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Neues in der marxistischen Theorie

Anmerkungen zur Jahreskonferenz 2006 von Historical Materialism

März 2007

Die unüblich junge Redaktion der ebenso jungen Zeitschrift Historical Materialism hat auch in diesem Jahr wieder ein beachtliches Programm auf die Beine gestellt. Mit allein 191 Beitragenden und einem schon vor Konferenzbeginn alle Kapazitäten sprengenden Besucherandrang hat man in Sachen marxistischer Gigantomanie die Nase vorne. Auch dem auf der letztjährigen Konferenz erhobenen Anspruch auf einen kosmopolitischen Marxismus wurde man annähernd gerecht. Obgleich auch in diesem Jahr naturgemäß die angloamerikanische Fraktion wieder die Mehrzahl der Vortragenden stellte, liest sich das Programm internationaler als auf vergleichbaren Veranstaltungen.

Zum Auftakt der Konferenz stand David Harveys Konzept der Akkumulation durch Enteignung (ADE) zur Debatte. Harvey verwies auf ein Rätsel, das es zu lösen gelte, wolle man den gegenwärtigen Kapitalismus verstehen: Die 3500 US-amerikanischen Hedgefonds haben im letzten Jahr zusammen 50 Mrd. US$ an Profiten gemacht. Woher rühren solche Summen? Ihre Herkunft, so Harvey, lasse sich nur als ADE begreifen. Die Quellen dieser beispiellosen Bereicherung einer winzigen Minderheit von Finanzkapitalisten seien vielseitig und immer spiele der Staat hierbei eine zentrale Rolle. Die USA hätten – so zitierte Harvey Mark Twain – schließlich „die beste Regierung, die man sich für Geld nur kaufen kann“: Staatlich legitimierte Firmenbankrotte, wie bspw. die Insolvenz von United Airlines, die Zehntausende von Menschen ihrer Rentenansprüche beraubte, seien ADE. Gleiches gelte für eine Strukturanpassungs- und Marktöffnungspolitik, die Hunderte von Millionen Menschen ihrer Subsistenzmittel beraube und global für eine gigantische Landfluchtwelle (und Serie von Bauernselbstmorden) sorge, mit dem Ergebnis des von Mike Davis beschriebenen Slumplaneten. Wenn in Bombay teure Apartmentblöcke auf Land gebaut würden, das bis dahin von in die Städte geflüchteten Landbewohnern als Slumregion genutzt wurde, nun aber im Zuge der Urbanexpansion an Wert zulegte, dann sei dies eine Form der ADE. Der Marxismus müsse für eine Kritik der „Ursünde“ der ursprünglichen Akkumulation aus dem ersten Band des Kapitals geöffnet werden. Der Kapitalismus beruhe in der Tat auf der Zerstörung der Allmende und der gewaltsamen Schaffung von doppelt freien Lohnarbeitern. Die Ausbeutung als Äquivalententausch unter formell Gleichen sei jedoch lediglich eine Form der ADE. Die primitive, gewaltförmige Akkumulation verschwinde nicht mit der staatlichen Herstellung kapitalistischer Sozialverhältnisse. Alex Callinicos stützte die allgemeine Tragfähigkeit der Harveyschen Unterscheidung von Akkumulation durch erweiterte Reproduktion (AER) und ADE. Das Konzept der ADE müsse allerdings als ein trennscharfer Begriff herausgearbeitet werden, denn an Harveys Beispielen leuchte nicht ein, worin die Gemeinsamkeiten von Rentenenteignungen und Landraub bestünden. Die Rentenenteignung setze Mehrwertproduktion, d.h. Lohnarbeit und damit AER und Ausbeutung voraus, was für den Landraub nicht gelte. Dessen Akkumulation basiere auf Land als potentiellem Produktionsmittel und damit als Quelle von Grundrente. Auch John Smith kritisierte die ADE als Oberbegriff: Rentenfonds seien kein Teil der Allmende. Harvey räumte in seiner Antwort auf seine Kritiker ein, dass dies ein Problem sei. Der Begriff sei dennoch weiterzuentwickeln. Harvey habe auf seinen zahlreichen Reisen in die (Semi-)Peripherie in den vergangenen Jahren überall dieselbe Erfahrung gemacht: Die Aktivisten vor Ort wüssten mit dem Begriff der Akkumulation etc. wenig anzufangen. Der Begriff der Enteignung jedoch löse wütende Wiedererkennung aus. Er sei schon allein politisch unverzichtbar.

In einer von mehreren Sitzungen zum deutschen Poulantzas-lesen-Projekt diskutierten Bob Jessop und Clyde W. Barrow mit Alexander Gallas und Lars Bretthauer. Bretthauer/Gallas unterstrichen die Bedeutung der poulantzas’schen Staatstheorie sowohl für die Perspektiven der Linkspartei als auch die Kritik der Staatsillusion in Teilen der globalisierungskritischen Bewegung. Jessop diskutierte die Staatstheorie (1978/2002) als modernen Klassiker. Poulantzas analysiere hier den Staat sowohl als kapitalistische Staatsform als auch als Staat in der kapitalistischen Gesellschaft. Eine angemessene Theorie des kapitalistischen Staates setze eine Vereinbarung der Milibandschen politischen Soziologie und des poulantzas’schen Ansatzes voraus. Dies leiste Poulantzas in seiner Staatstheorie. Poulantzas sei vor seiner Identifizierung mit dem strukturalistischen Abstraktionismus in Schutz zu nehmen. Es sei darauf hinzuweisen, dass bereits Althusser Poulantzas’ Politische Macht und gesellschaftliche Klassen (PMGK, 1968) mit dem Verweis auf dessen vermeintlichen Historismus abgelehnt habe. Althusser habe das Historismusgespenst darin vermutet, dass Poulantzas sich hier auf Gramsci und dessen Hegemoniebegriff stützt. Der Unterschied zwischen Althusser und Poulantzas bestehe darin, dass Poulantzas im Gegensatz zur berühmten althusserschen Staatsdefinition (Staat = ideologische repressive Staatsapparate) ein Verständnis für die ökonomische Rolle des Staates gehabt habe, wenn er vom Staat als dem staatsökonomischen Apparat sprach. Barrow kritisierte in seinem Beitrag die Jessopsche These eines durch die Klassenkämpfe im Pariser Mai ausgelösten, quasi-epistemologischen Bruchs in Poulantzas’ Denken. Poulantzas habe sich bereits von Anfang an sowohl vom strukturalistischen Abstraktionismus der Althusserschule als auch vom technologischen Strukturalismus eines Göran Therborns unterschieden. Poulantzas habe sich durch eine ihm alleine vorbehaltene historisch-strukturalistische Methode ausgezeichnet. Bloß habe er erst im Laufe der zehn Jahre zwischen PMGK und der Staatstheorie die Notwendigkeit gesehen, seine Unterscheidungsmerkmale gegenüber Althusser/Balibar klarer herauszustreichen. Frieder Otto Wolf kritisierte an beiden Vorträgen den Hang zum antialthusserschen Reduktionismus. Althusser/Balibar seien komplexer als ihre amerikanische historistisch-empiristische Karikatur es zulasse. Diese Komplexität sei nirgends besser nachzuvollziehen als anhand der weder ins Englische noch ins Deutsche übersetzten Cinq Études du Matérialisme Historique.

Auf dem Panel „Wirtschaftstheorie und wirtschaftswissenschaftlicher Imperialismus“ diskutierten Daniel Ankarloo (School of Health and Society/Schweden), Dimitris Milonakis (Universität Kreta) und Ben Fine (School of Oriental and African Studies/London). Fine datiert den Beginn des Imperialismus der wirtschaftswissenschaftlichen Orthodoxie auf die 1950er Jahre. In der Debatte um die Kontinuität oder den Bruch der Institutionellen Politischen Ökonomie (Mill, Weber, Veblen, Keynes) mit der Neoklassik (NK) von Malthus und den Utilitaristen bis Hayek und Friedman unterstrich Fine deren allgemeine Nähe. Der Begriff des wirtschaftswissenschaftlichen Imperialismus gehe auf die 1930er Jahre zurück. Als in den 1950er Jahren der neoklassische Begriffsapparat endgültig auf seine mathematisierte und formalisierte Theorie und auf griffige Grundparadigmen (Gleichgewichtstheorem, mikroökonomischer Reduktionismus, methodischer Individualismus, (Pareto-)Optimalität, homo oeconomicus, rational-choice) reduziert war, seien die Grundlagen für den wirtschaftswissenschaftlichen Imperialismus gelegt gewesen. Die Frage habe sich gestellt, warum diese (universalisierbaren) Grundbausteine sich auf die VWL beschränken sollten? Zwei Phasen des wirtschaftswissenschaftlichen Imperialismus seien zu unterscheiden: (1.) der alte Gary Becker-Typus und (2.) der neo-neoklassische Typus. Ersterem seien insofern natürliche Grenzen gesetzt gewesen, als die Sozialwissenschaften ihrem Wesen nach historische und sozial-relationale Disziplinen seien. Der neue Typus sei demgegenüber brisanter. Er entspringe den Entwicklungen in der VWL selber, d.h. der Kritik der Neuen Institutionenökonomik (NIK) an der Neoklassik und verstärkte sich seit der Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Joseph E. Stiglitz, den dieser für seine „Analyse von Märkten mit asymmetrischer Information“ erhielt.[1] Diese neue Entwicklung ermögliche es dem wirtschaftswissenschaftlichen Imperialismus überhaupt erst, auf dem Terrain der Sozialwissenschaften Fuß zu fassen, da dieser – im Gegensatz zum Gary Becker-Typus – nun in der Lage sei, nicht-ökonomische, soziale oder nicht-marktförmige Strukturen in den Blick zu nehmen, während die alte NK-Orthodoxie diese nur als Quasimärkte zu behandeln imstande war. Die Verbreiterung der Anknüpfungspunkte und Angriffsfläche der Sozialwissenschaften habe zu zahlreichen neuen Disziplinen geführt: der neuen Entwicklungsökonomik, der NIK, der neuen Wirtschaftssoziologie, der neuen geographischen VWL etc. Dennoch bestehe Anlass zur Hoffnung, wenn man den VWL-Imperialismus einmal von der Nachfrageseite betrachte. Zwei Trends seien zu beobachten: Erstens eine Abkehr vom extremen Postmodernismus und zweitens eine Abkehr vom neoliberalen Extremismus sowie die Hinwendung zur Globalisierungskritik: „Die Leute wollen heute wissen, wie der Kapitalismus funktioniert, und nicht, wie sich individuelle Akteure in ihm verhalten.“ Noch sei nicht absehbar, wie sich das wiedererweckte Interesse an einem holistischen Wirtschaftsverständnis auswirken werde. Sicher sei nur, dass es in der hermetischen Festung der orthodoxen VWL keine Wirkung zeigen werde. In den Sozialwissenschaften erlebe der Marxismus dagegen eine Renaissance.

Ankarloo erweiterte Fines Ausführung in die Richtung einer Kritik der NIK, über die man auch in Schweden nicht hinausgelange. Für manche herrsche in Schweden „Sozialismus“, aber die VWL dort sei „schwachsinnig“. Die NIK sei eine Reaktion auf die völlige Unhaltbarkeit der neoklassischen Abstraktionsorthodoxie, die gemessen an der Realität absurd sei. Sie habe sich an der Frage entwickelt: „Wenn die Märkte so wunderbar sind, warum gibt es sie dann nicht überall?“ Die NIK versuche somit „das Unrealistische realistischer, das Ungesellschaftliche gesellschaftlicher und das Unhistorische historischer“ zu machen. Mittel hierzu seien die Aufweichung des Rational-Choice-Paradigmas und die Kritik des so genannten „Free-Rider“-Problems der NK (d.h. ihre Unfähigkeit, Großinteressenhandeln mit zu denken). Hierbei seien (a) das Transaktionskostentheorem und (b) Eigentumsrechte von Bedeutung: Märkte seien nicht perfekt, Informationen asymmetrisch gestreut und die einzelnen „Marktteilnehmer“ hätten entweder nicht das Geld oder nicht die Zeit, sich einen Überblick über die Marktverhältnisse zu verschaffen. Das Problem der NIK sei, dass sie von weberschen Idealtypen (wie dem Markt oder der Markttransparenz) ausgehe, um dann die unzähligen Abweichungen zu beschreiben. Die impliziten Annahmen würden beibehalten, obwohl man sich bewusst sei, dass es sich hierbei um problematische, ahistorische und ideologische Grundannahmen handele. Eine postautistische heterodoxe VWL sei ohne ein Brechen mit dem bürgerlichen Weltbild beider nicht zu haben und ohne gesellschaftlichen Druck undenkbar. Die VWL ignoriere die Marxistische Politische Ökonomie solange sie das kann, denn diese eigne sich wohl kaum fürs Geschäft. David Harvey kommentierte, dass die Kritik des VWL-Imperialismus vor allem auf die himmelschreienden Ungereimtheiten und die „Erklärungsschwachbrüstigkeit“ der orthodoxen Ökonomen hinweisen müsse, wenn diese sich aus ihrer Festung VWL wagten. Zu erinnern sei an Jeffrey Sachs’ Versuche, sich die unterschiedlichen postkommunistischen Entwicklungen der Sowjetunion und Chinas dadurch zu erklären, dass China einen langen und befahrbaren Küstenstreifen besitze und Russland nicht: „Das Scheitern der ökonomischen Schocktherapie für Russland sei demnach nicht sein Versehen, sondern ein Fehler der Umwelt. Wenn irgendwas in der Realität nicht mit den neoklassischen ‚Blaupausen‘ übereinstimmt; dann muss das etwas mit der Umwelt oder irgendetwas Kulturellem zu tun haben.“

Auf dem Panel „Das Kapital lesen“ diskutierten Roberto Fineschi (Universität Siena), Patrick Murray (Creighton University/USA), Michael Heinrich (Prokla-Redaktion, Berlin) und Ben Fine. Nachdem Murray seinen Begriff der hybriden Subsumtion, Fineschi seine Backhaus/Reichelt- und Ben Fine seine Lebowitz-Kritik entwickelt hatten, stellte Michael Heinrich dem einigermaßen ahnungslosen Publikum den Stand der deutschen philologischen Neurezeption des marxschen Gesamtwerks im Rahmen der MEGA dar. Den verwunderten Zuhörern erläuterte er, dass selbst das Kapital I als ein unvollendetes Werk zu begreifen sei. Auch dies habe Marx noch einmal völlig umarbeiten wollen. Im Hinblick auf sein Werk und Kapital II und III im Besonderen stellten sich zwei Probleme: (1.) das Marx-Engels-Problem und (2.) das Marx-Entwicklungsproblem. Zum einen werde erst jetzt offenkundig, wie sehr Engels Marx’ Manuskripte nicht nur stilistisch, sondern auch konzeptionell abänderte. In Zukunft habe man sich daher auf die in der MEGA erstveröffentlichten Originalmanuskripte zu beziehen. Zum anderen (und noch weniger präsent) sei die Tatsache, dass Marx ein „bücherfressendes Monster“ gewesen sei. Seine Notizen aus den 1870er Jahren allein würden (inklusive seiner exzessiven naturwissenschaftlichen Studien) in der MEGA 11 Bände füllen. Daraus resultiere das Marx-Entwicklungsproblem, das Problem von Marx als „lernender Person“. Die marxschen Vorhaben hätten sich im Rahmen dieses Lernprozesses rasch geändert. Von seinem ersten Projekt seien zwei Manuskripte überliefert: Die Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie von 1857/58 und die Theorien über den Mehrwert von 1861/63. Das sechsbändige Vorhaben materialisierte sich bekanntlich niemals und Marx nahm Abstand von diesem Projekt. Nicht nur fand das Projekt keine weitere Erwähnung mehr, sondern er benannte seine Kritik der Politischen Ökonomie in seinem neuen Projekt auch um in „Das Kapital“. Die Kritik rückte an zweite Stelle in den Untertitel. Von diesem zweiten Vorhaben, das nun vier Bücher umfassen sollte (drei theoretische und ein historisches), existierten insgesamt drei Fassungen, von denen das erste Manuskript verloren gegangen ist, das zweite (1866-1871) von Engels unbeachtet blieb und das dritte für Kapital III verwendet wurde. Die Bedeutung des Marx-Entwicklungsproblems ergebe sich in einer theoretischen Neuorientierung zwischen Kapital I von 1867 und den späten 1870er Jahren, als Marx zunehmend die USA und nicht England als das klassische Land des Kapitalismus begriff und seine Aufmerksamkeit sich zunehmend auf den Finanzsektor und das Kreditwesen richtete. Die Kapital-Bände seien eine Kombination aus allen Manuskripten. Es gelte, die marxsche Entwicklung von der Wert- zur Reproduktions- und zur Krisentheorie mitzudenken. Eine neue Rezeption stelle sich heute als eine Aufgabe der De- und Rekonstruktion des Kapitals, um es für zukünftige Generation nutzbar zu machen. Für den angloamerikanischen Raum stelle sich die Aufgabe, die relevanten Teile der MEGA zügig zu übersetzen.

In der Plenardiskussion „China und die Zukunft der Weltwirtschaft“ betrachtete Andrew Glyn die Auswirkungen des phänomenalen Wirtschaftswachstums in China, das mit einer beispiellosen Umweltverschmutzung (Luft/Wasser) und dem Absinken des Lebensstandards breiter Teile der Bevölkerung verbunden sei. Das chinesische Wachstum sei im Kontext der schwachen Wachstumsraten in den kapitalistischen Metropolen zu diskutieren. Während in China das Wachstum des Kapitalstocks Raten von 10-11 Prozent erziele, habe man es in Bezug auf die kapitalistischen Metropolen mit Wachstumsraten von lediglich 2-3 Prozent zu tun. Es ergebe sich diesbezüglich eine deutliche Verschiebung in Richtung China und Indien. Der Handel Chinas wachse außerordentlich, übersteige dabei aber den Handel der südostasiatischen Tigerstaaten und Japans nicht. Der zentrale und fundamentale Unterschied zwischen der chinesischen Entwicklung und dem Entwicklungsvorbild der nachholend industrialisierenden Länder (NIL), beziehe sich auf das Lohnniveau. Trotz dreier Wachstumsdekaden habe es in China keine mit den Entwicklungspfaden der anderen NIL vergleichbaren Lohnsteigerungen gegeben. Das Lohnniveau in China entspreche auch heute noch lediglich 2-3 Prozent des Lohnniveaus in den USA. Hieraus resultierten unvergleichliche Profitraten. Die OECD habe in einer jüngeren Studie einen rapiden Anstieg der Profitraten dokumentiert; der Anteil der Löhne an der Wertgesamtmasse betrage lediglich 16-20 Prozent, während in der EU oder in den USA diese bei etwa zwei Dritteln liege. Die hohen Profit- und Wachstumsraten funktionierten nun als ein unwiderstehlicher Magnet auf Kapital aus den Metropolen. Zwar betrügen die ausländischen Direktinvestitionen (ADI) des Nordens im globalen Süden in der Summe lediglich 4 Prozent der Investitionen der Staaten des Nordens untereinander. Die Wachstums- und Profitraten der chinesischen Ausnahme deuteten jedoch darauf hin, dass sich das ADI-„Getröpfel“ bald in eine „Flut“ verwandeln könnte, wenn es bei der Verknüpfung von niedrigen Löhnen und hohen Profiten bleibt. Tatsächlich sei es statistisch belegbar, dass sich ein wachsender Anteil der Neuinvestitionen in Richtung China verlagere, wo eine industrielle Reservearmee aus Hunderten von Millionen an Arbeitern die Aussicht auf signifikante Lohnsteigerungen unrealistisch mache. Eine massive Kapitalverlagerung werde die internationale Gewerkschaftsbewegung zwangsläufig vor immense Probleme stellen. Die drohende Kapitalfluchtwelle würde notwendigerweise zu einer Schwächung der Arbeiterbewegung und einer Verschärfung ihrer Krise führen. Der Anteil der Arbeit am Nationaleinkommen würde sinken, die Ausbeutungsrate erhöht werden. Verschärft werde diese Entwicklung durch langfristige historische Trends. So sei die Zeit von Smiths Wohlstand der Nationen (1776) bis zu Marx’ Kapital von einem substantiellen Sinken des Anteils der Arbeit am Nationaleinkommen geprägt gewesen. Diese Entwicklung sei zwischen dem Ende der 1860er Jahre und den 1970ern umgekehrt worden. Seit den 1970er Jahren sinke der Anteil der Arbeit wieder kontinuierlich. Glyn hätte gerne eine optimistischere Aussicht präsentiert. Doch falls es zu einer Verschiebung der Akkumulation nach China kommen sollte, dann seien die Probleme, mit denen sich die Gewerkschaften heute konfrontiert sähen, verglichen mit den zukünftigen ein Pappenstiel.

David Harvey entwickelte seinen Gedanken zum Thema anhand der spezifischen Eigenschaft der kapitalistischen Produktionsweise als einem System des konkurrenzgetriebenen Reinvestitionszwangs. Wenn im Kapitalismus das akkumulierte Kapital nicht angelegt werden könne, dann stelle sich die Frage, wohin G’ fließe. Das Kapital sehe sich permanent mit Überakkumulationskrisen konfrontiert, in denen Räume geöffnet werden müssten, in die das Kapital als umstrukturierende und geographische Räume erschließende Kraft hineinströmen könne. So sei bspw. die Überakkumulationskrise von 1848 für die Neustrukturierung von Paris verantwortlich. Diese sei in der Lage gewesen, das überschüssige Kapital zu binden und die Überakkumulationskrise bis zur nächsten Krise im Jahr 1868 zu „lösen“. Ähnlich hätten die Kriegsanstrengungen der ersten Hälfte der 1940er Jahre in den USA die Überschüsse absorbiert und so die Wirtschaftsdepression der 1930er beendet. Das Goldene Zeitalter des Kapitalismus sei ebenfalls ohne eine Verständigung über die gewaltigen Suburbanisierungsinvestitionen der 1950er und 1960er Jahre nicht zu begreifen. Die Geographie jener kapitalistischen Epoche schuf Robert Moses, indem er die gesamte New-York-Region sowie Chicago und Los Angeles umstrukturierte. Die Bedeutung Chinas heute ließe sich demnach nur verstehen, wenn man sich frage, wie die Weltwirtschaft heute ihre Überakkumulationsproblematik räumlich-zeitlich „zu lösen trachte“. Die USA würden heute die Rolle des Weltkeynianers spielen, indem sie täglich zwei Mrd. US$ v.a. von Japan absorbierten, die dort nicht zuletzt in die Immobilienindustrie fließen würden, was wiederum für die Inflation der Immobilienpreise sorge. Auch China absorbiere heute in seinem furchterregenden Urbanisierungsprozess – als einer Variante der ADE – massiv globale Überschüsse. Allein der Bau eines Universitätscampus für eine Millionen Studierende binde 60 Mrd. US$ aus den kapitalexportierenden Ländern. Die massiven Investitionen in Chinas Millionenmetropolen ließen dabei ganze rohstoffexportierende Länder wie Chile (Kupfer/Zement) oder Argentinien (Leder und Soja) prosperieren, wobei der daraus resultierende Wohlstand allmählich dafür sorge, dass diese Länder ihre nachholende Industrialisierung vernachlässigen. Das Problem bestehe darin, dass die Länder, die den Kapitalüberschuss aufnehmen, sich mit zunehmender Beschleunigung in Kapitalexporteure transformierten. Im Falle China ereigne sich momentan ein Prozess, der so bereits in den 1970ern und 1980ern an den Beispielen Südkorea und Taiwan beobachtet werden konnte. Die chinesische Entwicklung gehe einher mit einer beispiellosen und erschütternden ökologischen Katastrophe. Auch die soziale Frage stelle sich in einem kaum beschreibbaren Maße, nicht zuletzt, da China nicht nur im Standortkrieg mit anderen kapitalistischen Ländern stehe, sondern auch in China selbst bis hin zur lokalen Ebene eine brutale Konkurrenz herrsche, weshalb die einzelnen Lokalregierungen bankrott seien. „Der Standortkrieg ist Barbarei. In den USA arbeiten die Republocrats und die Demopublicans an einer Konvergenz von China und den USA. Und sie sind schon auf halbem Wege dorthin! Schauen wir uns doch allein die Lohnentwicklung in den Vereinigten Staaten an! Was in China passiert, ist nun wirklich, wirklich beängstigend; und die globale kapitalistische Akkumulation wird durch diese Prozesse in China überhaupt nur aufrecht gehalten. Wir müssen uns dringend an Marx halten: Wenn dies die einzig denkbare Art und Weise ist, wie sich der neue Kapitalismus entwickeln kann, dann ist es doch Zeit, dass dieses Scheißsystem endlich verschwindet; Zeit, dass wir es uns vom Hals schaffen. Das ist es, was wir den Menschen in Amerika und anderswo verständlich machen müssen.“

Simon Clarke widmete seinen Beitrag zum Thema der Frage nach den Bedingungen und Formen von Arbeitskämpfen in China. Bei diesen handele es sich vor allem um Kämpfe der Landbevölkerung um die Landnutzungsrechte. Die sozialen Verwerfungen, die aus der Freisetzung von Hunderten von Millionen von Bauern resultieren, würden durch den Staat nur wenig abgeschwächt. Das Problem China bestehe in der Entstehung einer neuen Arbeiterklasse, die sich aus 150 Millionen landflüchtigen Arbeitsmigranten zusammensetzt, die heute unsere Autos, Kleidung, etc. produzieren. Deren Arbeitsbedingungen seien bekanntlich durch niedrigste Löhne, lange Arbeitszeiten und beschämende Arbeitsbedingungen gekennzeichnet. Das Wachstum resultiere nicht daraus, dass es den Leuten besser, sondern gerade, weil es ihnen viel schlechter gehe. Die neue Arbeiterklasse zeichne sich durch eingeschränkte Aufenthaltsrechte in den Städten aus. Sie verfüge über keine Machtressourcen, sei immens fragmentiert und von der angestammten Bevölkerung abgetrennt. In sich sei sie angesichts der vielfältigen kulturell-linguistischen Differenzen zudem immens heterogen und ausdifferenziert. Trotzdem zeichneten sich erste Klassenbildungsprozesse ab, obwohl keine verlässlichen statistischen Angaben über die zahlreichen Streikaktionen existieren. Verantwortlich für diese Prozesse sei der sich abzeichnende Arbeitskräftemangel, der die Verhandlungsposition der Arbeiter verbessere. Auch würden viele der kulturellen Gräben durch die gemeinsame Kampferfahrung überwunden. Seit 2003 dürften nun die Migrationsarbeiter Teil der chinesischen staatlichen Gewerkschaft werden. Hierdurch konnten 20-30 Mio. Arbeiter in der ACFTU gewerkschaftlich organisiert werden. Auch der Achtungserfolg der staatlich verordneten Gewerkschaftspflicht für alle Walmart-Geschäfte in China sei in diesem Kontext zu betrachten. Dennoch bleiben zahlreiche Fragmentierungsmomente, wie die Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen sowie zugewanderten und ansässigen Arbeitern plus die Differenzierung in öffentlich und privat Beschäftigte. Dennoch sei ein objektiver Vereinheitlichungsprozess beobachtbar. Eine Aussicht auf staatsunabhängige Gewerkschaften bestehe kaum. Gleichzeitig könne eine partielle Transformation staatlichen Gewerkschaften von Disziplinierungsinstanzen in fortschrittliche Einrichtungen festgestellt werden. Die chinesische Regierung selbst sei bestrebt, durch einige Reformen dem Protestpotential zu begegnen. Als Ausrichterin der kommenden Olympischen Spiele möchte man auf jeden Fall einen Vorfall wie die staatliche Niederschießung von Protesten mexikanischer Arbeiter vor den mexikanischen Olympischen Spielen vermeiden. China, so Clarkes abschließende Bemerkungen, reagiere zwar auf internationalen Druck in Bezug auf eine Verbesserung der chinesischen Arbeitsbedingungen mit dem Zeigen der kalten Schulter. Tatsächlich aber zeige man sich für internationalen Druck doch sehr empfindlich. Folglich ließ er seinen Vortrag verhalten optimistisch enden.

Alex Callinicos kritisierte an Glyns Vortrag, dass der einzige „ADI-Flutindikator“ die Löhne seien. Die Ursachen, die zu einer Verschiebung der ADI führten, seien jedoch weitaus komplexer. Neuinvestitionen würden auch heute noch in Marktnähe getätigt: Bspw. in Mexiko oder in Osteuropa. Daraufhin erwiderte Glyn, dass zahlenmäßig die Investitionen in China tatsächlich einigermaßen unerheblich seien. Es gelte aber, bei den Berechnungen die Währungsunterschiede mit einzukalkulieren. So sei eine Investition von 1.000 US$ in den USA mit einer 1.000-US$-Investition in der Peripherie nicht zu vergleichen; und doch würden alle statistischen Berechnungen lediglich das Kapitalvolumen in Dollar berechnen und die Währungskursunterschiede missachten.

In der Diskussionsveranstaltung „Wie unterscheidet sich eine marxistische von einer keynesianischen Kritik am Neoliberalismus?“ diskutierten Alfredo Saad-Filho (University of London), Elmar Altvater (FU-Berlin) und Greg Albo (York University/Toronto). Saad-Filho definierte die zentrale Erkenntnis des Keynesianismus als die Einsicht, dass „der Kapitalismus nicht automatisch zu einem Gleichgewicht führt. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass Institutionen geschaffen werden müssen, die für Vollbeschäftigung sorgen, ohne für hohe Inflationsraten zu sorgen.“ Der Keynesianismus befinde sich aus zwei Gründen auf dem Rückzug: erstens, da er aufgrund seines (Über-)Erfolgs zum Problem wurde, und zweitens aufgrund einer theoretischen Streitigkeit zwischen den konservativen US-Keynesianern und den progressiveren britischen Keynes-Anhängern. Der Übererfolg des Keynesianismus hinsichtlich der Steigerung des Wohlstands der arbeitenden Bevölkerung zeigte sich in der Notwendigkeit, dass man in seiner Krise entweder über ihn hätte hinausgehen müssen oder in einer Konterrevolution die Profitbedingungen durch eine Verschiebung in den Machtverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit wiederherzustellen hatte. Der Keynesianismus sei aus zwei Gründen theoretisch mangelhaft und politisch irreführend: Zum einen sei er „zu abstrakt“ und abstrahiere davon, dass es sich bei Kämpfen um die Kapitalakkumulation auch um Kämpfe um das Wesen der Kapitalakkumulation selbst handele. Dass man das neoliberale Projekt anvisierte bzw. anvisieren musste, die Macht des Kapitals wiederherzustellen, war in der keynesianischen Theorie nicht denkbar. Zum anderen sei die keynesianische Theorie „nicht abstrakt genug“, indem sie missachte, wie die keynesianischen Maßnahmen organisch zum Neoliberalismus führen mussten. Die Transnationalisierung der Unternehmen – als einem der Ziele des eingebettet freihändlerischen Keynesianismus – sei der Frage der sozialen Reproduktion im Innern übergeordnet gewesen. In deren Rahmen bestand dann das primäre Ziel des Neoliberalismus weniger darin, die Inflation zu senken oder gar Wachstum zu produzieren, sondern sich die lokalen Arbeiterklassen vermittels der Massenarbeitslosigkeit und durch internationalen Wettbewerbsdruck unterzuordnen. Hiermit verknüpft sei ein zweites Problem des Keynesianismus, nämlich die Vorstellung, der Staat könne als ökonomisch-politisch autonomer Akteur die Geschicke der Gesellschaft lenken. Dieser kann jedoch nur sozial-relational gedacht werden, was wiederum bedeutet, dass die Entwicklung der Klassenkonfiguration in der keynesianischen Epoche ausgeblendet wird, obwohl sie den Keynesianismus sprengen musste.

Greg Albo begann seinen Vortrag über das Verhältnis von Neoliberalismus und Staat mit der Reflektion, dass der Neoliberalismus seine ganze Aktivisten- und Wissenschaftsbiographie geprägt habe. Schon früh habe er als Grundstudiumsstudent eine Demonstration gegen den Neoliberalismus organisiert, als 1977 die von Hayek inspirierte neoliberale Regierung im kanadischen Bundesstaat Manitoba an die Macht gelangte. Die Linke missverstehe die Machtstrukturen des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus sei heute keineswegs geschwächt. Der globalen Sozialdemokratie sei es nicht gelungen, mit dem Neoliberalismus zu brechen. Ihr Weg sei der Weg der „progressiven Wettbewerbsfähigkeit“ geblieben. Die Macht des Neoliberalismus basiere heute auf Strukturen, in denen mittlerweile schon Nachbarschaftsviertel miteinander als Standorte um Investitionen konkurrieren. Der Neoliberalismus grabe sich somit tief in den Alltagsverstand der Bevölkerung ein. Er sei eine „gesellschaftliche Form der Herrschaft“: „Was wir heute bekommen, sind keine Kapitalismusvarianten, sondern Neoliberalismusvarianten!“ Im Hinblick auf den Staat habe der Neoliberalismus, so Albo mit Poulantzas, die inneren Kräftekonstellationen der Klassen entscheidend verändert: Während der „Machtblock“ im Keynesianismus vor allem durch nationale Bourgeoisien geprägt gewesen sei, sei das transnationale Finanzkapital heute nicht mehr bloß dominant, sondern hegemonial, was wiederum bedeute, dass das ausländische Kapital Teil einer „inneren Bourgeoisie“ sei. Die sozialdemokratische politische Ökonomie müsse für ihr mangelhaftes Staatsverständnis kritisiert werden. Der Neoliberalismus habe die Modalitäten des Staates verändert und ihn nicht „von innen ausgehöhlt“: „Die Nationalstaaten werden nicht übergangen, sondern sind die konstituierende politische Form der neoliberalen Klassenkonstellation.“ Der Neoliberalismus habe die keynesianischen Staatsstrukturen systematisch angegriffen und die webersche Bürokratie, auf der der Keynesianismus beruhte und die für ihn unabdingbar war, zerstört. Die neue Staatsform, die daraus resultierte, sei von den Parteien der Mitte jedoch in keiner Weise reflektiert worden. Langfristig bestünden politische Alternativen nur im Aufbrechen der neoliberalen Staatsstruktur oder im Aufbau von neuen Staatsformen um ihn herum.

Elmar Altvater definierte die Unterschiede zwischen einer keynesianischen und einer marxistischen Kritik anhand von drei Kriterien: (1.) die marxistische Klassenperspektive, d.h. die Gesellschaft wird nicht als technokratisch zu steuernd gedacht, sondern als Resultat von geschichtlich kontingenten Klassenkämpfen; (2.) das Verteilungsproblem, d.h. die keynesianische Fokussierung auf die Distribution, die vom Produktionssektor und der produktiven Arbeit und Mehrwertproduktion abstrahiert und dabei ein unerschöpfliches Maß an Verteilungsfreiheit annimmt; (3.) die Einsicht in die grundsätzliche Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Akkumulation, die in der marxistischen Neoliberalismuskritik die Stelle einnimmt, die im Keynesianismus allein von der Annahme der Geldwertinstabilität ausgefüllt wird. Der Keynesianismus sei heute Geschichte, da die Institutionen, die ihn trugen, nicht mehr existieren.

Die Historical-Materialism-Konferenz entwickelt sich sowohl aufgrund ihrer geographischen Lage als auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch für Marxisten die Sprache des amerikanischen Imperiums und des „Lockeschen Kernlands“ die lingua franca ist, mehr und mehr zu einem bemerkenswerten Forum des internationalen marxistischen Austausches. Dabei wird der kosmopolitische Marxismus davon profitieren, wenn es mit der weiteren Internationalisierung der Konferenz in Zukunft gelingt, den angloamerikanischen Mangel an einer Streitkultur zu beheben und eine solche zu entwickeln, die sich nicht scheut, Konflikte in der Sache forscher und ungenierter auszufechten.

[1] Kommentar Greg Albo: „In der VWL werden Nobelpreise heute für Erkenntnisse aus soziologischen Erstsemesterveranstaltungen verliehen.“