Berichte

„Konturen eines zukunftsfähigen Marxismus"

Berlin, 24. und 25. Juni 2006

September 2006

Die Marx-Engels-Stiftung hatte, unterstützt von Gert Julius (Linkspartei) und „junge Welt“, zu einer Konferenz geladen, die nicht nur erfreulich gut besucht war (ca. 120 interessierte Personen hörten die sieben Referate), sondern die, das sei hier bereits vorweggenommen, das Schweigen zwischen prominenten Vertretern unterschiedlicher Positionen marxistischer Theoriebildung beendete.

Im Rathaus Schöneberg eröffnete Hans Heinz Holz die Tagung mit Thesen, die „erste Prinzipien“ benannten, die für den Marxismus als theoretisches System unverzichtbar seien. Zwar seien unterschiedliche Perspektiven auf den historischen Prozess möglich, gäbe es eine „Mannigfaltigkeit von Details“; eine „Mannigfaltigkeit von Axiomen“ aber, so Holz, könne es innerhalb des Marxismus nicht geben. Dieser organisiere das Wissen von einem zentralen Punkt her, der nicht a priori gegeben sei, sondern aus der historischen Erfahrung entspringe. Die unverzichtbaren Kategorien, die diese Perspektive konstituieren seien die Produktionsverhältnisse als bestimmende gesellschaftliche Verhältnisse letzter Instanz, die Klassengegensätze als Ergebnis der Eigentumsverhältnisse, das Verhältnis von Basis und Überbau, das Verhältnis Mensch – Natur, und die „materialistische Gedankentotalität“, charakterisiert als „transempirischer Horizont zur Herstellung eines Gesamtzusammenhangs zur Einordnung empirischer Erfahrung“, also ein „Begriff des Ganzen“ (Hegel).

Innerhalb des Systems des Marxismus, der wissenschaftlichen Weltanschauung, könne es sehr wohl zu unterschiedlichen Antworten kommen, es wird also keine absolute Wahrheit unterstellt; jedem Konzept von pluralem Marxismus im Sinne von Beliebigkeit der Grundlagen erteilt Holz aber eine klare Absage.

Wolfgang Fritz Haug dagegen liess keinen Zweifel daran, dass er jede Annahme eines unerschütterlichen Axioms, eines ersten Prinzips, für überholt und im Kontext historisch-materialistischer Theoriebildung für nicht zulässig hält. Stattdessen eröffnete Haug ein „axiomatisches Feld“, das den Marxismus nicht als Klassenideologie fasst, sondern als „Antiideologie“, theoretisch bestimmt durch die – wie Haug bemerkte „ungenutzten“ – Marxschen Kritiken an Ideologie, Wertform, und Objektivismus. Innerhalb dieses Feldes gäbe es keine Zentralperspektive. Zu fragen sei nicht in erster Linie danach, ob jemand Aussagen des Marxismus akzeptiert, sondern ob eine Person die „Verhältnisse positiv verändern“ will. „Die Einheit hat sich in die Feldstruktur verlagert, die keinen Platz hat für die Verwaltung ewiger Wahrheiten“.

Einen anderen Ansatz bot Thomas Metschers Konzept eines „integrativen Marxismus“. Dieser Entwurf benennt präzise die Voraussetzungen, unter welchen Marxismus zukunftsfähig ist bzw. wird. Kern sei die Fähigkeit, unterschiedliche Bewußtseinsformen, Wahrheitsmomente, Theoreme etc. zu integrieren. Der Marxismus komme nicht umhin, der Kritik und Zerstörung eben auch Positives folgen zu lassen, in dialektischer Aufhebung des Vorgefundenen dieses Erbe nicht nur anzueignen, sondern fortzuentwickeln. Dabei dürfe keine Bewußtseinsform per se abgelehnt werden, Metscher nennt ausdrücklich Utopie (verstanden als Denken des Möglichen), populäre Mythen, Erzählungen, Ikonographien und fordert, „Momente einer wünschbaren zukünftigen neuen Gesellschaft“ zu benennen. Ausgangspunkt dafür sei die Erfassung der Wirklichkeit in ihren wesentlichen Dimensionen, die Metscher wie folgt bestimmt: ontologische Dimension (Geschichte als dialektischer Prozess), an-thropologische Dimension (der Mensch als Naturwesen und Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse), epistemologische Dimension (ein einheitlicher Vernunftbegriff), formationsgeschichtliche Dimension (Produktionsverhältnisse), kulturgeschichtliche Dimension (Gestaltung der Welt, Ästhetik) und die ethische, politisch-praktische Dimension (Aussagen gegen Unterdrückung, Eintreten für Menschenrechte).

Werner Seppmann nahm, ausgehend von der 11. Feuerbach-These, den Marxismus als eine Philosophie der Praxis ins Visier. Der Philosophie eigne eine Pflicht zur Gesellschaftskritik zu, aus welcher die neue Gesellschaft entspringt. Die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse geschehe im Rahmen der Öffnung der Philosophie hin zur Gesellschaftstheorie, ohne dass beide zusammenfallen. Die marxistische Praxisphilosophie bestimme sich als „historisch-materialistische Wirklichkeitswissenschaft“, deren konstitutives Moment der Arbeitsbegriff sei. Aus der Bestimmung des Menschen als determiniertes und gleichzeitig determinierendes Wesen mit antizipierenden Fähigkeiten folgt, dass der Marxismus sich nicht nur rekonstruiert, sondern auch auf zukünftige Entwicklungen ausrichtet.

Das Problem sozialistischer Demokratie wurde von Erich Hahn anhand eines Textes von Georg Lukàcs reflektiert. Bürgerliche Demokratie, so der Kern der Überlegungen, sei keine Alternative zu sozialistischer Demokratie – verstanden als tatsächliche Mitbestimmung und Teilhabe der Individuen an der praktischen Realisierung kollektiver Interessen. Durch Mitbestimmung werde der Sozialismus für die Menschen lebendig, konkret, verstehbar. Die Kriterien sozialistischer Demokratie und auch ihrer Kritik könnten nicht von außen herangetragen werden sondern entsprängen der eigenen objektiven Grundlage.

Grundlegende Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Marxismus trug Karl Hermann Tjaden vor. Ohne den Zusammenhang von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung gäbe es keinen realen Marxismus mehr, also könne dieser auch nicht zukunftsfähig sein. Wichtige Kategorien („Bewußtsein, Gesellschaft“) seien nicht ausgearbeitet, andere („Bevölkerung, Naturhaushalt“) existierten nur als Abstraktionen. Tjaden fordert, von Konzepten wie „Produktivkraft der Arbeit“, „Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ oder „Basis und Überbau“ schlicht „die Finger zu lassen“. Es gäbe aber auch „Fußstapfen, in die man treten soll“, nämlich: Engels’ Theorie der Zivilisationsentstehung, die Theorie der notwendig aufeinander folgenden Produktionsweisen, schließlich die Kritik der kapitalistischen Ökonomie.

Robert Steigerwalds Überlegungen kreisten um den Begriff „Marxismen“. Auseinandersetzungen habe es gegeben, Meinungsverschiedenheiten, verschiedene Konzeptionen – aber innerhalb derselben Weltanschauung. Deshalb lehnte Steigerwald den Begriff „Marxismen“ ab, weil es diese nicht gegeben habe. Zentrales Anliegen sei, Gemeinsames zu benennen, Alleinvertretungsansprüche und alte Feindschaften zu überwinden und den Blick nicht nur zurück, sondern auch nach vorne zu richten.

Die anschließende Diskussion zeigte deutlich, dass ein profundes Interesse an konkreten Perspektiven bestand, Perspektiven, die von den Referenten kaum geliefert wurden. Ohne Zweifel sind die Aspekte, die in den Beiträgen beleuchtet wurden, von hoher Bedeutung für jede zukünftige Entwicklung marxistischer Theorie. Jedoch haben (abgesehen von T. Metscher und z.T. auch E. Hahn) die Referenten bei der Bestimmung der „Konturen eines zukunftsfähigen Marxismus“ wichtige Fragen übersehen. Fragen, die zu stellen und deren mögliche Antworten gerade dann von herausragender Bedeutung sind, wenn marxistische Theorie den Anspruch bewahren will, Welt zu gestalten und zu verändern, emanzipatorisch zu sein und für die Befreiung der Menschen einzutreten. Einige dieser Fragen seien hier genannt: Wie soll die ökonomische Basis der sozialistischen Gesellschaft strukturiert und organisiert sein? Wie sind Machtmissbrauch und die Verletzung der Menschenrechte zu verhindern? Wie sieht gesellschaftliche Mitbestimmung auf allen Ebenen konkret aus? Gibt es Sozialismus in einem Land? Braucht Sozialismus die Diktatur des Proletariats? Braucht Sozialismus die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei?

Einige dieser Fragen wurden in der Diskussion gestellt, häufig von Menschen, die aktiv politisch tätig sind und die kritisierten, dass diese Themen nicht ausreichend beleuchtet worden sind.

Schließlich sei noch erwähnt, dass der Stil der Diskussion und die Art des Umgangs miteinander Hoffnung auf ein konstruktives Weitermachen in der Zukunft nährt. Die beiden ‘Antipoden’, Holz und Haug, waren erkennbar bemüht, die offensichtlichen (und wohl auch kaum überbrückbaren) inhaltlichen Differenzen zu akzeptieren. Versucht wurde, das Gemeinsame und besonders die Notwendigkeit weiterer Diskussionen zu betonen, ebenso die Offenheit für den Umgang mit Positionen außerhalb der jeweils eigenen.

Somit sollte für April 2007, für den eine bundesweite Marxismuskonferenz in Berlin geplant ist, nicht nur für Spannung, sondern auch für Ergebnisse gesorgt sein.