Zum dreißigsten Jahrestag der Bundesrepublik fiel auf, dass es noch keine historische Monographie über sie gab. Zu den Ursachen gehörte der gesamtdeutsche Anspruch: Wenn deutsche Geschichte erst nach einer künftigen Wiedervereinigung erneut möglich war, war eine Teilgeschichtsschreibung – nämlich nur über die BRD – fast eine Kapitulation.
Erst Anfang der achtziger Jahre fand sich der Mut zu einer mehrbändigen Gesamtdarstellung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in fünf Bänden (bei Brockhaus und in der Deutschen Verlagsanstalt). Einer ihrer Herausgeber, Hans-Peter Schwarz, nannte den Grund: Die Entwicklung dieses Staates sei so „bekömmlich“ verlaufen, dass eine Gesamtdarstellung sich lohne.
An dieser Sicht hat sich ab 1990 nichts geändert. Inzwischen gibt es – jetzt schon in inflationärer Fülle – mehrere Deutsche Geschichten (von Eckart Conze, Manfred Görtemaker, Hans Karl Rupp, Hans-Ulrich Wehler), die den Anspruch erheben, Deutschland als Ganzes zu behandeln, dies aber letztlich doch nicht einlösen. Sie bleiben Darstellungen der Bundesrepublik Deutschland auch für die Jahre 1945 bis 1990. Sie sind ja ausschließlich von Westdeutschen geschrieben. (Jörg Roeslers Entwurf einer deutsch-deutschen Wirtschaftsgeschichte ist eine Ausnahme.) Die DDR ist dort nur eine lange Fußnote. Wehler begründet dies damit, dass die Bundesrepublik der alleinige Maßstab zu sein habe.
Für die DDR blieb eine Art Abdeckerei, betrieben von Opferverbänden, der Gauck/Birthler-Behörde und dem „Forschungsverbund SED-Diktatur“. (Auch hier gibt es eine Ausnahme: Die „Kleine Geschichte der DDR“ von Dietrich Staritz.) Diese Sieger-Geschichtsschreibung behält ebenfalls (auch wenn – unterrepräsentiert – Ostdeutsche dabei beteiligt sind) den Blick des Westens bei: die DDR als angebliches totalitäres Gegenbild der freiheitlichen alten und neuen Bundesrepublik. Inzwischen zeigt sich eine Problematik dieser Agitation und Propaganda: Bei einer Umfrage 2009 gaben mehr als die Hälfte der herangezogenen Ostdeutschen bekannt, dass sie mit dem untergegangenen Staat eher positive Erinnerungen verbinden. Der sich als zuständig betrachtende Minister Tiefensee kommentierte dies mit der Forderung, es müsse eben noch viel mehr zur Aufarbeitung der DDR getan werden. Dem wird beipflichten, wer an einer weiteren Aufhellung des DDR-Bildes interessiert ist. Offenbar hat die bisherige Art der „Aufarbeitung“ – was offensichtlich ist – nicht nur den beabsichtigten Zweck verfehlt, sondern sogar einen gegenteiligen Zweck herbeizuführen geholfen.
Dass die Geschichte der DDR nicht in eine Gesamtgeschichte Deutschlands nach 1945 integriert werden kann, hat weniger mit einem kolonialistischen Blick der westdeutschen Betrachter zu tun als mit der Sache selbst. Es handelt sich um zwei verschiedene Realitäten, die getrennt behandelt werden müssen: um einen Akkumulationsstaat im Westen, einen Defensivstaat im Osten.
Ein Akkumulationsstaat
Die von den Eliten der alten und neuen Bundesrepublik aufgestellte Behauptung, diese sei die einzige legitime Fortsetzerin der bisherigen deutschen Geschichte, ist insbesondere dann zutreffend, wenn man sie auf die Wirtschaftsgeschichte anwendet. Dies zeigt ein Rückblick bis in den Beginn der Industriellen Revolution nach 1820. Das deutsche Kapital hatte damals das Handicap, dass es – anders als das britische oder französische – keinen nationalen Markt vorfand. Es musste von Anfang an Grenzen niederreißen, um diesen herstellen und sich ausbreiten zu können. Das geschah in einer Serie von Kriegen: 1864 gegen Dänemark, 1866 im Waffengang zwischen Preußen und Österreich mit dessen Verbündeten, 1870/71 gegen Frankreich. Danach strebten die älteren Nationalstaaten ein zweites Mal (nach der Gründung von Kolonien in der frühen Neuzeit) über ihre Grenzen hinaus: im Imperialismus. Deutschland machte mit – als der (wie Lenin 1917 feststellte) jüngste und aggressivste Räuber. Im Ersten Weltkrieg wagte es den Griff zur Weltmacht. Nach der Niederlage von 1918 hatte das deutsche Kapital Gebietsansprüche: Zunächst sollte das Verlorene wiedergeholt werden, bevor man noch weiter ausgreifen konnte. Das war Hitlers Programm.
Auch die neue Bundesrepublik ab 1949 hatte einen Gebietsanspruch: Die Akkumulation des westdeutschen Kapitals sollte baldmöglichst auch wieder den Osten erfassen. Folgerichtig war das Grundgesetz auf territorialen Zuwachs angelegt: Die Präambel, Artikel 23 und Artikel 146 nannten die deutsche Einheit als Ziel. Die wichtigsten seiner mittlerweile 55 Änderungen dienten diesem Zweck: 1956 legitimierte die Wehrverfassung die Bundeswehr, die ein Instrument des Roll Back gegen den Osten war. Gleichzeitig begannen die Vorbereitungen für die – nach langen Kämpfen schließlich erst 1968 verabschiedete – Notstandsverfassung. Sie war zunächst als Flankierung der Wehrverfassung angelegt, zugleich sollte ein potentieller innerer Feind der vollen Herrschaft und der territorialen Ausdehnung des deutschen Kapitals in Schach gehalten werde.
Mit der Wiedervereinigung 1990 hörte die territorial-expansive Tendenz der Akkumulation des deutschen Kapitals keineswegs auf, sondern bewegte sich weiter in einem Rahmen, den sie seit der Gründung der Montan-Union 1951 auszufüllen begonnen hatte. Der französische Staatspräsident Mitterand und der italienische Ministerpräsident Andreotti hatten zwar versucht, die wirtschaftliche Großmacht in der Mitte Europas zu bändigen: mit dem Maastricht-Vertrag und der Europäischen Währungsunion. Doch das Gegenteil kam zustande: Durch diesen neuen politischen Zusammenschluss konnte die BRD ihr Gewicht nunmehr kontinental zur Geltung bringen.
In der Kriegsziel-Denkschrift vom September 1914 hatte der damalige deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg geschrieben: „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren.“
Das Europa von 2009 sieht in etwa so aus.
Ein Defensivstaat
Der Kalte Krieg ist für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik nur ein Rand-Datum gewesen. Anders steht es mit der DDR. Versteht man unter dem Kalten Krieg auf deutschem Boden nicht in erster Linie die politische und ideologische Konfrontation, als welcher er 1947 ausgerufen war, sondern die (wenngleich durch ein militärisches Drohpotential wirkungsvoll unterstützte) Ausdehnungstendenz des (vor allem US-amerikanischen und deutschen) Kapitals einerseits, den Versuch, sie abzuwehren, andererseits, dann musste die innere Entwicklung des schwächeren Staates – das war die DDR – dadurch mehr beeinflusst werden als die des stärkeren.
1949 versuchte die Deutsche Demokratische Republik sich in die Tradition eines anderen – eines nichtsexpansiven – Deutschland zu stellen. Diese Anknüpfung war in Wirklichkeit ein Bruch, denn eine solche zweite Linie der deutschen Politik war bis dahin nicht geschichtsmächtig geworden. Das deutsche Erfolgmodell war – trotz 1918 und 1945 – die territorial expansive Akkumulation des Kapitals in Europa. Es hatte seine Dynamik nicht verloren, also befand sich die DDR von vornherein in der Defensive. Bald nach ihrer Gründung wurde die Bundesrepublik Deutschland zum europäischen Akkumulationszentrum, das massenhaft Arbeitskräfte anzog. Die Gegenwehr durch die Führung der DDR hatte nur administrative und baukünstlerische Mittel zur Verfügung. Die Einsicht, dass sie nicht ausreichen würden, wenn sie nicht auch durch eine eigene Akkumulationsdynamik gefördert und letztlich legitimiert werden konnten, dürfte zu den Voraussetzungen des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖSPL) gehört haben. Es darf gefragt werden, ob es inzwischen nicht manchmal verklärt wird. Da es – offenbar vor allem unter sowjetischem Einfluss – nie voll umgesetzt wurde, bietet es sich für historische Projektionen, die nicht überprüfbar sind, an. Sicher aber ist, dass der NÖSPL-Entwurf sich nicht nur einem revolutionär-sozialistischen Impuls verdankte, sondern auch einem durch den Kalten Krieg beeinflussten gesamtdeutschen: Nach dem Mauerbau musste sich die DDR weiterhin in der Konkurrenz mit der Bundesrepublik behaupten.
Gleiches gilt für den Übergang zur „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ seit dem Achten Parteitag der SED 1971. An die Stelle des Vergleichs der Wirtschaftskraft trat nun der Versuch, den Abstand zur Bundesrepublik im Konsum nicht weiter wachsen zu lassen. Nicht die Triebkräfte des westdeutschen Akkumulationsmodells, wohl aber einige seiner Resultate waren jetzt der Vergleichsmaßstab. Mit der Entspannungspolitik, dem (älteren) Swing im deutsch-deutschen Handel, der Verschuldung und dem von Strauß eingefädelten Milliardenkredit kam bereits lange vor Kohl westdeutsches Kapital ins Land. Dies war typischer für die achtziger Jahre als die im Ganzen doch eher unbeholfene Repression. Als 1989 die Mauer nachrumpelte, war das nur noch ein Epilog.
Zweigeteilt? Immer!
Es gibt ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR, die über eine solche Erzählung sehr böse sind. Sie verweisen auf Eigenständigkeit nicht nur ihrer Biographie, sondern auch der gesellschaftlichen Entwicklung: ein Friedensstaat, soziale Sicherheit, mehr Gleichheit, polytechnische Bildung.
Recht haben sie. Die DDR war ungleichzeitig: Sie war dem Kapitalismus voraus und musste deshalb fürs erste wieder in ihn hineinfallen. Weil das so ist, kann ihre Geschichte niemals zugleich als die der Bundesrepublik geschrieben werden (und umgekehrt).