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Rückkehr zur narrativen Geschichtsschreibung?

Richard Evans opus magnum "Das Dritte Reich"

September 2010

Richard Evans (*1947), Professor für moderne Geschichte an der Cambridge-University, hat zwischen 2003 und 2008 bei Allen Lane/Penguin Group in London ein umfangreiches Werk unter dem Titel „Das Dritte Reich“[1] vorgelegt, das schon 2009, ein Jahr nach der englischen Ausgabe, komplett in deutscher Sprache vorlag und von der hiesigen Kritik sehr positiv aufgenommen worden ist. Der erste Band behandelt, wie die Nazis an die Macht kamen und wie es ihnen in kurzer Zeit und anscheinend gegen nur geringen Widerstand gelang, ihre Diktatur zu errichten. Der zweite Band stellt die wichtigsten Institutionen des „Dritten Reiches“ und ihre Funktionsweise vor, er beschreibt, wie die Menschen unter ihnen lebten, und schildert, wie das Regime die Bevölkerung auf den von Anfang an angepeilten Krieg vorbereitete, der Deutschland erneut als Führungsmacht Europas etablieren sollte. Der dritte Band beschreibt das kriegführende Deutschland.

Evans wendet sich weniger an Sachkenner der Geschichte des deutschen Faschismus als vielmehr an Leser, die nichts oder wenig von dem Thema wissen. Sie will er informieren, auf ihre Fragen will er antworten. Mit dem Blick auf diese Leser bricht der Autor eine Lanze für eine erzählende Darstellung, die er seit den 1970er Jahren zugunsten geschichtlicher Analysen verdrängt sieht. Natürlich hofft er, „daß auch die Fachleute etwas für sie Interessantes darin entdecken werden“ (I/19) und erwartet ihre Kritik.

Zur erzählenden Darstellung gehört für Evans auch, „das Erleben individueller Menschen nachzuerzählen“. Dies biete den Vorteil, die Schwierigkeiten und die Undurchsichtigkeit von Situationen, mit denen die Zeitgenossen konfrontiert waren, und auch die Komplexität ihrer Entscheidungen deutlich zu machen. Daher bezieht Evans das in Briefen oder Tagebüchern niedergeschriebene Erleben von Personen recht umfänglich in seine eigenen Beschreibungen ein. Er wählt dazu immer dieselben Zeitgenossen, deren individuelles Erleben so typisiert wird. Er hofft, daß diese Zeugnisse dem beschriebenen Geschehen alltags- und mentalitätsgeschichtlich Authentizität verleihen.

Genese

Im ersten Band geht es um die Genese des „Dritten Reiches“. Evans holt weit aus und beginnt mit der Reichsgründung 1871, fortgesetzt über Bismarck, den ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik beleuchtet er selektiv Ereignisse und Prozesse, die den Aufstieg der Nazibewegung in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg begünstigten. Kern der Darstellung sind die Etappen der Einsetzung und der vollen Durchsetzung des Naziregimes vom Sommer 1932 bis zum Sommer 1933. Zwei Probleme werden hier akzentuiert: die terroristische Durchsetzung der Macht, einschließlich der „Gleichschaltung“ und die Illusionen und Schwächen der Deutschnationalen, die gedacht hatten, die Nazis einbinden und Hitler an die Wand drücken zu können.

Evans arbeitet die zentrale Rolle terroristischer Gewalt für die „nationale Revolution“ im ersten Halbjahr 1933 heraus. Allerdings widerspricht seine Interpretation, dieser Terror sei Selbstzweck gewesen, der eigenen Darstellung der Funktionen des Terrors. Hinsichtlich des Reichstagsbrandes übernimmt er von Hans Mommsen die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes, ohne die Kritiker und die längst erfolgte Widerlegung dieser Zweckkonstruktion zu erwähnen. Die Darstellung der Wirtschaftspolitik, der Arbeiter- und Sozialpolitik und der Außenpolitik bleiben dürftig, die innenpolitischen Wirkungen der außenpolitischen Erfolge Hitlers kommen nicht zur Sprache.

Evans Darstellung der Machtübertragung an die Hitlerregierung und des Auf- und Ausbaus der Nazidiktatur ist von einem ehrlichen Antifaschismus getragen. Seine Beschreibung der Politik der Sozialdemokratie ist von Sympathie gezeichnet, während antikommunistische Affekte die Darstellung beeinträchtigen. Die Schwäche seiner theoretischen Erklärungen wird an Evans Kritik des Marxismus deutlich. Sie ist von Unkenntnis und Nichtbegreifen getragen. Zwar weist er dessen Abweisung als bloße Propaganda zurück und bescheinigt marxistischen Historikern und Politologen erheblichen Scharfsinn und gehaltvolle wissenschaftliche Arbeiten zum deutschen Faschismus. Doch als „Gesamterklärung des Nationalsozialismus“, meint er, lasse der Marxismus mit seiner Lehre vom Klassenkampf viele Fragen offen. Es ist, schreibt er, „schwer zu sehen, wie man das Phänomen des Nationalsozialismus auf das Ergebnis eines Klassenkampfes gegen das Proletariat oder den Versuch der Erhaltung des kapitalistischen Systems reduzieren konnte“. Zudem unterstellt er Marxisten, den deutschen Faschismus als „das unabwendbare Resultat aus dem Aufkommen des imperialistischen Monopolkapitalismus“ anzusehen. Doch warum hätten Marxisten den Faschismus bekämpfen sollen, wenn sie ihn für unabwendbar gehalten hätten? Zeitgeistkonform wirft er der marxistischen Lehre vor: „Sie sah über den rassistischen und antisemitischen Kern der nationalsozialistischen Ideologie mehr oder weniger hinweg und vermochte erst recht nicht zu erklären, warum die Nationalsozialisten nicht nur in ihrer Rhetorik, sondern auch in der Realität einen so abgrundtiefen Haß gegen die Juden entwickelten.“ (I/23)

Von der Totalitarismusdoktrin hält Evans nicht viel. Er räumt ein, sie könne als eine nützliche Hilfestellung dienen, um zu verstehen, wie Diktaturen agierten, wenn sie an der Macht waren, doch nicht erklären, wie sie entstünden. Wie immer die Ähnlichkeiten zwischen politischen Systemen bestellt sein mögen, die Unterschiedlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus hinsichtlich der Faktoren, die Ursprünge, Aufstieg und Siegeszug bewirkten, seien zu eklatant, als daß der Begriff hier viel erklären könne. Er tauge mehr zur Beschreibung.

Terror und Kriegsvorbereitung

Der zweite Band „Diktatur“, der die Zeit vom Sommer 1933 bis zum Ende des Krieges gegen Polen im September 1939 umfaßt, ist wegen seines Umfangs in zwei Halbbände geteilt, die nicht nach Zeitphasen, sondern nach sieben Sachkomplexen gegliedert sind: „Der Polizeistaat“, „Geistige Mobilisierung“, „Bekehrung der Seele“, „Wohlstand und Korruption“, „Aufbau der Volksgemeinschaft“, „Auf der Suche nach der rassischen Utopie“ und „Der Weg in den Krieg“. Evans beschreibt die Institutionen und ihre Tätigkeit, und er versteht es ausgezeichnet, jeweils solche Details auszuwählen, die für den behandelten Zusammenhang signifikant sind und das ganze Feld schlaglichtartig beleuchten.

Unter dem Titel „Der Polizeistaat“ werden im ersten Kapitel des zweiten Bandes Struktur und Instrumente des Terrorismus recht ausführlich vorgestellt. Evans geht von der sozialen Funktion der Gewalt für die Konstituierung und Reproduktion der SA aus, die mit ihrer Funktion der Unterdrückung, Einschüchterung und Ausschaltung der politischen Gegner einhergeht, und behandelt nach der „Nacht der langen Messer“ den Aufstieg der SS und Heydrichs. Er untersucht die Entwicklung der Konzentrationslager hinsichtlich der Häftlingszusammensetzung und deren Veränderung und widmet auch den politischen Justizhäftlingen große Aufmerksamkeit. Konstitutiv ist für ihn der Zusammenhang von Unterdrückung und Widerstand, wobei er vorrangig den Widerstand der Kommunisten und eingeschränkt der Sozialdemokraten im Auge hat. Aber er beschreibt den Widerstand unter der Optik seiner Zerschlagung und in der Sprache der Quellen seiner Verfolger. Die Gestapo wird als Spinne im Netz des Terrorsystems veranschaulicht. Kaum zehn Prozent der Fälle, mit denen sie sich befaßte, gingen auf ihre eigenen Ermittlungen zurück, die anderen 90 Prozent auf andere Behörden und auf Denunziationen. Ausdrücklich hebt Evans die Angst als Produkt des Terrors im Leben der Menschen hervor.

Um die alltäglichen Lebenssituationen anschaulich zu machen, wählte sich Evans ein halbes Dutzend Zeitgenossen, die Tagebuch geführt oder Memoiren verfaßt haben, als Kronzeugen. Die am häufigsten zitierten sind der verfolgte jüdische Romanist Victor Klemperer, die mit einem Juden verheirate Hamburgerin Luise Solmitz und die BdM-Führerin Melitta Maschmann. Auch Zitate aus Albert Speers Memoiren finden oft Eingang. Evans Bestreben, das Erleben damaliger Menschen anhand ihrer Zeugnisse manifest zu machen, läßt fragen, warum diesen wenigen Zeugen der Rang einer Quelle und zeugnishafter Autorität verliehen wird, wo sie doch sozial keineswegs repräsentativ sind und ihr Zeugnis mit Ausnahme von Klemperer keine besondere Urteilsfähigkeit ausweist. Welches Kriterium regiert hier die Auswahl, wenn nicht der Zufall? Evans gibt keine Antwort auf die Frage: Wie repräsentativ sind diese Kronzeugen für wen? Und wie repräsentativ sind ihre Zeugnisse? Vom jüdischen Deutschnationalen über antinazistische Bürger bis zu ausgesprochenen Funktionären von Naziorganisationen handelt es sich durchweg um Menschen aus bürgerlichen Schichten. Der Autor reflektiert nicht einmal darüber, warum keine solchen Schriftzeugnisse von Arbeitern vorliegen. Von ausländischen Autoren werden vor allem der US-amerikanische Journalist William S. Shirer und der polnische Arzt Zygmunt Klukowski als Zeitzeugen herangezogen.

Welche Funktion soll das Zitieren aus Tagebüchern immer derselben Personen erfüllen? Für Evans verwandeln sich deren Aussagen, die in einer Reflexion zur Mentalitätsgeschichte ihren Platz haben mögen, in alltagsgeschichtliche Faktenaussagen über Wahrnehmungen, Stimmungen, Einstellungen und Sachverhalte. Doch welche Funktion können diese Aussagen erfüllen, wenn weder geklärt wird, in welcher Beziehung die zitierten Personen zu dem in Rede stehenden Sachverhalt standen bzw. ob sie überhaupt urteilsfähig waren. Häufig wirken diese Zitateinschübe aufgesetzt, je häufiger sie wiederholt werden, desto weniger überzeugen sie, zumal der Autor selbst die Sachverhalte einfach besser beschreiben kann.

Das Kapitel „geistige Mobilisierung“ handelt von der Tätigkeit des Goebbels-Ministeriums und seiner Organe. Über die Mobilisierung der Kulturschaffenden erfahren wir anhand aller sieben Kammern der Reichskulturkammer viele Details, jedes Gebiet wird einzeln vorgestellt, die Musik mehr als die Literatur.

In einem Kapitel „Bekehrung der Seele“ widmet sich Evans der Kirchenpolitik der Nazis und der Entwicklung beider Großkirchen. Ein interessanter Teil besteht hier in der Dokumentation, wie weit die Deutschen Christen in Glaubensfragen die reformatorische Tradition aufgaben, um das Alte Testament loszuwerden und das Ärgernis zu überspielen, daß ihr Christus ein Jude war. Ausführlicher noch widmet Evans sich der Politik gegenüber der katholischen Kirche, wobei er deren Verfolgung überhöht. Einen Schwerpunkt bildet der Anspruch der Nazis auf das Monopol der Jugenderziehung und der Widerstand katholischer Jugend- und Gesellenvereine gegen diesen Anspruch. Was er in diesem Zusammenhang über den Widerspruch zwischen den Losungen der bald verstaatlichten Hitlerjugend („Jugend wird von Jugend geführt!“) und ihrer eigenen Praxis ausführt, ist bemerkenswert. Die beliebten Kennzeichnungen des Nationalsozialismus als Religion, Ersatzreligion oder politische Religion hält Evans für irrelevant, dafür sei die Weltanschauung der Nazis zu inkohärent gewesen.

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Nazis handelt der Autor recht bescheiden und noch dazu unter dem Titel „Wohlstand und Korruption“ ab. Schwerpunkte sind die „Arbeitsschlacht“, sprich die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, sowie die Verteilung der Beute bei der „Arisierung“. Hinsichtlich der Wirtschaftspolitik geht Evans davon aus, daß eine massive Staatsintervention die Wirtschaft dominiert habe und die Prioritäten vom Regime und nicht von der Industrie gesetzt wurden. „Die Wirtschaft“ habe Hitler erst unterstützt, als er zum Reichskanzler ernannt worden war. Wie wenig Evans jedoch das Verhältnis von Politik und Ökonomik bei der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung begriffen hat, offenbart ein signifikantes Beispiel: Er ist tatsächlich der Meinung, das Regime habe der IG Farbenindustrie die teure Kohlenstoffsynthese aufgezwungen, während die historische Wirklichkeit gerade umgekehrt ablief: Die IG Farben ließen sich von Hitler zusichern, das teure Verfahren staatlich zu fördern und später entsprechende Mengen Benzin zu kaufen.

Was die pseudoegalitären Maßnahmen zur Herstellung einer „Volksgemeinschaft“ bewirkten und wie die einzelnen sozialen Klassen sich tatsächlich entwickelten, beschreibt Evans am Beispiel des Adels, der Bauern, der städtischen Mittelschichten, der Intelligenz und der Arbeiter. Die mit dem so genannten Erbhofgesetz beseitigte Erbteilung der Höfe führte zu sozialen Spannungen in den betroffenen Bauernfamilien und somit zum Gegenteil des Zwecks. Aber insgesamt, so meint der Autor, veränderten sich die sozialen Strukturen der Dorfgemeinschaften kaum. Die Aufrüstung begünstigte die Großunternehmen. Alle Versprechungen der Nazis, die Handwerker und die kleinen Geschäftsleute zu retten, erwiesen sich als leer. 1939 hatte z.B. der Umsatz des Handwerks den Stand von 1926 noch nicht wieder erreicht. Nicht nur Handwerker und Ladenbesitzer, auch Büroangestellte und Gehaltsempfänger hofften auf Verbesserungen ihres Lebens und ihres Status. Evans charakterisiert die mentalen Reaktionen auf die sozialpolitische Entwicklung als „Ernüchterung“ und schreibt dieser einen hohen Stellenwert zu. Doch die Ernüchterung führte nicht zum Widerstand und beendete auch nicht den mit Illusionen erkauften Konformismus der bürgerlichen Schichten.

Das Proletariat, schreibt Evans, wurde gezähmt. Zusammenhalt und Moral der Arbeiter waren durch die Massenarbeitslosigkeit in der Wirtschaftskrise untergraben. Von der DAF, die nach der Zerschlagung der Gewerkschaften die Arbeiter auffangen sollte, meint Evans, sie sei unter dem programmatischen Einfluß des NSBO-Führers Reinhold Muchow eine Art Übergewerkschaft geworden, „die vor allem die Interessen der Arbeiter vertrat“. (II/558) Dies aber trifft nicht einmal für eine Übergangsphase zu. Bekanntlich wählte der Nazifaschismus hinsichtlich der Arbeiter nicht die italienische Variante der Syndikate, sondern zerschlug alle an den Interessen von Arbeitern orientierten Ansätze vollständig. Der riesige Apparat der DAF konnte auch mit den Veranstaltungen der KdF, die der Autor als Ersatz für echte soziale Verbesserungen ausführlich vorstellt, die „Klassenressentiments“ der Arbeiter nicht überwinden, sondern schürte sie noch – nicht zuletzt durch die Korruption, die er verkörperte, und der er erlag. Die Arbeiterschaft wurde im Zuge der Rüstungskonjunktur rasch atomisiert. Die sozialen Verheißungen und die soziale Wirklichkeit aber klafften nirgends so kraß auseinander wie beim Millionenheer der Wohlfahrts- und Sozialempfänger und den Adressaten der Not- und Hilfsmaßnahmen

Der Angriff der Nazipropagandisten auf die öffentlich sichtbaren Bollwerke sozialer Privilegien war nicht nur Demagogie. Die egalitäre Rhetorik, die verbalen Attacken gegen die reaktionäre Natur der Klassendiskriminierung änderte in der Praxis jedoch höchstens die Sichtbarkeit von Klassenunterschieden, so wie die Uniform sie egalisierte und zugleich die Rangunterschiede vertiefte. Evans Diagnose einer großen „Ernüchterung“ führt ihn zu dem Resümee: „Die Deutschen waren bis 1939 nicht alle zu fanatischen Nazis geworden, doch der tiefe Wunsch der großen Mehrheit nach Ordnung, Sicherheit, einem Arbeitsplatz, der Möglichkeit einer Verbesserung des eigenen Lebensstandards und eines beruflichen Fortkommens (…) war weitgehend erfüllt, und das reichte aus, ihre Einwilligung zu gewährleisten.“ (II/601)

Im Unterkapitel über die antijüdische Politik und im Kapitel über die Aggressionen gegen Österreich und die Tschechoslowakei folgt der Autor der Chronologie und skizziert so hinsichtlich der auf Vertreibung der Juden zielenden Diskriminierung und Unterdrückung deren Stufen und Wechselfälle, je nach politischer Situation. Aber der historische Zusammenhang der Radikalisierung der antijüdischen Maßnahmen mit den Schritten auf dem Kurs auf baldige Kriegsentfesselung bleibt dennoch unterbelichtet.

Sehr anschaulich ist sein Kapitel „Auf der Suche nach der rassischen Utopie“, in dem Evans die „rassenhygienischen Maßnahmen“ ausgehend vom „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ über die Nürnberger Gesetze einerseits, die Verfolgung der Juden andererseits daraufhin abklopft, welche Konsequenzen sie ganz praktisch für die betroffenen Menschen hatten. Wie Erbgesundheits- und Berufungsgerichte arbeiteten, wer antragsberechtigt und wer entscheidungsbefugt war und welche Berufsgruppen welche Aufgaben dabei erledigten, das ist so konkret in den Köpfen der meisten Leser kaum präsent und noch weniger, wie, unter welchen situativen Determinanten und mit welchen Gewohnheiten deutsche Amtsärzte über Gesundheit und Leben entschieden, insbesondere wenn es sich bei den Opfern um unfreie Menschen wie Gefängnisinsassen, um rassisch Verfolgte oder psychisch Kranke handelte. Der Autor stellt die Anwendung „rassenhygienischer“ Prinzipien in den internationalen Kontext, um die Spezifik der Nazipraxis hervorzuheben.

Die faschistische Diktatur im Krieg

Der dritte Band „Krieg“ ist mit rund 1150 Seiten der umfangsreichste. Evans gliedert sein Material in sieben Kapitel: „Tiere in Menschengestalt“, „Kriegsglück“, „Endlösung“, „Die Neuordnung Europas“, „Der Anfang vom Ende“, „Deutsche Ethik“ und „Der Untergang“. Sie folgen nur zum Teil der Chronologie des Kriegsverlaufs. Auch wenn der Band „Krieg“ heißt, stehen nicht die Operationen der Kriegführung und die strategischen Zielsetzungen der Kriegsgegner im Mittelpunkt, sondern das „Dritte Reich“ im Krieg. Die führenden Generale werden mit ausführlichen Biographien vorgestellt. Auch in diesem Band setzt Evans die systematische Einbeziehung privater Quellen wie Briefe und Tagebücher fort. Über das Kriegsende hinaus skizziert er das Nachkriegsschicksal faschistischer Täter als auch das jener Tagebuchschreiber, deren Zeugnisse er laufend zitiert.

Wie in den ersten zwei Bändern stützt sich Evans nicht auf eigene Archivstudien, sondern auf die deutsche und englische Literatur und ausländische Autoren, z.B. polnische, soweit sie ins Englische übersetzt sind. Damit übernimmt er manche Fehleinschätzungen dieser Autoren, z.B. über die Rolle des Arbeiterwiderstandes, über das Verhältnis der kommunistischen KZ-Häftlinge zur SS, den „Hitler-Stalin-Pakt“ und selbst Detailfehler wie „Torgau an der Mulde“. Sein Literaturverzeichnis umfaßt allein 50 Druckseiten. Mit den Sammlungen der Universitätsbibliothek Cambridge, der Wiener Library und des Germain Historical Institute in London standen ihm großartige Bestände zur Verfügung. Obwohl Evans einen Riesenberg an Literatur zugrundelegt, übernimmt er inhaltlich oft Positionen von Mainstream-Autoren – von der These über van der Lubbes Alleintäterschaft beim Reichstagsbrand bis zum „rassenideologischen Vernichtungskrieg“. Wichtige kritische Texte kannte Evans entweder nicht oder verwandte sie nicht.

Im ersten Kapitel „Tiere in Menschengestalt“ geht es um die nazistische Kriegführung und Besatzungspraxis in Polen. Evans beschreibt, wie unterschiedlich das kriegführende „Dritte Reich“ sich zu den Polen und den polnischen Juden verhielt. Bei der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei hätten strategische und wirtschaftliche Überlegungen die Hauptrolle gespielt, in Polen aber „waren Hitler und die Nationalsozialisten bereit und in der Lage, die ganze Wucht ihrer Rassenideologie zu entfesseln. Das besetzte Polen sollte das Versuchsgelände für die Schaffung der neuen Rassenordnung in Ostmitteleuropa werden, ein Modell für das, was Hitler anschließend mit der übrigen Region vorhatte“. (III/29). So richtig es ist, das okkupierte Polen als Experimentierfeld der Nazis zu benennen, so wenig gelingt es Evans, die tatsächlichen Determinanten, Widersprüche und die hier realisierten Interessen zu bestimmen, auch die Veränderungen der Okkupationspolitik unter dem Druck des Kriegsverlaufs fehlen, weil er sie allein als „schrankenlose Verwirklichung einer extremen NS-Ideologie“ sieht. (III/30) Damit bleiben aber auch jene Dimensionen dieser Politik, die hier erprobt und dann entsprechend auf die anderen besetzten Länder übertragen wurden, weder genau bestimmt noch erklärt. In dieses Kapitel packt Evans auch seine Darstellung der „Euthanasie“-Verbrechen.

Das zweite Kapitel „Kriegsglück“ berichtet sowohl vom Krieg gegen die Westmächte als auch vom Überfall auf die UdSSR bis zur Winterschlacht vor Moskau Ende 1941, als die Rote Armee der Wehrmacht die erste strategische Niederlage beibrachte. Hitler interpretierte das Scheitern des Attentats von Georg Elser am 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller als „Werk der Vorsehung“ und schrieb derselben „Vorsehung“ den Sieg über Frankreich zu. Evans beschreibt das Attentat so ausführlich wie den Rüstungsstand und die Feldzüge gegen Dänemark und Norwegen sowie die Benelux-Staaten und Frankreich 1940. Wie später über den Bombenkrieg sind in diesem Kapitel ausgedehnte Passagen nur aus der britischen Geschichte bzw. Tradition zu erklären. Letztere gibt auch den ausführlichen Beschreibungen der Feldzüge auf dem Balkan ihr Gewicht. Ausführliche biographische Partien über Politiker, hier Churchill, bzw. Militärs anstelle von Erklärungen sind aber wohl weniger britischen Traditionen der Geschichtsschreibung als dem Konzept des Verfassers zuzuschreiben. So wie Evans Faschismusauffassung stark mentalitätsgeschichtlich die faschistischen Exzeßverbrechen mit Vorliebe aus Haß und Mordlust „erklärt“, so scheint der Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 trotz des vorherigen Scheiterns der Luftangriffe auf Großbritannien, das Evans als erste Kriegsniederlage stark unterstreicht, dem „krankhaften Ehrgeiz“ des Diktators geschuldet.

Das dritte Kapitel „Endlösung“ beginnt mit der Schilderung des Völkermords an den Juden durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD im Sommer 1941 in der Sowjetunion. Wie im ganzen Werk geht es dem Autor auch hier um die Geschichte als Geschichte von Männern, deren Handeln aus ihrem Fühlen erklärt wird. Für seine Darstellung hat dieses Herangehen die Konsequenz, vor allem handelnde Personen zu beschreiben, angefangen bei den Massenmördern der Einsatzgruppen. Evans rekonstruiert den Entscheidungsprozeß innerhalb der faschistischen Führung über den Übergang zum Völkermord und diskutiert die verschiedenen Hypothesen. Er kommt zu dem Schluß, die für ein konkretes Datum, an dem Hitler die Vernichtung befohlen habe, gebrachten Belege seien nicht überzeugend. Ungeachtet dessen bilanziert er zu Recht, daß das Vernichtungsprogramm vom Zentrum des Reiches aus gelenkt und wiederholt vorangetrieben wurde. „Es gab nicht die eine, wegweisende Entscheidung, die in einer rationalistischen, bürokratischen Weise in die Praxis umgesetzt worden wäre; das Vernichtungsprogramm entwickelte sich vielmehr in einem mehrere Monate währenden Prozeß, in dessen Verlauf die NS-Propaganda eine völkermörderische Mentalität erzeugte, die Himmler und andere Parteiführer dazu anspornte, die Vernichtung der Juden in immer größerem Maßstab voranzutreiben.“ (III/403)

Evans wendet sich gegen den Terminus „industrialisierter“ Massenmord für die Massenvernichtungsstätten, weil damit der Eindruck erweckt werde, der Betrieb sei automatisch oder unpersönlich erfolgt: „Männer wie Höß oder Stangl und ihre Untergebenen versuchten, sich von der menschlichen Dimension dessen, was sie taten, zu distanzieren, indem sie ihre Opfer als ‚Waren’ und ‚Sachen’ bezeichneten“. (III/400) Die Politik der Vernichtung der europäischen Juden ist allerdings nicht nur Gegenstand dieses Kapitels. Judenverfolgung und Vernichtung werden in allen Kapiteln abgehandelt und bilden in jedem den Angelpunkt der Darstellung, auch dort, wo sie es historisch nicht waren, was zu argen Disproportionen des Bandes beiträgt.

Obwohl das vierte Kapitel eigens der nazistischen Okkupationspolitik und -herrschaft gewidmet ist, wird dieser Gegenstand recht dürftig behandelt. Evans leitet es mit einem Teil „Kriegswirtschaft“ ein, die er als eine „kapitalistische, vom privaten Unternehmertum beherrschte Wirtschaft“ (III/435) kennzeichnet. Doch bleibt die Kriegswirtschaft ziemlich am Rande. Die Steigerung der Rüstungsgüterfertigung unter Speer und die enorme Belastung der deutschen Volkswirtschaft interessieren den Autor. „Die Verantwortlichen des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes setzten auf modernste Technik zum Nachteil einer kostensparenden Massenproduktion, und es gab einen fortwährenden Hickhack zwischen Heer, Marine und Luftwaffe, die bei der Verteilung der Ressourcen mit jeweils plausiblen Gründen für sich beanspruchten, daß ihre Wünsche mit Priorität behandelt wurden. Komplizierte Waffensysteme brachten der Rüstung höhere Profite ein als die vergleichsweise billige Massenproduktion.“ (III/413) Wie es Speer jedoch nach 1942 gelang, die Rüstungsproduktion gerade mit Hilfe der führenden Industriellen zu rationalisieren und zu steigern, also das „System Speer“, erklärt Evans nicht ausreichend. Dafür gibt er Speers gläubiger Mentalität und seiner Beziehung zu Hitler Raum.

Die Idee einer „Neuordnung“ Europas nennt Evans eine grandiose Vision „einer umfassenden paneuropäischen Wirtschaft, die den Kontinent als einen einzigen Block gegen die gigantischen Wirtschaften der USA und Großbritanniens mobilisieren würde“. (III/426) Doch die rigorose Ausbeutung der Ressourcen aller besetzten Länder für die deutsche Kriegführung ist kein Gegenstand, genauso wenig wie die Okkupationspolitik insgesamt. Interessen kommen in der Herrschaftspraxis über die Völker der besetzten Länder und die Massenverbrechen an ihnen kaum vor, obwohl Evans die Leiden der Zivilbevölkerung, der Kriegsgefangenen und der Ausgebombten beschreibt. Den Widerstand gegen und die Kollaboration mit der Okkupationsmacht beschreibt er allenfalls en passant, die Verbrechen der „Bandenbekämpfung“ nicht. Wohl aber widmet Evans der Rekrutierung und Deportation von Millionen Zwangsarbeitern nach Deutschland ein eigenes Unterkapitel und fragt danach, wieweit die Unternehmen von der Beschäftigung mit Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen profitierten. Bis 1943, so meint er, dürfte sich deren Einsatz trotz ihrer niedrigen Produktivität für die deutschen Rüstungsfirmen gelohnt haben, danach wären sie vor allem bei staatlichen Bauvorhaben eingesetzt worden – die Daten der Wirtschaftsgeschichte sprechen eine andere Sprache. Seiner Konzeption folgend akzentuiert der britische Historiker auch hier zunächst Sauckel, bevor er die Behandlung der ausländischen Zwangsarbeiter als „nicht besser als die Schweine“ beschreibt. Dem vierten Kapitel ist auch der Gegenstand „Totaler Krieg“ zugeordnet, das erscheint deplaziert. Das fünfte Kapitel beleuchtet die Situation während der Niederlage in Stalingrad sowie danach im Jahre 1943, einschließlich der „Heimatfront“.

Das sechste Kapitel, in der deutschen Fassung irreführend „Deutsche Ethik“ überschrieben – in der englischen „German morality“ – bündelt recht heterogene Gegenstände, die Stimmungen der deutschen Bevölkerung, das kulturelle Leben, den Widerstand, extra den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944. Evans Versuch, die deutsche Gesellschaft im Kriege zu beschreiben, enthält eindrucksvolle Passagen, doch fällt er auseinander, weil seine mentalitätsgeschichtlichen und biographischen Ansätze gerade für diesen Gegenstand nicht ausreichen und auch nicht zueinander kommen.

Im abschließenden siebten Kapitel „Der Untergang“ (englisch: downfall), das die militärische Niederlage und die Eroberung des Deutschen Reiches beschreibt, räumt Evans den individuellen Aktionen der Nazigrößen in den letzten Tagen des „Dritten Reiches“ viel Platz ein. Er endet aber nicht mit der Kapitulation vom 8. Mai 1945, sondern gibt einen Ausblick auf die juristische Ahndung eines kleinen Teils der Naziverbrechen und auf die Nachkriegskarrieren nicht weniger der in den drei Bänden behandelten Personen.

Fazit

Evans „Das Dritte Reich“ ist ein großer Wurf eines bürgerlichen Historikers, der auch in deutscher Übersetzung gut lesbar ist und in den meisten seiner Aussagen überzeugt. Der Autor ist ein Meister geschichtlicher Erzählung, seine Beschreibungen sind anschaulich, lebendig und sprachlich klar. Doch diese Stärke ist zugleich die Wurzel seiner Schwächen. Methodisch kennzeichnet er sein Verfahren als Trias von Beschreibung, Analyse und Erklärung und vermeint, dies sei ohne Einbuße an analytischer Schärfe und Deutungskraft möglich. Doch das ist ein Irrtum, die Beschreibung überwuchert zwar die Erklärung, kann sie aber nicht ersetzen. So erfolgt seine Rückkehr zur narrativen Geschichtsschreibung auf Kosten der geschichtlichen Analyse und vor allem ihrer (theoretischen) Erklärung. Wegen der zentralen Rolle des Terrors erklärt er z.B. die Errichtung der faschistischen Diktatur zur Revolution. Da er ihr aber die Qualität einer „echten“ Revolution nicht zuschreiben mag, vor der Qualifizierung als Konterrevolution jedoch zurückscheut, weicht er hilflos auf eine „Revolution des Nihilismus“ aus, um dann den systematischen Ausbau der Diktatur als „Kulturrevolution“ zu apostrophieren.

Dabei erklärt sich Evans ausdrücklich gegen jede Vernachlässigung von Analysen und Erklärungen, wie er sie bei seinem Kollegen Michael Burleigh zugunsten eines moralischen Urteils gegeben sieht. „Seit den frühen neunziger Jahren haben moralisch, religiös oder rechtlich abgeleitete Begriff und Ansätze in die historische Auseinandersetzung ... Einzug gehalten“ (I/18). Das hält Evans in Werken der Geschichtsschreibung für deplaziert. Er will zwar klare moralische Urteile, aber kein moralisch geleitetes Herangehen an den Gegenstand. So schildert er präzise, wie verkommen das Regime und seine Träger waren und wie demoralisiert die deutsche Bevölkerung weniger durch den Bombenkrieg als durch das eigene Tun war. Andererseits geht er in einer entschuldigenden Wertung sehr weit.

Die Rückkehr zu einer narrativen Geschichtsschreibung versteht Evans als Alternative sowohl zum Marxismus als auch zur Auffassung der Geschichte als historischer Sozialwissenschaft, nicht aber zu einem genetischen Herangehen. Doch seine Präferierung von Alltags- und Mentalitätsgeschichte kommt ohne Anlehnung an den tradierten geisteswissenschaftlichen Historismus nicht aus. Evans stimmt den Aussagen von Ian Kershaw zu, will aber selbst ausdrücklich nicht einem biographischen Ansatz folgen, weil sich das „Dritte Reich“ nicht auf die Folgen reduzieren lasse, die Hitler wollte.

[1] Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Band I: Aufstieg. Aus dem Engl. von Holger Fliessbach und Udo Rennert, DVA, München 2004, 752 S., 69,90 €; Band II/1 und II/2: Diktatur. Aus dem Engl. von Udo Rennert, München 2006, 1083 S., 69,90 €; Band III: Krieg. Aus dem Engl. von Udo Rennert und Martin Pfeiffer, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009, 1151 S., 49.95 €.