Als Wolfgang Abendroth im Jahre 1951 durch die Hessische Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Georg August Zinn (SPD) und durch den Kultusminister Stein (CDU) nach Marburg berufen wurde, war er 45 Jahre alt. In der deutschen Universität war (und ist heute wieder) ein Ruf auf ein Ordinariat (wie es damals hieß) in diesem Alter durchaus üblich – nach der Promotion, der Habilitation sowie nach einigen Knechtsjahren als Privatdozent oder als Akademischer Oberrat. Bei Abendroth verlief die „Karriere“ freilich ganz anders – und das ist durchaus typisch für seine Generation, der Generation des „Zeitalters der Katastrophen“ (Eric Hobsbawm), bzw. der „Generation de la Crise“ (Michel Winock).[1]
Wie war die Karriere Abendroths bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen? Durch welche Ereignisse und Erfahrungen wurde sie geprägt?[2] Rekapitulieren wir in Stichpunkten:
- Die politische Sozialisation in der linkssozialdemokratischen Familie und in der kommunistischen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik – seit 1929 in Opposition zur herrschenden „ultralinken“ Linie, die der VI. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (KI) vorgegeben hatte.
- Das Jurastudium (aus politisch-praktischen Überlegungen, Arbeit für die Rote Hilfe); Berufsverbot 1933; Promotion mit einer völkerrechtlichen Arbeit in Bern 1935. An der Frankfurter Universität hatte er ein eher distanziertes Verhältnis zum Institut für Sozialforschung („Café Marx“). Theoretische Einflüsse konzedierte er Carl Grünberg (Historiker; Austromarxist); Hugo Sinzheimer, Franz Neumann: kollektives Arbeitsrecht; Hermann Heller (erst nach 1933). Auch später hat der Professor Abendroth als seine wichtigsten Lehrer Politiker und Theoretiker der kommunistischen Arbeiterbewegung genannt, die gleichzeitig „Häretiker“ wurden: August Thalheimer, Paul Fröhlich, Heinrich Brandler, Rosa Luxemburg ...
- Von 1936 bis 1946 – also 10 volle Jahre zwischen dem 30. und dem 40. Lebensjahr – Verhaftung/Folter, der Prozess: 4 Jahre Zuchthaus, danach Strafbatallion, Einsatz in Griechenland; Desertion zur ELAS, Gefangenlager der Briten in Ägypten, Rückkehr nach Deutschland erst 1946.
- Von 1946 bis 1948 eine kurze akademische Karriere in der Sowjetischen Besatzungszone; Abschluss der Juristenausbildung, Professuren für Staatsrecht in Leipzig und Jena. Nach der Flucht in den Westen 1949 wurde er Gründungsrektor der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven/Rüstersiel – eine Art „Akademie der Arbeit“. für Studierende des „zweiten Bildungsweges“. Von dort wurde er nach Marburg berufen.
Offensichtlich handelt es sich um eine völlig untypische akademische Karriere. Abendroth hat selbst immer wieder darauf hingewiesen, dass er – wie andere Politikwissenschaftler in Hessen (z. B. Eugen Kogon in Darmstadt) – von der sozialdemokratisch geführten Landesregierung gegen den Widerstand von mächtigen Kreisen der Universität (vor allem in der juristischen Fakultät) berufen wurde[3]. Ein Moment der Kontinuität lässt sich in dieser wechselhaften Biographie des Kampfes und der Verfolgung freilich erkennen. Abendroth war unermesslich lernbegierig – noch im Zuchthaus lernte er Persisch und Arabisch. Seit seiner Jugend war er immer wieder für Schulung zuständig und als begeisternder Lehrer anerkannt: in den Jugendgruppen der Arbeiterbewegung und ihren Lesezirkeln, im Zuchthaus oder im ägyptischen Gefangenenlager – stets tauchte sein Name im Zusammenhang mit so genannten „Lageruniversitäten“ auf.
Aus der Biographieforschung wissen wir, dass jede Generation – zumal im Hinblick auf ihr politisches Bewusstsein – durch bestimmte Schlüsselerfahrungen geprägt wird, die sich oftmals in einem Jahresdatum zusammenfassen lassen. Bekannt ist die „68er-Generation“ oder die „89er-Generation“. Für diejenigen, die sich wie Wolfgang Abendroth in der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik engagiert hatten, hatte das Jahr 1933 diese Funktion.[4] Biographisch begann die Zeit der Verfolgung und der Leiden. Das Überleben der „Parias“ (wie Hannah Arendt es ausdrückte) war fortan zum Zufall geworden. Politisch verbanden sich in diesem Jahr zwei Entwicklungen, die Wolfgang Abendroth sein Leben lang – auch als Politikwissenschaftler – beschäftigten:
1. Das Scheitern der Weimarer Republik durch die Machtübertragung an Hitler und die NSDAP. Der Sieg des Faschismus in Deutschland – als Teil der Bewegung des europäischen Faschismus der Zwischenkriegsperiode – hatte vor allem zwei Fragen aufgeworfen: a) Warum hatte die Demokratie, die durch die Novemberrevolution am Ende des Ersten Weltkrieges durchgesetzt worden war (und die sie tragenden politischen und sozialen Kräfte) gegenüber dem Ansturm der faschistischen Massenbewegung keinen Bestand ? Und b): Welcher Zusammenhang bestand zwischen den sozialökonomischen Machtverhältnissen, der großen Wirtschaftskrise des Kapitalismus nach 1929, den Strategien der wirtschaftlichen Eliten und der Machtübertragung an den Faschismus?
2. Der Sieg des Faschismus war zugleich eine tiefe – eine „verheerende“ – Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, der politischen und gewerkschaftlichen Linken. Diese Niederlage war nicht allein die Folge der terroristischen Gewalt, die sogleich seit dem Februar 1933 gegen sie ausgeübt wurde, sondern auch Resultat der eigenen Fehlorientierungen. Immerhin war die deutsche Arbeiterbewegung im Bewusstsein ihrer (sozialdemokratischen und kommunistischen) Kader eine der stärksten Formationen in der ganzen Welt. Die Spaltung der Arbeiterbewegung – vor allem die Konfrontation zwischen der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei und ihrem jeweiligen Massenanhang – war auf jeden Fall einer der Gründe für den Sieg des Faschismus in Deutschland. Abendroth gehörte jenen politischen Strömungen der so genannten „Zwischengruppen“ – zuerst der KPD(O), dann der Gruppe „Neu Beginnen“ – an, die schon vor 1933 die jeweils herrschende Linie ihrer eigenen Organisation kritisierten und für eine Politik der „Einheitsfront“ zwischen SPD und KPD sowie in den Gewerkschaften des ADGB – vor allem in der Auseinandersetzung mit der Gefahr des Faschismus – eintraten.[5] Diese Strömungen konnten sich nicht durchsetzen – sie blieben Anfang der 30er Jahre marginalisiert.[6]
Abendroth hat diese Problematik als Historiker der Arbeiterbewegung in verschiedenen Studien analysiert; besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Dissertationen seiner Schüler und Assistenten der späten 50er und frühen 60er Jahre über die sog. „Zwischengruppen“ (SAP, KPD(O), ISK, Neu Beginnen etc.), deren Anhänger dann auch im Widerstand gegen den Faschismus, aber auch in der Nachkriegsgeschichte (im Westen wie im Osten) eine wichtige Rolle spielten (Willy Brandt war nur einer von ihnen).
Dennoch stehen die Schlüsselerfahrungen des Jahres 1933 für Abendroth in einem weiteren Zusammenhang seines Verständnisses von der „Wissenschaft der Politik“ bzw. der „wissenschaftlichen Politik“, wie das Institut damals hieß. Diese junge Wissenschaft wurde nach 1945 als „Demokratiewissenschaft“ an westdeutschen Hochschulen etabliert. Ihr war (von der amerikanischen Besatzungsmacht) die Funktion zugedacht, vor allem in der Lehrerausbildung zu wirken und damit demokratische Werte und Lebensformen in den Schulen für die nachwachsenden Generationen zu vermitteln. Nicht wenige der neu berufenen Professoren kamen als Emigranten aus den USA zurück, wo sie mit der dort bereits hoch entwickelten Politikwissenschaft und Soziologie in Berührung gekommen waren. Abendroth gehörte wie andere – als Jurist – zu den Fachfremden und war als dezidierter Linker (seit 1946 Mitglied der SPD) ebenfalls eine Ausnahme. Und doch verband diese Gründergeneration der westdeutschen Politikwissenschaft das „gemeinsame Anliegen einer kritischen Demokratielehre“, die sich einerseits auf die historischen Erfahrungen – hier natürlich wiederum des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie im Jahre 1933 – bezog, andererseits einen Beitrag zur Stabilisierung der zweiten deutschen Demokratie leisten wollte bzw. sollte. Allerdings, schon Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre war dieses Anliegen durch das politische Klima des Kalten Krieges gleichsam überdeterminiert. Die herrschende Meinung verband „Demokratielehre“ mit der Totalitarismustheorie, die – mit Blick auf die SBZ und die DDR – die Politik und Theorie des linken Flügels der Arbeiterbewegung dem Totalitarismus („rot gleich braun“) zuschlug. Vor allem in seiner Interpretation des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hat Abendroth den Versuch unternommen, auf die Fragen, die das Jahr 1933 brutal aufgeworfen hatte, eine Antwort zu geben. Dabei musste er gleichzeitig die neuen Bedingungen berücksichtigen, die nach 1945 durch die „Spaltung der Welt“, die Systemkonfrontation und den Kalten Krieg – zumal auf deutschem Boden, aber auch durch das Scheitern der Neuordnungsvorstellungen der ersten Nachkriegsjahre und in der Folge der Restauration der alten gesellschaftlichen Machtverhältnisse sowie durch eine stabile Hegemonie des liberalen-christlich-konservativen Blocks (bis in die 60er Jahre) – geschaffen worden waren. In einem seiner berühmtesten Aufsätze mit dem Titel „Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahre 1954 stellt er den Zusammenhang schon in der Vorbemerkung fest: „Überall, wo nach 1945 ernstlich um die Probleme der modernen Demokratie gerungen wurde (er bezog sich dabei auf die Länderverfassungen, aber auch auf die Verfassungsdebatten in Italien und Frankreich oder auf das Regierungsprogramm der britischen Labour-Regierung unter Clement Atlee, F.D.), wurde mindestens eine der wichtigsten Ursachen des Zusammenbruchs des Weimarer Staates darin gesehen, dass es ihm nicht gelungen war, den Übergang von der lediglich formalen zu einer sozialen Demokratie praktisch zu vollziehen.“ Für seine Grundgesetz-Interpretation bedeutete dies: „demokratische Struktur und Sozialstaatlichkeit (gehören) ebenso zu den der Verfassungsänderung entzogenen Grundgedanken des Grundgesetzes..., wie das Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen in Art. 1 des Grundgesetzes, das Art. 79 Abs. 3 als unaufhebbar charakterisiert.“[7]
Mit der „Anerkennung des Sozialstaatsgedankens“ wird „endgültig“ mit der Vorstellung gebrochen, „dass Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in eigenem freien Spiel Gerechtigkeit schaffen können“. Damit fällt die „Schranke zwischen Staat und Gesellschaft“, die für das traditionelle Staatsverständnis des Liberalismus kennzeichnend ist. Die Demokratie dehnt sich auf „die Wirtschafts- und Sozialordnung und auf das kulturelle Leben aus, um von hier aus dem Sozialstaatsgedanken konkreten Inhalt zu verleihen“[8]. Die Sozialstaatlichkeit besteht also nicht allein in den – gleichsam klassischen – sozialen Sicherungssystemen, sondern in der Mitbestimmung (Ausweitung des kollektiven Arbeitsrechts), in der Chancengleichheit im Bildungswesen, im sozialen Wohnungsbau, in der Kultur usw. Es handelt um einen sehr weiten Begriff von „Sozialpolitik“ bzw. von „Gesellschaftspolitik“, der stets auch auf die Demokratisierung der Gesellschaft zielt. Abendroth bezieht sich dabei unmittelbar auf die Programmatik der „Wirtschaftsdemokratie“, die die Gewerkschaften des ADGB in den 20er Jahren als Programm ausgearbeitet hatten. Gleichwohl hat sich Abendroth nicht umstandslos zur Tradition der Sozialdemokratie bekannt, sondern bezog sich auf Debatten im Umkreis des „Austromarxismus“. Verfassungs- und Rechtsnormen sind zeitweilige Festschreibungen von Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen, die aber stets umkämpft bleiben.
In den Analysen von Antonio Gramscis „Kerkerheften“ wird immer wieder hervorgehoben, dass „das Scheitern der Revolution im Westen“ gleichsam den Leitfaden zur Hegemonietheorie und zur erweiterten Staatstheorie („integraler Staat“) bildet. Gramscis Diagnose basiert zunächst auf der Erkenntnis des Zusammenhangs von politischer Macht (durch den Staat) und Zivilgesellschaft. In den modernen – westlichen, demokratischen – Gesellschaften mit einer entwickelten Zivilgesellschaft verfügt die bürgerliche Herrschaft über weitreichende Ressourcen und Reserven, die nicht nur die unmittelbare repressive Gewalt des Staates beinhalten. Eine Revolutionsstrategie, die „im Westen“ die Oktoberrevolution „im Osten“ kopieren wollte, musste scheitern, weil sie diese Reserven bürgerlicher Macht unterschätzt hatte. Eine Perspektive der Gesellschaftsveränderung im Sinne des Sozialismus hat daher nur dann eine Chance, wenn sie nicht allein auf die gewaltsame Erringung der Staatsmacht fixiert ist, sondern wenn es ihr gelingt, hegemoniale Positionen in der Zivilgesellschaft zu erringen. Kurzum: Die Komplexität moderner Gesellschaften ist nicht nur ein Grund dafür, dass die alten Zusammenbruchstheorien immer wieder scheiterten, die politische Theorie des Marxismus muss diesen komplexen Vermittlungsformen selbst noch Rechnung tragen.
Diese Überlegungen Gramscis, die sich überwiegend auf die Bedeutung der Kultur, die Rolle der Intellektuellen sowie auf die Institutionen beziehen, die das Alltagsbewusstsein der Menschen beeinflussen, wurden erst in den sozialen und politischen Kämpfen der 70er Jahren rezipiert. Spät wurde auch die Notwendigkeit einer politischen Theorie des Marxismus erkannt, die sich vom „Ökonomismus“ und „Klassenreduktionismus“ gelöst hat und eben die Komplexität moderner Gesellschaften anerkennt. Die Schriften von Louis Althusser, Ralph Miliband, Göran Therborn und Umberto Cerroni – um nur einige wenige zu nennen – waren durch die sozialen und politischen Kämpfe dieser Jahre geprägt und exakt dieser Problematik gewidmet. Der Jurist und Verfassungsrechtler Abendroth knüpfe freilich schon früher an die Debatten der Staatsrechtlehrer der Weimarer Republik an. Er beruft sich immer wieder auf Hermann Heller (nicht den Rechtsheglianer der frühen 20er Jahre, sondern auf den Autor des „Staatslehre“ von 1934). Auch Otto Kirchheimer hat er sehr geschätzt. Dieser hatte bei Carl Schmitt mit einer Arbeit über marxistische Staatstheorie promoviert, musste in die USA emigrieren und wurde dort Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in New York und arbeitete mit Franz Neumann zusammen. Über ihn sagte Abendroth: „Kirchheimer hatte das Klassenproblem (im Verhältnis zur Staatsmacht, F. D.) wirklich durchdacht; er war von allen der begabteste und intelligenteste – aber er war eine Ausnahme.“[9]
In dieser Debatte der Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik und unter den Austromarxisten ging es letztlich um die Frage, ob und wie in der kapitalistischen Klassengesellschaft die Demokratie überhaupt möglich sei. Die Grundlagen der Massendemokratie waren schließlich nicht durch die bürgerliche Revolution, sondern durch den Kampf der sozialistischen Arbeiterbewegung – vor allem um das allgemeine Wahlrecht bis zum Ende des Ersten Weltkrieges – geschaffen worden. Die Spannung zwischen „antagonistischer Gesellschaft und politischer Demokratie“ – so der Titel, den Abendroth der Sammlung seiner Aufsätze im Jahre 1967 gab – bezeichnet ein Terrain politischer und sozialer Kämpfe um die „Machtverteilung der sozialen Gruppen in der Gesellschaft“. Die Regulation dieser Machtverteilung erfolgt durch das Recht, mit dem soziale Beziehungen institutionalisiert und zeitweilig festgeschrieben werden. Die Verfassung, die neben den Grundrechten die Rechte der politischen Partizipation und kollektive soziale Grundrechte, die Institutionen des politischen Systems sowie die Verfahren politischer Entscheidungsprozesse fixiert, ist das Ergebnis solcher Kämpfe (vor allem am Ende des Krieges). Sie enthält in ihren sozialstaatlichen Teilen eine „zeitweilige Festschreibung des Kräftegleichgewichtes der Klassen“ – so hatte es Otto Bauer als Vorsitzender der SPÖ in seiner berühmten Rede auf dem Linzer Parteitag im Jahre 1926 formuliert.
Bei seiner Grundgesetzinterpretation der 50er und 60er Jahre wusste Abendroth natürlich, dass sich nach 1945 – mit dem Übergang zum Kalten Krieg und mit dem Wandel der Arbeiterbewegung selbst – die Konstellationen gegenüber der Weimarer Republik entscheidend verändert hatten. Dennoch hielt er daran fest, dass in das Grundgesetz gleichsam der Klassenkompromiss a) der Nachkriegsperiode, und b) einer gemeinschaftlichen antifaschistischen Grundorientierung eingeschrieben sei, und dass c) die Verfassung offen sei für sozialistische Veränderungen (z. B. durch Vergesellschaftung von Produktionsmitteln)[10]. Seine wissenschaftlichen (und auch politischen) Interventionen dieser Jahre waren auch dadurch gekennzeichnet, dass er a) diesen Anspruch der Offenheit des Grundgesetzes verteidigte, und dass er b) Positionen verteidigte, die ihm im Hinblick auf die Klassendimension des Verfassungskompromisses als besonders wichtig erschienen: die Kritik an der Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichtes unter seinem Präsidenten Nipperdey, die Auseinandersetzung mit dem KPD-Verbot und den Notstandsgesetzen sowie sein Engagement in der Auseinandersetzung um den so genannten „Radikalen-Erlass“ bzw. die Politik der Berufsverbote (seit Anfang der 70er Jahre). Sein prominentester Gegner in der Verfassungsdebatte der 50er Jahre, der Carl Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff charakterisierte ihn in einem Brief an Carl Schmitt im Jahre 1954 wie folgt: „Er ist ein jugendbewegter Phantast und in keinem Sinne Jurist.“[11]
Bei Wirtschaftshistorikern, die sich mit dem so genannten „Golden Age of Capitalism“ (der 50er und 60er Jahre) beschäftigen und im Diskurs der sog. „Regulationsschule“, die diese Nachkriegszeit als die Formation des Fordismus charakterisiert, ist es geradezu selbstverständlich geworden, von dem „fordistischen Klassenkompromiss“ der Nachkriegsperiode in den entwickelten kapitalistischen Staaten des Westens zu sprechen, der in der Anerkennung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse (durch die reformistische Arbeiterbewegung) auf der einen und der Anerkennung der Politik der Vollbeschäftigung und der Sozialstaatlichkeit (durch die liberalen und konservativen politischen und sozialen Kräfte) auf der andere Seite bestanden habe. Die Erosion dieses Kompromisses seit den 70er Jahren bildet daher den Kern jener Transformation, die wir als „neoliberale Hegemonie“ bezeichnen.
Wolfgang Abendroths Vorstellung von der Bedeutung des Rechts und seine Verfassungsinterpretation führen uns zugleich an sein Verständnis von Politischer Wissenschaft als Politische Soziologie heran, wie er es in der Einführung zur „Antagonistischen Gesellschaft“ zusammengefasst hat: Als „politisch“ bezeichnet er „jede gesellschaftliche Aktivität, die die Struktur der Gesellschaft (und also die Machtverteilung der sozialen Gruppen (Klassen) in der Gesellschaft) sei es verändern, sei es durch Machtgebrauch stabilisieren will“. Politische Wissenschaft bezeichnete er daher als „eine besondere Disziplin der Wissenschaft von der Gesellschaft, (also) politische Soziologie“[12]. Als Anhänger des von Marx und Engels entwickelten Historischen Materialismus betrachtete Abendroth Ökonomie, Gesellschaft und Politik als eine Totalität, als einen Herrschaftszusammenhang, in dem die kapitalistische Verfügung über die Produktionsmittel und die Gesetzmäßigkeiten der krisenhaften Kapitalakkumulation gleichsam die dominanten Variablen bilden. Aber er anerkannte wie kaum ein anderer marxistischer Sozialwissenschaftler seiner Zeit die Autonomie des Politischen – der Rechtsverhältnisse, der Machtstrukturen wie der politischen Kämpfe und Auseinandersetzungen.
Gleichzeitig hatte er aus dem Vorwort zur ersten Auflage des Marxschen „Kapital“ die Bemerkung verinnerlicht, dass „die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist“ (MEW 23: 16). Deshalb war er als Historiker, der höchste Genauigkeit der empirisch-analytischen Forschung stets dem bloß ideologiekritischen Diskurs vorzog, davon überzeugt, dass die Prozesse der Veränderung der kapitalistischen Ökonomie, der Gesellschaft und des Staates immer wieder neu analysiert werden müssen – ebenso wie die sozialen Widersprüche und die Kämpfe, die sich in diesen Prozessen artikulieren. Als Historiker der Arbeiterbewegung hat uns Abendroth gelehrt, dass die Entwicklung dieser Arbeiterbewegung keineswegs (wie die historischen Selbstdarstellungen der großen Parteien gerne unterstellten) ein kontinuierlicher Prozess des Aufstiegs („historische Mission des Proletariats“) gewesen ist, sondern dass diese Geschichte immer wieder auch durch zahlreiche Niederlagen, Rückschläge, Fehlentscheidungen geprägt war und dass immer wieder neue Herausforderungen entstanden, auf die die alten strategischen Konzepte keine Antworten mehr geben konnten. Das war sehr wichtig, denn es gab auch eine philosophische Strömung und eine erstarrte Geschichtsdogmatik, die den „Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus“ als einen quasi-naturgesetzlichen Prozess verstanden wissen wollte.
Für die Methoden der Forschung – historische Forschungen, Analyse der sozialen und politischen Wirklichkeit, juristische Interpretation von Gesetzestexten und Urteilen – verlangte Abendroth höchste Genauigkeit und Objektivität. Dennoch war sein Verständnis von Wissenschaft stark normativ orientiert. Gert Schäfer hat gerade in einem ausgezeichneten Aufsatz über das Marburger „Dreigestirn Abendroth – Maus - Hofmann“ verschiedene Dimensionen dieser normativen Bindung genannt: Die Drei bestehen „auf der Anerkennung der Aufklärung, der Menschenrechte und der Demokratie für alle Menschen. Diese Wertbasis des demokratischen und sozialistischen Humanismus liefert den Leitfaden für jede historisch-empirische Forschung, ohne die Wissenschaft und gesellschaftlicher Fortschritt sich nicht gegenüber den herrschaftlichen Interessen der unternehmerischen Profitlogik behaupten können, wie dies bei der gegenwärtigen Dominanz der neoliberalen Wirtschaftsphilosophie der Fall ist“. Sie repräsentieren einen „Typus von Intellektuellen, für den das Theorie-Praxis-Verhältnis im Sinne einer die ‚reine Wissenschaft’ in praktische, wissenschaftlich fundierte Politik transformierenden Konzeption charakteristisch ist. Wissenschaft als l’art pour l’art wird ausdrücklich verworfen und die demokratisch-gesellschaftliche Verpflichtung der Wissenschaft über die Universität in die Gesamtgesellschaft hinaus explizit gewollt.“
Sie verkörpern (jeder auf seine spezifische Weise) den „Widerspruch, einerseits den Habitus des bürgerlichen Wissenschaftlers alter Prägung zu repräsentieren, sich im Wissenschaftssystem mit all den notwendigen Anpassungsleistungen des Karriereweges und der täglichen Ritualisierung einzurichten ... und zugleich den wissenschaftlichen Politiker und politischen Wissenschaftler mit Ausstrahlung in die Öffentlichkeit abzugeben, der seine Überzeugung als Marxist und Sozialist nicht aufzugeben bereit ist“[13].
Zum Schluss sei ein Satz hinzugefügt, den Wolfgang Abendroth 1950 in einem Aufsatz über „Politische Wissenschaft und Wissenschaft der Politik“ in der Deutschen Universitätszeitung geschrieben hat und der bis heute programmatische Bedeutung hat: „Wissenschaft und Demokratie (vermögen) nur auf der Grundlage kritischen Denkens zu existieren.“[14]
Selbstverständlich muss auch die Frage gestellt werden, wie dieses Konzept von Politikwissenschaft aus der Erfahrung und Sicht der Gegenwart zu bewerten ist. Innerhalb der Politikwissenschaft der 50er und 60er Jahre war diese Position zwar singulär – aber doch innerhalb eines relativ breiten Pluralismus durchaus anerkannt[15]. Die Entwicklung des Faches (und seiner Funktion innerhalb des Ausbildungssystems) seit den 70er Jahren wird in den einschlägigen Texten als Konsolidierung und Verwissenschaftlichung anerkannt. Die Policy-Forschung mit der Aufwertung der empirisch-analytischen Forschungsmethoden sowie die Dominanz des Institutionalismus haben sich durchgesetzt. Die Positionen der Gründergeneration wurden oftmals aufgegebenen, wobei in Marburg – aber auch außerhalb – die Abendroth-Schüler und andere kritische Sozialwissenschaftler eine Gegentendenz repräsentierten, was zumindest in den 70er Jahren noch zu intensiven Debatten und Kontroversen führte.
Welche Veränderungen betreffen nun das Werk und das Wirken von Abendroth?
- Die spezifische Konstellation, die eingangs als Schlüsselerfahrung – die des Jahres 1933 – bezeichnet wurde, ist historisch geworden. Auch zahlreiche Themen von Abendroth, die mit der Geschichte und Politik der Arbeiterbewegung verbunden sind – seine Position in den so genannten Zwischengruppen“, aber selbstverständlich auch die Konstellation der Systemkonkurrenz in der internationalen Politik und die Frage der Entwicklung des Sozialismus in der Sowjetunion, die Abendroth immer bewegt haben (von der Stalinismusproblematik bis zur Gorbatschow’schen „Perestroika“) – sind definitiv historisch geworden. Sie bieten nur noch vermittelt Anknüpfungspunkte für eine am Historischen Materialismus orientierte Politikanalyse der Gegenwart sowie für eine notwendige Aufarbeitung der Geschichte des Sozialismus.
- Die Re-Lektüre der Schriften von Abendroth zeigt, dass er niemals Dogmatiker im Sinne eines Parteimarxisten gewesen ist. Er blieb immer offen für abweichende, häretische Strömungen: Isaac Deutscher, Ernest Mandel und Arthur Rosenberg gehörten zu seinen Lieblingsautoren; unter ihnen bevorzugte er eindeutig die Historiker wie z. B. Eric Hobsbawm. Gleichwohl hatte er ein recht traditionelles (an den Theoriedebatten der II. und der frühen III. Internationale geschultes) Marxismus-Verständnis hatte. Dieses reflektierte sich z.B. in einem traditionellen Fortschrittsverständnis, das die Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus nicht nur als Fortschritt, sondern auch als „Maulwurf“ begreift, der – vermittelt durch die antagonistischen Vergesellschaftungsprozesse – schließlich dem Sozialismus zuarbeitet. Diese Auffassung hatte lange zur Ignoranz gegenüber den Prozessen der „reflexiven Modernisierung“ (Beck) – im modernen Kapitalismus wie in den sozialistischen Systemen geführt. Außerdem war Abendroth ein typischer Repräsentant der alten, patriarchalisch dominierten Arbeiterbewegung, der die Lösung der „doppelten Unterdrückung der Frau“ – im Sinne des Klassikers von August Bebel – im Sozialismus, d.h. über die „Lösung der Eigentumsfrage“ und die Aufhebung der Klassengesellschaft, erwartete. In der Studierendenbewegung nach 1968 erlebte er noch die Anfänge des radikalen Feminismus und der „neuen Frauenbewegung“ und in seinem Institut wurden auch Arbeiten über die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland verfasst. Gleichwohl kann eine auf den historischen Materialismus zurückgreifende Kapitalismuskritik, oder gar eine Perspektive der Emanzipation von partikularer Herrschaft nicht auf die Dimension der Geschlechterbeziehungen und auf die Erkenntnisse der neueren feministischen Bewegung und Forschung verzichten.
Wo aber liegen Ansatzpunkte, um Abendroths Beitrag zu einer marxistischen Politiktheorie und Politikanalyse für die kritische Gesellschafts- und Staatsanalyse sowie für die sozialen und politischen Bewegungen und Kämpfe der Gegenwart fruchtbar zu machen? Neben der historischen Aufarbeitung der Geschichte, die uns immer auch Erkenntnisse über die Widerstandspotentiale gegen die barbarischen Formen kapitalistischer Herrschaft, über die Potentiale des Fortschritts, aber auch über die Zyklen politischer und sozialer Kämpfe und des Aufstiegs und Niedergangs hegemonialer „Blöcke“ vermitteln ist dabei ein Aspekt besonders wichtig: Für die Staats- und Politikanalyse von Abendroth ist der Grundgedanke zentral, dass die sozialökonomischen Machtasymmetrien in einer kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur die Funktion des bürgerlichen Staates determinieren, sondern auch in Krisenperioden dazu tendieren, die Demokratie – im Sinne der umfassenden Partizipation der Massen am politischen Geschehen aber auch im Sinne der Erweiterung von Partizipationsrechten sowie der „Selbstverwaltung der Gesellschaft“ – zu zerstören, außer Kraft zu setzen. Das heißt: immer wieder werden „Errungenschaften“ – wie die Demokratie selbst, aber vor allem sozialstaatliche Errungenschaften – in Frage gestellt, die in langen Kämpfen von den „Subalternen“ durchgesetzt wurden und die für eine zivilisierende „Einbettung“ der kapitalistischen Ökonomie in die Gesellschaft und die Regulationsformen des demokratischen Staates gesorgt haben.
Diese Erfahrungen der Zwischenkriegsperiode – und speziell in Deutschland die Erfahrung des Jahres 1933 und seiner Folgen – waren für Abendroth der Ausgangspunkt seiner Politiktheorie und Verfassungsinterpretation. Ende der 70er Jahre sprach er oftmals von einer „zweiten Restaurationsperiode“ in der Geschichte der Bundesrepublik. Allerdings hat er niemals der Faschisierungsthese aus dem damaligen linksradikalen Spektrum der 70er Jahre – einschließlich der RAF – zugestimmt. Er wusste um die Gefahren der schleichenden bzw. nicht durch terroristische Gewalt begleiteten Entdemokratisierung. Ihm wurde jedoch nicht mehr bewusst, wie der Sieg des Neoliberalismus zu einer grundlegenden Veränderung in den Beziehungen von Ökonomie, Gesellschaft und Politik („Entstaatlichung“) führte. Habermas bezeichnete noch Anfang der 80er Jahre die „systemische Durchdringung der Lebenswelten“ als die herrschende Tendenz. Zugleich vertraute er auf die Widerstandsfähigkeit der neuen sozialen Bewegungen gegenüber dem „Imperialismus der (kapitalistischen) Ökonomie“. Inzwischen hat diese Durchdringung Dimensionen angenommen, die den „fordistischen Klassenkompromiss“ aufgelöst haben und elementare Funktionsvoraussetzungen nicht nur des Nationalstaates, sondern der Legitimation von Politik durch demokratische Verfahren und öffentlichen Diskurs sukzessive in Frage stellen.
Eine kritische Politikwissenschaft, die sich der Analyse dieser Prozesse widmete und die zugleich ihren normativen – auf die praktische Politik bezogenen – Anspruch auf die Entwicklung eines gegenhegemonialen Projektes bezöge, wäre in der Aufarbeitung ihrer historisch-theoretischen Wurzeln unvermeidlich auf die Rezeption des Abendroth’schen Werkes verwiesen. Es wäre auf jeden Fall zu wünschen, dass die vielfältigen Aktivitäten, die im ganzen Land aus Anlass seines 100. Geburtstages unternommen werden, auch diesem Ziele dienen.
[1] Beitrag zum Symposium des Instituts für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth am 2. Mai 2006.
[2] Vgl. dazu Wolfgang Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung,. Frankfurt / Main 1976; Andreas Diers, Arbeiterbewegung – Demokratie – Staat. Wolfgang Abendroth Leben und Werk 1906 – 1948, Hamburg 2006.
[3] Im „Leben in der Arbeiterbewegung“ sagt Abendroth: „Ich kam 1951 von Wilhelmshaven, meiner ersten westdeutschen Professur, nach Marburg, in die Philosophische Fakultät auf den politikwissenschaftlichen Lehrstuhl. Ich traf wieder auf Zinn, der nun Ministerpräsident war, und wurde durch ihn ins juristische Prüfungsamt am Oberlandesgericht in Frankfurt berufen. Die juristische Fakultät in Marburg war der Ansicht, dass ein Mann, der noch nicht einmal das zweite Staatsexamen hätte, nicht berechtigt sei, angehende Juristen zu prüfen und intervenierte gegen meine Berufung beim Oberlandesgerichtspräsidenten. Natürlich wusste auch die Juristische Fakultät in Marburg, weshalb ich im Dritten Reich das mündlichen Examen nicht hatte ablegen können. Sie wusste auch, dass ich in Leipzig, Jena und in Wilhelmshaven eine staatsrechtliche Professur gehabt hatte, die mir automatisch die Prüfungsberechtigung und die Befähigung zum Richteramt verlieh“. Dieses Vorgehen ... „ist allerdings typisch für die Einstellung der bundesrepublikanischen Professorenschaft – und nicht nur für diese – gegenüber politisch Verfolgten des Dritten Reiches“ (S. 198/199). An anderer Stelle charakterisiert er bitter und resignativ das Klima in der Hochzeit des Kalten Krieges Anfang der 50er Jahre: „Die schlimmste Belastung, welche man an der Universität und unter Intellektuellen in jener Zeit mit sich herumtrug, war die, gegen den Faschismus gekämpft zu haben“ (216). Von der Majorität der Kollegen an der Universität und von der bürgerlichen Presse wurde er als „Outcast“ beurteilt (239). Der Jurist Erich Schwinge war einer der aktivsten Gegner von Abendroth in Marburg. Seine posthum veröffentlichte Autobiographie (E. Schwinge: Ein Juristenleben im 20. Jahrhundert, Frankfurt Main 19097) konzentriert sich auf die Rechtfertigung seiner Tätigkeit für die Wehrgerichtsbarkeit im 2. Weltkrieg sowie auf seine Rolle als Verteidiger von Kriegsverbrechern nach 1945. Im Anfang findet sich allerdings ein – außerordentlich primitiver, hasserfüllter – Text über das „Phänomen Wolfgang Abendroth“ (S. 274 ff.), in dem er diesem u.a. die Fähigkeit zur „Gehirnwäsche“ zuschreibt.
[4] Für die Anhänger der kommunistischen Bewegung stand das Jahr 1933 natürlich in einem engen Zusammenhang mit 1917, dem Jahr der Oktoberrevolution. In Thalheimers Faschismustheorie war dies auch klar benannt – freilich anders als später bei Ernst Nolte, der aus der Oktoberrevolution gleichsam die Legitimation des Faschismus und seiner Verbrechen ableitete.
[5] Otto Bauer, der führende Kopf des Austromarxismus schrieb am Ende seines Buches „Zwischen den Weltkriegen“, das 1936 im Exil erschien, über den „integralen Sozialismus“: „Es ist keine Halbheit, kein zaghaftes einerseits-andererseits, kein innerer Widerspruch, sondern die Anwendung der dialektischen Methode, wenn wir den zwiespältigen Charakter der Entwicklungsphasen der bürgerlichen Demokratie, des reformistischen Sozialismus, der Diktatur des Proletariats erkennen und gerade durch diese Erkenntnis die polaren Gegensätze des reformistischen und des bolschewistischen Sozialismus in der Synthese des integralen Sozialismus aufheben“ (Werke Band 4, S. 324).
[6] Ich erinnere mich noch sehr gut an Diskussionen und Veranstaltungen mit dem legendären Gewerkschafter Willi Bleicher. Er war in den 60er und 70er Jahren Stuttgarter Bezirksleiter der IG Metall. Bleicher war vor 1933 (auch nach 1945) Mitglied der KPD , dann der KPD(O), er war mehr als 10 Jahre Buchenwaldhäftling und mit seinem Namen ist die Geschichte von der Rettung eines jüdischen Kindes verbunden, die Bruno Apitz in den Roman „Nackt unter Wölfen“ verarbeitet hat. In der IG Metall und auch im DGB trat er stets als Fürsprecher einer Klassenpolitik auf und engagierte sich im Kampf gegen Neofaschismus, Aufrüstung und die Notstandgesetze. Bleicher sprach bei solchen Veranstaltungen (es gibt auch einen bewegenden Film mit ihm mit dem Titel: „Du sollst Dich nie vor einem anderen Menschen bücken!“) immer wieder den Satz aus: „Die deutsche Arbeiterbewegung hat die Niederlage von 1933 noch nicht überwunden“. Viele Jüngere haben das kaum verstanden – es zeigte aber, wie die Generation von 1933 diese Erfahrung noch in den 70er Jahren in den Mittelpunkt ihrer politischen Bewertung der Schwäche der Linken in der BRD stellten.
[7] Wolfgang Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied 1966, S. 109/110. In seiner Schrift „Die deutschen Gewerkschaften“ (1954) hat Abendroth diesen Zusammenhang noch etwas genauer angesprochen: „Die Geschichte der Weimarer Republik hat deutlich gezeigt, wie unkontrollierte wirtschaftliche Machtzusammenballung in der Hand großer kapitalistischer Machtgruppen im Zusammenhang mit unkontrollierter administrativer und militärischer Gewalt in der Hand von Schichten, die sich den Trägern der wirtschaftlichen Macht verbunden fühlen, zunächst durch fast monopolistische Verfügung über die Meinungsbildungsapparate der modernen Gesellschaft die Demokratie aushöhlt und sie dann gewaltsam sprengt, wenn in Zeiten wirtschaftlicher oder politischer Krisen den Massen die Sinnwidrigkeit des traditionellen Systems der wirtschaftlichen Machtverteilung allzu deutlich vor Augen geführt wird. Die formale Demokratie ist nur dann politisch gesichert, wenn sie durch aktive Beteiligung eines jeden am ständigen politischen Meinungsbildungsprozess durch lebendige Selbstverwaltung der Gesellschaft und des Staates Inhalt gewinnt.“ (S. 96)
[8] Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, S.121 / 122.
[9] Abendroth, Leben in der Arbeiterbewegung, S. 146.
[10] „Die wirkliche Alternative besteht nicht darin, ob man die volle wirtschaftliche und soziale Entscheidungsfreiheit eines jeden einzelnen oder seine Unterwerfung unter die planende Gewalt des die Gesellschaft demokratisch repräsentierenden Staates herstellen will, sondern darin, ob man die große Masse der Glieder der Gesellschaft der formell privaten (und also an Partikularinteressen, nicht am Gemeinwohl orientierten) Gewalt derjenigen Glieder der Gesellschaft unterwirft, die über die entscheidenden ökonomischen Machtpositionen in der Gesellschaft verfügen können, oder ob man die in der gesellschaftlichen Produktion und im gesellschaftlichen Leben notwendige und unvermeidbare Planung der Zufälligkeit der privaten Disposition kleiner Gruppen entzieht und der gemeinsamen Kontrolle aller am gemeinschaftlichen Produktionsprozess beteiligten Glieder der Gesellschaft unterstellt, deren oberste Entscheidungseinheit der Staat ist“ (Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie , S. 131/132).
[11] Zit. nach Oliver Eberl und Andreas Fisch-Lescano, Der Kampf um ein demokratisches und soziales Recht. Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2006, S. 583.
[12] Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, S. 9/10.
[13] Gert Schäfer, Das Marburger Dreigestirn: Wolfgang Abendroth – Heinz Maus – Werner Hofmann, in: Stefan Möbius und ders., (Hrsg.), Soziologie als Gesellschaftskritik. Festschrift für Lothar Peter, Hamburg 2006, S. 64 – 67.
[14] Zit. nach Eberl/Fischer-Lescano, a.a.O., S. 578.
[15] Abendroth wurde im Jahre 1966 60 Jahre alt. Aus diesem Anlass erschien im Luchterhand-Verlag (für den Frank Benseler als Lektor tätig war und in dem Heinz Maus die Reihe „Soziologische Texte“ herausgab) nicht allein die Aufsatzsammlung „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“, sondern auch eine (1967) von Heinrich Düker, Kurt Lenk und Heinz-Gerd Schumann herausgegebene Festschrift mit prominenten Autoren aus Wissenschaft, Politik, Journalismus – u. a. T. W. Adorno, Rudolf Augstein, Ernst Bloch, Karl Dietrich Bracher, Otto Brenner, Jürgen Habermas, Peter Scheibert, Richard Schmid, Werner Weber. Das Spektrum dieser Autoren zeigt, dass Abendroth zu diesem Zeitpunkt keineswegs als „Outcast“ geächtet war! Es gab eine zweite Festschrift zum 60. Geburtstag mit dem Titel „Politik und Kritik. Arbeiten zur Sozialwissenschaft“ – geschrieben und per Hand hektographiert von den damaligen Mitarbeitern und Assistenten der Marburger Institute für Soziologie und wissenschaftliche Politik, die z. T. auch an der von Abendroth und Lenk herausgegeben Einführung in die Politische Wissenschaft mitarbeiteten (u.a. K. H. Tjaden, Joachim Bergmann, Reinhard Kühnl, Jürgen Seifert, Georg Fülberth, Arnhelm Neusüss, Margarete Steinhauer, Rüdiger Griepenburg, Rolf und Ursula Schmiederer, Frank Deppe, Kurt Steinhaus, Dieter Boris und Richard Lorenz).