Editorial

März 2008

Es ist fast zwanzig Jahre her, dass der Kapitalismus sich anschickte, seinen globalen Siegeszug vorerst zu vollenden. Der Zusammenbruch der ehemals sozialistischen Ländern ließ diese zu einem Experimentierfeld der ungebändigten Profitmacherei werden. In China, dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, entstanden neue Expansionsräume des internationalen und später auch des nationalen Kapitals. Gleichzeitig schien es in den Mutterländern des Industrie- und Finanzkapitals zu gelingen, die sozialen Leitplanken niederzureißen, welche bis dahin die Profitabilität und die Aktionsspielräume des Privatkapitals beschränkt hatten. Der Begriff der ‚Reformen‘ wurde mit neuen, neoliberalen Inhalten gefüllt: Nunmehr ging es um den Abbau aller Schranken, die die freie Bewegung des Kapitals behindern. Die Organisationen der Gegenmacht, vor allem die Gewerkschaften, wurden institutionell geschwächt und domestiziert.

Diese Entwicklungen scheinen inzwischen einen neuen kapitalistischen Akkumulationstyp hervorgebracht zu haben. Allerdings ist durchaus zweifelhaft, ob es sich dabei um eine nachhaltige und globale Entwicklung handelt, und es ist vor allem unklar, wie stabil diese neue Variante des Kapitalismus ist. Dieser Frage ist Z 73 im doppelten Marx-Gedenkjahr 2008 – 190. Geburtstag am 5. Mai und 125. Todestag am 14. März – gewidmet.

Karl Georg Zinn zeigt in einem Vergleich der klassischen Länder der ‚Triade’, dass es trotz des scheinbar weltweiten Siegeszugs der neoliberalen ‚Reformen’ und trotz gewisser globalisierter Strukturen im Kernbereich des Kapitalismus, bei den Verteilungsverhältnissen, weiterhin markante Unterschiede gibt. Den Kapitalismus in den USA trennen Welten vom skandinavischen Kapitalismus. Historisch verankerte Einstellungen und Kulturen scheinen für die konkrete Ausprägung der kapitalistischen Produktionsweise, den Akkumulationstyp, wichtiger zu sein als eher kurzfristige politische Orientierungen.

Einen etwas anderen Ansatz stellt Thomas Sablowski vor. Ausgehend vom Konzept der Regulationstheorie skizziert er die wichtigsten Merkmale des postfordistischen Akkumulationsmodells. In den Kernländern des Kapitals sind demnach eine anhaltende Akkumulationsschwäche im industriellen Sektor und eine ‚Finanzialisierung’ der Akkumulation mit Schwerpunkt im Bereich des fiktiven Kapitals kennzeichnend. Gleichzeitig sucht und findet das Kapital neue Anlagesphären in den Märkten der aufstrebenden Peripherie. Dieses finanzdominierte und globalisierende Akkumulationsregime ist, so die These, wesentlich instabiler als die vorangegangene Periode des Fordismus.

Auch für Joachim Bischoff ist die Dominanz des Finanzkapitals das zentrale Merkmal des heutigen Kapitalismus. Er unterstreicht, wie auch die anderen Autoren, die relative Labilität der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer neuen Ausprägung. Diese Labilität hat verschiedene Facetten. Dazu gehört die von Sablowski und Bischoff behandelte Neigung zur Bildung von spekulativer Überakkumulation und dadurch bedingter Krisenanfälligkeit. Dazu gehören aber auch die mit der näher rückenden Erschöpfung bestimmter natürlicher Ressourcen aufscheinenden ‚Grenzen des Wachstums’. Daniel Buck insistiert darauf, dass dem Kapital als sich bewegendem Wert die Gebrauchswerteigenschaft der von ihm zwecks Profitmacherei mobilisierten ‚natürlichen’ Ressourcen völlig gleichgültig sei. Ob die Antriebsenergie tierischer Natur ist oder auf fossilen Rohstoffen basiert, sei ohne Belang. Der Kapitalismus würde jedenfalls an der Erschöpfung bestimmter Ressourcen wie dem Erdölkeineswegs zugrunde gehen. Dies will Buck allerdings nicht als Plädoyer für eine naive, technikoptimistische Position verstanden wissen: Ökologische Katastrophen und einschneidende Wohlstandsverluste seien durchaus möglich, bedeuteten aber für sich genommen keineswegs das Ende des Kapitalismus. Während Buck ein gewaltsames Verhältnis zwischen Mensch und Natur bloß andeutet, befasst sich Karl Hermann Tjaden ausführlich mit dieser Gegenübersetzung. Er kennzeichnet die Dichotomie im Mensch-Natur-Verhältnis, deutlich gemacht am Verhältnis Mensch-Tier, als fiktional, als durch die kapitalistische Produktionsweise erzeugt. Die Gewaltsamkeit mit der die Produktionsweise die Natur behandelt, reproduziert sich in der Behandlung der Menschen.

Der Kapitalismus des beginnenden 21. Jahrhunderts ist durch die internationale Dominanz der USA geprägt. Stehen wir vor einem zweiten „amerikanischen“ Jahrhundert? Diese Frage wirft Norman Paech in seinem Beitrag „Empire oder (Neo)Imperialismus?“ auf. Anhand der so genannten „Neuen Kriege“, wie sie spätestens seit dem 11. September 2001 zur „Normalität“ der kapitalistischen Zentralmächte gehören, untersucht Paech globale ökonomische und geostrategische Interessenstrukturen, die sich in vielem stringenter mit einer aktualisierten Imperialismustheorie deuten lassen als mit dem Hardt/Negrischen „Empire“-Ansatz. Zwar sind die USA die zentrale Macht der imperialen Politik, doch hat der Kapitalismus der Gegenwart eine solche Form der internationalen Verflechtung angenommen, dass die USA bei der „Rekolonisierung“ der Welt nicht auf die Unterstützung ihrer Verbündeten verzichten können.

Dass die oben skizzierten Veränderungen im Kapitalismus auch Konsequenzen für die Beziehungen zwischen den Staaten haben, zeigt David Salomon. Er macht auf wichtige Veränderungen imperialistischer Herrschaftsmerkmale aufmerksam. Derzeit ginge es weniger um die Konkurrenz zwischen Nationalstaaten als vielmehr um die supranationale Verankerung und Verrechtlichung bestimmter kapitalistischer Verfügungsweisen. Das ‚Einheitsdenken’ realisiert sich demnach nicht nur über hegemoniale Verhältnisse in den einzelnen Ländern, sondern wird auch über neue, supranationale imperialistische Rechtsverhältnisse transportiert.

Instabilität der heutigen Kapitalismusvariante zeigt sich auch in der Erosion der politischen Akzeptanz durch die Mehrheit der Bevölkerung. Selbst in den Kernländern des Kapitalismus, in denen es in den letzten zwanzig Jahren gelungen war, alle großen politischen Strömungen auf das neoliberale Modell einzuschwören, sind ernste Erosionsprozesse des ‚Einheitsdenkens’ festzustellen. In Deutschland scheint sich, wie Georg Fülberth in seinem das Heft einleitenden Kommentarzeigt, eine dezidiert linke Partei im politischen Spektrum zu etablieren, mit großem Druckpotential auf die gesamte politische Struktur. Handlungsmöglichkeiten die marxistische Linke unter den Bedingungen der heutigen Veränderungen im Kapitalismus sind das Thema des Beitrags von Ekkehard Lieberam. Er bezieht sich auf die programmatischen Entwürfe und Diskussionen, wie sie in der LINKEN und der DKP geführt werden. Deren Aussagen konfrontiert Lieberam mit seiner Analyse kapitalistischer Entwicklungstendenzen und den daraus erwachsenden sozialen und politischen Kräfteverhältnissen. Dreh- und Angelpunkt bleibt für ihn dabei die Eigentumsfrage, um das Ziel der Systemtransformation nicht aus dem Blick zu verlieren.

Marx-Engels-Forschung: Ingo Stützle erinnert daran, dass Marx 1857/1858, also vor 150 Jahren, die „Grundrisse er Kritik der Politischen Ökonomie“ schrieb. Er charakterisiert sie als „Marx‘ innerer Monolog“ und stellt verschiedene Lesarten vor. Jürgen Leibiger verweist auf die Aktualität der Marxschen Theorie der industriellen Reserverarmee im Kontext der heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion um Ursachen von Arbeitslosigkeit und Grenzen der Wirksamkeit von Lohn-, Geld- und Finanzpolitik. Helmut Knolle behandelt den Zusammenhang von fallender Profitrate und Transformationsproblem.

Weitere Beiträge: Mit zentralen Begriffen der Dialektik- und Widerspiegelungskonzeption, die Hans Heinz Holz in „Weltentwurf und Reflexion“ entwickelt, setzt sich Thomas Collmer auseinander, ein – wie Collmer formuliert – „hervorragendes, streckenweise großartiges Buch“, das ernsthafte Rezeption verlange. Matthias Ebenau schildert die Auseinandersetzung in Costa Rica um ein von den USA gefordertes Freihandelsabkommen, welche die Zukunftsfähigkeit des neoliberalen Freihandelsdogmas in Lateinamerika in Frage stellt. Über „Regionalismus und die Linke in Spanien“ gibt Armando Fernandez Steinko Auskunft in einem Gespräch mit Patrick Eser.

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Aus der Redaktion: Reinhard Schweicher und Wolfram Burkhardt, beide langjährige Z-Redakteure, mussten bedauerlicherweise aus der aktiven Redaktionsarbeit ausscheiden. Beiden ist für ihr bisheriges Engagement herzlich zu danken, beide bleiben der Redaktion und der Zeitschrift weiter beratend verbunden.

Die allgemeine Kostensteigerung zwingt uns nach sechs Jahren zu einer leichten Preisanhebung (sh. Impressum; der Abo-Preis erhöht sich von 32.- auf 33.50 Euro). Damit werden nicht alle Zusatzkosten aufgefangen. Daher bitten wir um zusätzliche Abos.

Z 74 (Juni 2008) wird u.a. Bildungsprobleme und Rückblicke auf die sechziger Jahre thematisieren.