“. Im Anschluss an einen Titel von Johannes Agnoli sprach Demirovic von einer „Transformation der Demokratie“. Die Krise sei nicht allein eine Krise der Repräsentation im Parlament, sondern zugleich eine Krise des Parlamentes. Wichtige Debatten oft nicht mehr im Plenarsaal diskutiert, sondern bei Sabine Christiansen und in ähnlichen Talkshows. Außerdem würden dem Parlament in der Folge einer Transnationalisierung von Staatlichkeit wesentliche Entscheidungsbefugnisse entzogen, insbesondere in den Bereichen Währungs- und Finanzpolitik. Die häufige Bezugnahme auf Menschenrechte im politischen Diskurs flankiere die Aushöhlung von Bürgerrechten und demokratischen Partizipationsmöglichkeiten. Diese Prozesse fänden in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen statt: etwa in der Frage öffentlicher Güter durch Privatisierungen, in der Justiz im Zusammenhang mit „Strafrechtsreformen“ und Diskussionen über die Legitimität von Folter, in politischen Diskursen um eine „Deutsche Schicksalsgemeinschaft“ etc.) Zu kurz greife, wer all dies auf den Nenner „Neoliberalismus“ zu bringen versuche. Es gebe durchaus eine ideologische Mannigfaltigkeit in der Debatte (so etwa auch das Erstarken eines Neokonservatismus). In der Opposition dazu würden sich viele Arten von Initiativen (auf regionaler und lokaler Ebene) entwickeln, die Zeit brauchten und dabei seien, Lernprozesse durchzumachen.

Mit dem Stand der Strategiedebatten innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung beschäftigte sich Peter Wahl. Es habe sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die globalisierungskritische Bewegung zu einem nennenswerten und dauerhaften Faktor geworden sei. Insbesondere der Perspektivenkongress in Berlin habe gezeigt, dass sich Teile der Gewerkschaftsbewegung und die neuen sozialen Bewegungen angenähert hätten. Zugleich sei aber auffallend, dass trotz des Widerstands politische Projekte wie die Agenda 2010 durchgezogen werden. Aus diesem Gegensatz von Formierung und Wirksamkeit leitete Peter Wahl sechs strategische Thesen ab: Erstens sei es wesentlich politische Räume für inhaltliche Auseinandersetzungen zu schaffen. Zweitens müsse die Aktivität auf Europäischer Ebene (etwa Sozialforen, Aktivitäten zur EU-Verfassung und zur Bolkenstein-Initiative) ausgebaut werden. Drittens müsse die Diskussion um die Art der erstrebten Alternative „ohne Scheuklappen“ geführt werden. Die Frage nach grundlegenden Alternativen zum Kapitalismus müsse ebenso ihren Platz in der Debatte haben, wie die Orientierung auf Konzepte „mittlerer Reichweite“. Viertens müsse ein breites Spektrum politischer Themen diskutiert werden, in denen alternative Konzepte hegemoniefähig werden könnten. Wahl nannte in diesem Zusammenhang den Komplex von Arbeit, Erwerbsarbeit und Prekarisierung, die Frage der Privatisierung öffentlicher Güter, den Bereich ökologischer Fragestellungen, den Komplex Krieg und Frieden und den „Querschnittsbereich“ der „demokratischen Frage“. Fünftens gelte es die Frage nach der parlamentarischen und der außerparlamentarischen Ebene in eine „Gesamtstrategie des Win/Win“ einzubetten. Sechstens müsse ein Weg gefunden werden mit Erfolgen und Misserfolgen umzugehen. Anzeichen einer Akzeptanzkrise der gegenwärtigen Politik seien zwar nicht zu übersehen, mit einer Funktionskrise des Systems könne aber kurzfristig nicht gerechnet werden. Das sei in die Zielsetzungen mit einzubeziehen.

Paul Schäfer betonte die zentrale Rolle des Demokratiekomplexes als Schlüsselfrage. Entscheidend sei es, den Zusammenhang von sozialer und demokratischer Frage zu erkennen (vgl. Dörre). Schäfer hob hervor, dass es keine Alternative zur repräsentativen Demokratie gebe: „Ein Zustand permanenter Mobilisierung für direkte Demokratie ist nicht aufrecht zu erhalten.“ Explizit wandte sich Schäfer gegen Konzepte, die im Gefolge John Holloways, die „Welt verändern“ wollen, „ohne die Macht zu übernehmen“. Stattdessen sieht er in der „Wiederinstandsetzung der Repräsentation“, einer„Anreicherung“ der politischen Entscheidungsprozesse durch plebiszitäre Elemente und der Demokratisierung der Gesellschaft drei wichtige Ebenen der demokratischen Frage. Dabei könne „Die Machtfrage nicht subversiv umgangen“ werden. Zentral für eine Neukonstituierung der politischen Linken (vgl. Deppe) sei es, konkrete Konzepte in eine Gesamtidee zu integrieren. Das könne nicht ohne die Wechselwirkung außerparlamentarischer Bewegungen und parlamentarischer Vertretung gelingen. In diesem Zusammenhang gelte es – in Anknüpfung an Fausto Bertinotti und die „Rifondazione Communista“ – auch über die Rolle politischer Parteien zu sprechen. Eine Partei müsse mehr sein als eine „Sammlung verschiedener Bewegungen“ oder ein „parlamentarischer Arm“. In Auseinandersetzung mit den Bewegungen komme ihr die Funktion von Zuspitzung und Zusammenführung zu. Insbesondere Schäfers These, die WASG greife in ihrer Konzeption zu kurz, wurde von in der Diskussion von Joachim Bischoff kritisiert. Ein wirkungsvolles Konzept in Zeiten einer „Krise der Lohnarbeitsgesellschaft“ müsse auf einem breiten Bündnis basieren und das steigende Konfliktpotential mobilisieren. Mit der Frage direkter Demokratie und der Bedeutung von Plebisziten für die Überwindung der Repräsentationskrise beschäftigte sich Horst Schmitthenner. In einer Zeit, die zwar vom Erstarken sozialer Bewegungen aber auch von einem Abschotten des politischen Systems gegen solche Bewegungen geprägt sei, könne ein Ausbau plebiszitärer Elemente, ausgeschlossenen Bevölkerungsteilen wieder Partizipationsperspektiven eröffnen. Schmitthenner schlug vor, dieser Frage einen eigenen Workshop zu widmen.

In einem produktiven Diskussionsklima gelang es während der Tagung, die krisenhafte Konstellation des politischen Systems präziser zu bestimmen und wichtige Schlussfolgerungen für die gewerkschaftliche und „außergewerkschaftliche“ Linke zu diskutieren. Das Tagungsthema – letztlich die Frage nach dem Zusammenhang sozialer Prekarisierung und mangelnden politischen Partizipationsmöglichkeiten – wird auch in kommenden Debatten eine zentrale Rolle spielen.

[1] Zitiert nach der Veröffentlichung des Vortrags: Frank Deppe, Bruch eines historischen Bündnisses?; in: Sozialismus 1/2005, S. 14 ff.