Krisenzeiten

Linke Anleihen im Krisendiskurs der FAZ

von Sebastian Friedrich
Juni 2012

Es ist Krisenzeit in den Feuilletons der Bundesrepublik. Allerdings besteht noch Uneinigkeit, um welche Krise es sich handelt: Eine Wirtschaftskrise, gar eine Kapitalismuskrise, eine Krise der Ideologien, eine Krise der Standpunkte, eine Krise des Konservativismus, eine Krise der Linken, eine Krise der Repräsentation, eine Krise der Demokratie – oder gar eine Systemkrise? Gravitationspunkt der Krise in den bürgerlichen Feuilletons: die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Deren Mitherausgeber Frank Schirrmacher erklärte im Sommer 2011, er beginne zu glauben, dass die Linke recht hat und feierte drei Monate später ein Buch des Anarchisten David Graeber als „Befreiung“. Lorenz Jäger, Redakteur für Geisteswissenschaften, erklärte zwischendurch, er sei nun kein Rechter mehr. Auf die Occupy-Bewegung wurde positiv Bezug genommen, und regelmäßig kamen als links geltende Ökonomen zu Wort. Sogar Sahra Wagenknecht durfte sich ausführlich zur Schuldenkrise äußern.

Zur Erinnerung: Inspiriert durch den „Arabischen Frühling“ entwickelten sich im Frühjahr 2011 weltweit Bewegungen von Menschen, die gegen neoliberale Wirtschaftspolitik und für Demokratie auf die Straße gingen. So bildete sich in Spanien eine Bewegung der „Indignados“ (Empörten), die sich auf zentralen Plätzen, insbesondere in Madrid auf der Puerta del Sol versammelten. In Portugal war bereits seit März letzten Jahres eine ähnliche Entwicklung zu erkennen. Die Wohnungsmarkt-Problematik war in Israel der Auslöser für Proteste und auch im Iran gingen im Februar 2011 erneut Aktivist/innen auf die Straße. Derweil formierten sich in Griechenland wieder große Protestzüge...

Viele dieser Bewegungen erfuhren von bürgerlicher Seite Zustimmung, während die Proteste in England nach der Erschießung von Mark Duggan durch Polizeibeamte im August 2011 überwiegend negativ kommentiert wurden. Die Feuilletonkorrespondentin Gina Thomas schrieb am 12.8.2011 in der FAZ über die „Randalierer und ihre Vorbilder“ und führte Werteverfall als Grund für die Riots an. Mit sozialer Ungleichheit hätten die Riots nichts zu tun. Sie zeugten vom „Verlust der moralischen Orientierung“. Die „Unterschicht“ hätte sich an der „Habgier der Boni-Banker und spesenritterlichen Abgeordneten“ ein Vorbild genommen. Thomas bezog sich auch auf den konservativen Publizisten Charles Moore, der durch zwei viel beachtete Aufsätze einen Monat zuvor eine Debatte in England ausgelöst hatte. Der erste Beitrag des offiziellen Biografen von Margaret Thatcher, der am 22.7.2011 im konservativen Daily Telegraph erschien, trug den Titel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“. Aufhänger für die vermeintliche Reflexion waren Enthüllungen zu den Abhörmethoden der Zeitung News of the World. Moore kritisierte nicht nur scharf Teile der Presse um den Medienmogul Rupert Murdoch, sondern äußerte auch Kritik am Bankenwesen und an den verantwortlichen Politiker/innen. In seinem Beitrag wartete er mit links-konnotierten Fragmenten auf, etwa, dass die Arbeiter/innen ihre Jobs verlören, damit die Banker/innen in Frankfurt und die Bürokrat/innen in Brüssel beruhigter schlafen können.

Schirrmachers Glaube und Jägers Adieu

Den ersten Artikel Moores nahm Frank Schirrmacher auf und bekannte sich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) am 14.8.2011 in ähnlicher Weise wie Moore. Er überschrieb seinen Beitrag mit dem gleichen Titel und zitierte den konservativen Publizisten mit Sätzen wie „Globalisierung (...) sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen.“ Schirrmacher stimmte Moore zu und fragte sich, ob er angesichts dieser Entwicklungen als Konservativer richtig gelegen habe, „ein ganzes Leben lang“.

Die schon fast sprichwörtliche Begeisterungsfähigkeit und Sprunghaftigkeit des FAZ-Mitherausgebers dabei, aktuelle Wendungen des Zeitgeistes erst aufzunehmen, um sie dann wieder zu verwerfen, hielt sich dieses Mal in Grenzen. Statt Sprunghaftigkeit zeigten Schirrmacher und das FAZ-Feuilleton Beharrlichkeit: Schirrmachers Bekenntnis folgten zwei weitere Beiträge, die in eine ähnliche Richtung gingen. Zunächst kamen die beiden Direktoren des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Jens Beckert und Wolfgang Streeck, zu Wort (20.8.2011). In ihrer Analyse zur Schuldenkrise schlussfolgerten sie, dass die Wirtschaftskrise seit 2008 in Stufen verlaufe und als nächstes auf das soziale System übergreifen werde. Zwei Wochen später (4.9.2011) stimmte der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister ihrer Analyse zu, warf aber ein, dass es sich nicht nur um eine Krise der Staatsverschuldung handele, sondern um die „schrittweise Implosion jener ‚Spielart‘ einer Marktwirtschaft, in der die kapitalistische ‚Kernenergie‘, das Gewinnstreben, auf Finanzveranlagung und -spekulation fokussiert ist. Die Staatsverschuldung sei – ebenso wie Arbeitslosigkeit, Verschlechterung der Entfaltungschancen der Jungen oder Klimawandel – Ausdruck der Dysfunktionalität dieser ‚Spielanordnung‘.“

Charles Moore in England, Frank Schirrmacher in der FAZ und die folgenden Beiträge ließen einige linksliberale Kommentator/innen jubeln. Nur wenige, wie Wolfgang Michal im Freitag (25.8.2011), zeigten sich skeptisch: „Während die ausgedörrte Linke frohlockt und sich dankbar zeigt, dass der politische Gegner einsieht, ein Leben lang an etwas Falsches geglaubt zu haben, geht es den Konservativen doch eher um die Erlangung der benötigten Persilscheine – so kurz vor dem befürchteten Kladderadatsch.“ Und in der Tat: Auf den zweiten Blick geht es weder in den Beiträgen Moores noch in dem Artikel Schirrmachers um eine Hinwendung zu linken Ideen, sondern viel eher um eine Restauration des Konservativismus.

Moore machte am Schluss seines ersten Beitrags deutlich, dass er keinesfalls geläutert ist. Sein Artikel ist vielmehr als Selbstkritik und Warnung für die Konservativen zu lesen: „Man muss immer beten, dass Konservativismus durch die Dummheit der Linken gerettet wird, wie es so oft in der Vergangenheit der Fall war.“ In dem nicht so häufig zitierten zweiten Beitrag wurde er eine Woche später (29.7.2011) noch deutlicher. Seine Kritik zielte nicht auf die Idee des Kapitalismus, sondern im Gegenteil auf die Politiker/innen, die sich in das Gewinnen und Verlieren des freien Marktes einmischen. Moore stellt dem jetzigen System kein linkes entgegen, sondern einen marktfundamentalistischen Neoliberalismus im Sinne von Margaret Thatcher und Ronald Reagan.

Auch Schirrmacher plädiert letztlich für das Wiederfinden „bürgerlicher Gesellschaftskritik“. Dass diese „bürgerliche Gesellschaftskritik“ eine erzkapitalistische und sein Beitrag nicht als Aufkündigung der Verbindung von Konservativismus und Kapital zu deuten ist, zeigt sich anhand seiner Huldigung Ludwig Erhards. Das Credo lautete: Zurück zur guten, alten Sozialen Marktwirtschaft. So wäre etwa ein Schweigen wie das Angela Merkels zum Bruch aller bürgerlich-moralischen Maßstäbe in der Krise unter Erhard undenkbar gewesen. Sprachlos mache ihn, Schirrmacher, überdies der „endgültige Abschied von Ludwig Erhards aufstiegswilligen Mehrheiten“. In dieser Sprachlosigkeit kommt das konservative Klassendenken zum Ausdruck. Zwar wünscht Schirrmacher die Chance des sozialen Aufstiegs und kritisiert somit implizit den klassischen Konservativismus, bei dem alles so bleiben soll, wie es ist: Der Sohn des Bauern bleibt Bauer, der Sohn des Arztes bleibt Arzt. Aber Schirrmacher hält an der Klassengesellschaft fest, in der es neben den aufsteigenden Gewinnern nun mal auch Verlierer geben muss.

Alle, die nur an eine kurze Laune des Feuilletons dachten, wurden Anfang Oktober überrascht. Eine offizielle Bekanntmachung von Lorenz Jäger (5.10.2011) löste allgemeine Aufregung aus: Der von Habermas einst als Rechtsaußen des FAZ-Feuilletons bezeichnete Jäger verkündete, dass er fortan kein Rechter mehr sei. Er verstehe nicht mehr, warum die Konservativen zum Beispiel „den menschengemachten Klimawandel für Panikmache von Gutmenschen und die Umweltauflagen gegenüber der Industrie für eine sozialistische Erfindung halten“. Der Konservativismus sei zu einer „Ideologie der Großindustrie und der Kriegsverkäufer geworden“ und habe sich selbst verraten, weshalb die Zeit gekommen sei, „Adieu“ zu sagen.

Jäger betrieb hier Geschichtsklitterung. Bekanntlich hat sich der deutsche Konservativismus immer als zuverlässiger Bündnispartner von Militär und Großindustrie sowie als Gegner der Demokratie erwiesen. Volker Weiß (2011) hat dies anläßlich der Erklärung von Jäger festgestellt. Nach 1945 hat sich, so Weiß, der Konservativismus neu orientiert, um die von ihm nicht favorisierte Demokratie und Massengesellschaft einigermaßen kontrollieren zu können. Weiß meint zu Recht, dass Bemerkenswerteste an Jägers rufendem Abgang sei, dass dieser „seinem Lager mit dem [sic] urkonservativen Argumenten der politischen Souveränität, der gesellschaftlichen Balance und des Bewahrens der Schöpfung von der Fahne geht“.

Jäger verabschiedete sich keinesfalls vom Konservativismus, sondern nur von einem, wie er es nannte, „Pseudokonservativismus“ und „Neokonservativismus“, der ihm zu widersprüchlich, zu zahnlos und stumpf geworden ist. Hinter Jägers „Adieu“ steckt, wie auch bei Schirrmacher, der Wunsch nach Restauration des deutschen Konservativismus und nach Abgrenzung von den Schmuddelkindern rassistischer Islamkritik und der Großindustrie.

Bürgerliches Unbehagen

Anfang November war es wieder Frank Schirrmacher, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er schrieb am 2.11.2011, dass die Demokratie mehr und mehr zu Ramsch verkomme. Grund für diese Einschätzung war die allgemeine Kritik an der überraschenden Ankündigung des damaligen griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou, ein Referendum über die Sparauflagen, die zuvor beim Euro-Gipfel in Brüssel beschlossen worden waren, abhalten zu lassen. Die Kritik an Papandreou zeige, so Schirrmacher, dass beim Machtkampf um den Primat zwischen Ökonomie und Politik letztere massiv an Boden verloren habe. Fast verzweifelt fragte sich der FAZ-Mitherausgeber: „Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Ratingagenturen, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen?“ Weniger Tage später (5.11.2011) sprang Jürgen Habermas Schirrmacher in seiner Sorge um die Postdemokratie zur Seite. Heute seien die politischen Eliten einer Zerreißprobe ausgesetzt: „Beide driften auseinander – die Systemimperative des verwilderten Finanzkapitalismus, den die Politiker selbst erst von der Leine der Realökonomie entbunden haben, und die Klagen über das uneingelöste Versprechen sozialer Gerechtigkeit, die ihnen aus den zerberstenden Lebenswelten ihrer demokratischen Wählerschaft entgegenschallen.“ Das griechische Desaster sei eine deutlich Warnung vor dem „postdemokratischen Weg“ von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Von der Parteipolitik erhoffte sich Habermas nicht allzu viel, da sie drohe, nur noch administrativ zu handeln und sich von der politischen Öffentlichkeit abzukapseln. Sollte dem so sein, „könnten sich die Parameter für das, was in der Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt, nur noch im Zuge einer sozialen Bewegung verschieben“. Als Beispiel nannte Habermas die Occupy-Bewegung.

In den Beiträgen von Schirrmacher und Habermas kam ein maßgebender Impuls für die Offensive im FAZ-Feuilleton zum Vorschein: die Angst der intellektuellen Elite, zugunsten von ökonomischen „Sachzwängen“ und postulierter „Alternativlosigkeit“ seitens der Politik kaum noch Gehör bei den wesentlichen Debatten zu finden. Diese nicht von der Hand zu weisende Befürchtung wird in der FAZ wesentlich über den Begriff „Postdemokratie“ in Anlehnung an Colin Crouch (2008) vermittelt. Crouch zufolge werden die demokratischen Institutionen zunehmend ausgehöhlt durch die Eliten der Wirtschaft, auf die sich die Macht in wachsendem Maße konzentriere. Crouchs Überlegungen werden seit Erscheinen seines Buchs (2004 in englischer, 2008 in deutscher Sprache) breit rezipiert, wobei „Postdemokratie“ häufig verkürzt als Legitimations- oder Repräsentationskrise verstanden wird. Seltener wird in der bürgerlichen Rezeption darauf verwiesen, dass nach Crouch in einer Postdemokratie auch die Klassenverhältnisse verdeckt werden. In Johannes Agnolis und Peter Brückners „Transformation der Demokratie“ (1967) wurde dieser Aspekt noch klarer herausgearbeitet. Agnoli/Brückner zeigten knapp 40 Jahre vor Crouch, dass der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital zu einem bloßen Interessenspluralismus reduziert wird, bei dem es im Wesentlichen um die Machtkonkurrenz unterschiedlicher Führungseliten geht. Diese Aspekte des Klassencharakters der „Postdemokratie“ werden auch gegenwärtig im bürgerlichen Feuilleton natürlich nicht thematisiert – die Analysen verbleiben auf der Ebene eines Unbehagens.

Sympathien für den Anarchismus

Schirrmacher schien sich von Woche zu Woche zu radikalisieren. Höhepunkt war seine Rezension von David Graebers Buch „Debt“ (2011). Graeber zufolge wirkten Schulden seit jeher als Herrschaftsinstrument, und umgekehrt entstanden Revolutionen fast immer aus einer Situation der Überschuldung. Schirrmacher feierte das Buch in der Sonntagsausgabe vom 13.11.2011 als „Befreiung“. Es sei ein „herrliches und hilfreiches Buch“, eine „Offenbarung“. Graeber würde es schaffen, „dass man endlich nicht mehr gezwungen ist, im System der scheinbar ökonomischen Rationalität auf das System selber zu reagieren“. Schirrmacher war so tief beeindruckt von Graebers Buch, weil insbesondere die letzten Seiten etwas mit Gehirn und Bewusstsein tun würden: „Sie machen klar, dass wir es selber sind, die über unsere Symbole und deren Macht entscheiden.“ Dieses überschwängliche Lob korrespondiert mit der durchgängig positiven Bezugnahme auf die Occupy-Bewegung im FAZ-Feuilleton. Hier zeigt sich etwas, was Moritz Altenried in seinem fulminanten Essay zu den Aufständen in England (2012) mit Bezug auf die positive Rezeption des Buchs „Der kommende Aufstand“ in den Feuilletons in ähnlicher Weise beschrieben hat: Dieser „Hype“ steht, in Zusammenhang mit einer melancholischen Sehnsucht nach Politik in einer post-politischen Situation (Altenried 2010: 68f). Nils Minkmar lobte die Flugschrift „Der kommende Aufstand“ in der FAS (7.11.2010) als „glänzend geschrieben“. (Allerdings handelte es sich weder bei Minkmar noch bei anderen bürgerlichen Rezensent/innen um bloße Affirmation. Vgl. Louisa und Michael 2011).

In dichter Folge erschienen nach der Rezension von Graebers Buch vier weitere Beiträge in der FAZ, die sich der Debatte widmeten. Der frühere Leiter des Planungsstabs der Kanzler Brandt und Schmidt und heutige Herausgeber der Nachdenkseiten, Albrecht Müller, bezog am 23.11.2011 Stellung gegen die häufig geäußerte Ansicht, Banken seien systemrelevant. Der linke Sozialdemokrat erhoffte sich einen Pakt „gegen Zyniker, Spieler und Spekulanten, einen Pakt aller Werte schaffenden und an Werten orientierten Bürgerinnen und Bürger“, der von „Wertkonservativen bis zu demokratischen Linken“ reiche, denn die „Auffassungsunterschiede sind angesichts der Bedrohung gering“. Anschließend kam gleich zweimal Michael Hudson zu Wort, an dem sich auch Graeber orientiert. Hudson ist ein bekannter Autor, der 2006 das Platzen der Immobilienblase in den USA prognostiziert hatte; er war Berater des linken Demokraten Dennis Kucinich im Vorwahlkampf zur US-Präsidentschaftswahl. Die derzeitige Schuldenpolitik, so Hudson, läuft auf eine „Ramsch-Ökonomie“ hinaus, die staatliche Kontrolle verunmöglicht und der Hochfinanz Planungsgewalt gibt. Die Nähe zu Graeber wird deutlich, wenn Hudson meint: „Da die Wünsche der Wähler nicht berücksichtigt wurden, steht die Staatsverschuldung politisch und rechtlich auf schwankendem Boden. Schulden, die auf bloßen Beschluss durch Regierungen oder ausländische Finanzinstitutionen gegen starken Widerstand im Volk gemacht wurden, sind möglicherweise ebenso unsicher wie die der Habsburger und anderer Despoten vergangener Zeiten.“ (3.12.2011) Einen Tag später plädierte Hudson in einem weiteren Beitrag für Systemänderungen in Richtung der „klassischen Grundsätze der Wirtschaftsreformer des 20. Jahrhunderts“. Für den nächsten Coup sorgte dann Sahra Wagenknecht, die darauf insistierte, sich von der Abhängigkeit von den privaten Kapitalmärkten zu befreien (8.12.2011). Es gehe um die staatliche Rekapitalisierung von Banken und Versicherungen bei entsprechendem Schuldenschnitt und perspektivisch um die Verkleinerung der Großbanken.

Seit Januar diesen Jahres ist es vergleichsweise ruhig im FAZ-Feuilleton geworden. Abgeflaut ist die Debatte aber keinesfalls. Das Feuilleton schielt nach wie vor demonstrativ nach links. So fragte etwa am 28.1.2012 Uwe Ebbinghaus auf zwei ganzen Seiten, ob nach dem Scheitern des Sozialismus der Anarchismus die linke Utopie der Zukunft sei. Ebbinghaus schaffte es zwar, eindringlich über die Protestformen der Occupy-Bewegung zu schreiben, den Bogen über die Piratenpartei und Stuttgart 21 zu schlagen und nach kurzen Erörterungen der Ideen Bakunins und Kropotkins viele der aktuellen Protestbewegungen als irgendwie anarchistisch zu kennzeichnen. Zur Absicherung seiner Aussagen zog er David Graeber heran. Mit keinem Wort erwähnt wurde allerdings der inhaltliche Gehalt von anarchistischer Politik jenseits von horizontalen Strukturen, Konsensprinzip und Guy-Fawkes-Masken. Proteste, die tatsächlich Überschneidungen mit anarchistischen Praxen im „Hier und Jetzt“ aufweisen, werden lediglich in ihrer Form positiv bewertet.

Eine Entfernung anarchistischer Inhalte bei gleichzeitiger Thematisierung von Anarchist/innen ist exemplarisch auch bei den geradezu euphorischen Reaktionen auf den ersten Band der Tagebücher Erich Mühsams festzustellen, der letztes Jahr beim Berliner Verbrecher Verlag erschienen ist. Das Buch schaffte es, in mehrere bürgerliche Bestenlisten und wurde in der Mainstream-Presse begeistert aufgenommen: von Neuer Zürcher Zeitung (NZZ) über FAZ, Welt, Süddeutsche Zeitung (SZ), Der Spiegel und in der tageszeitung (taz). Gabriel Kuhn wies in seiner Rezension des Tagebuchs Mühsams bei kritisch-lesen.de darauf hin, dass in den Besprechungen vor allem Mühsams Privatleben im Zentrum stand, insbesondere sein Liebesleben. So titelte etwa Der Spiegel (27/2011): „Der Anarchist und die Mädchen“. Die Konzentration auf den Lebensstil von Mühsam geht mit dessen Entpolitisierung einher, was sich beispielsweise an der Schlagzeile zur Rezension in der FAZ zeige: „Ein Anarchist in Anführungszeichen?“ (2.8.2011). Anarchist/innen könnten, so folgert Kuhn, unter zwei Bedingungen heute zu Lieblingen werden: „1. Sie sind seit langem tot. 2. Ihre anarchistische Identität ist als exotischer Aufputz willkommen, ansonsten aber nicht der Rede wert.“ (Kuhn 2012)

Dem ist beizupflichten. Zu ergänzen ist, dass bekennende – noch lebende – Anarchist/innen in seltenen Fällen erwähnt oder gar positiv hervorgehoben werden – und wenn, dann nur, wenn zugleich das Denken und die Personen vom Anarchismus entkernt werden, wie die lobenden Auseinandersetzungen zu Graeber in der FAZ zeigen. Schirrmacher erwähnte in seiner Rezension zu „Debt“ zwar auch, dass Graeber ein Anarchist ist, relativierte aber diese Selbstbezeichnung umgehend; sie ziele eher darauf ab, „dass er sich keiner Richtung und keiner Partei zuordnen lässt“. Dass Graeber sich sehr wohl einer Richtung zuordnen lässt, übersah Schirrmacher geflissentlich. Graeber hat unzählige Aufsätze zum neuen Anarchismus und zur Herrschaftskritik geschrieben, trat als Aktivist schon mehrmals in Erscheinung und ist Mitglied der anarchistisch und rätekommunistisch ausgerichteten Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW).

Krise und Restauration des Konservativismus

Der kleine Streifzug durch das FAZ-Feuilleton der letzten Monate hat eine Menge Beiträge zutage gefördert, in denen als wesentliche Probleme ein „Ausufern“ des Kapitalismus und eine Tendenz in Richtung Postdemokratie im Sinne von Crouch ausgemacht werden. Diese Probleme werden auf die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte und das sich Abkapseln der politischen und insbesondere der wirtschaftlichen Elite zurückgeführt. Grundsätzlich hätte sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft abgekoppelt und zu einem „Finanzkapitalismus“ entwickelt. Der wird kritisiert, während der „Realkapitalismus“ positiv besetzt bleibt. Der vermeintliche „Antikapitalismus“ stellt sich insbesondere als Verteidigung bzw. Plädoyer für die Rückeroberung der Sozialen Marktwirtschaft dar. Dabei lässt die FAZ auch explizit linke Stimmen zu Wort kommen. Die Entwicklung in Richtung Postdemokratie und radikalem Finanzkapitalismus müsse schnell gestoppt werden. Protestbewegungen wie die Indignados in Spanien und die Occupy-Bewegung werden positiv dargestellt.

Für den politischen Konservativismus stellt sich die derzeitige Situation als Krise dar, was sich etwa an der Repräsentationskrise der Konservativen in den Unionsparteien zeigt. Einerseits wird das nationalkonservative Klientel vernachlässigt und andererseits verwischt auch zunehmend das sozialkonservative Profil. Zwar wird letzteres etwa durch Horst Seehofer rhetorisch geschärft, ohne jedoch damit großen Einfluss auf das Profil der Union insgesamt zu gewinnen. Auch zeigt sich, dass den Positionen des explizit konservativen Flügels aktuell von Seiten der Politik und Wirtschaft wenig Gehör geschenkt wird.

Von vielen Linken, Sozialdemokrat/innen und Linksliberalen wurde die Tendenz im FAZ-Feuilleton mit Aufmerksamkeit und Zustimmung aufgenommen. So verfolgte beispielsweise Albrecht Müller die Entwicklungen ausführlich auf den Nachdenkseiten und bot ein Dossier mit den wichtigsten Beiträgen an. Wie in seinem Beitrag in dieser Reihe selbst, kommentierte er auch am 9.12.2011 auf den Nachdenkseiten sehr positiv: „Die Frankfurter Allgemeine leistet mit einer Serie von Essays in FAZ und FAS einen bemerkenswerten Beitrag zur Aufklärung über die Finanzkrise, über die Abhängigkeit der Politik von der Finanzwirtschaft und damit über die Gefährdung der demokratischen Willensbildung.“

Es kann aus einer hegemonietheoretischen Sicht in der Tat von Nutzen für die Linke sein, wenn auch in der konservativen Presse teilweise linke Positionen zu Wort kommen. Die scheinbare Wende im FAZ-Feuilleton und das „Umgarnen“ durch die (oder „der“) Linke(n) könnten allerdings einen fatalen Effekt mit sich bringen. Karl Kraus merkte einmal an: „Das Geheimnis des Agitators ist, sich so dumm zu machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er.“ Übertragen auf die Debatte um das FAZ-Feuilleton bedeutet das, dass die als links erscheinenden Geistesblitze in den bürgerlichen Feuilletons an ungeschützter Stelle einschlagen könnten. Die Interventionen des bürgerlichen Feuilletons zielen darauf ab, die kulturelle Hegemonie über Gesellschaftskritik weiter zu festigen.

Zugleich zeigt sich, dass momentan keine ernsthafte Gefahr für das Bestehende von links ausgeht. Sonst wären reihenweise Linksbekenntnisse von Konservativen nur denkbar als Strategie, die linken Positionen in einen gesamtgesellschaftlichen Konsens einzubinden – sie im Sinne des kapitalistischen Projekts zu normalisieren. Doch von einer starken Stellung linker Ideen kann momentan keine Rede sein. Selten wurden antikapitalistische Thesen so sehr bestätigt wie in der billionenschweren Rettung von Banken. Die Linke vermochte es jedoch bisher nicht, von einer der schwerwiegendsten Legitimationskrisen des Kapitalismus zu „profitieren“. Es fehlt ihr momentan an schlagkräftigen Analysen und vor allem an der offensiven Vermittlung der vorhandenen.

Da von der Linken im Augenblick wenig zu befürchten ist, muss sie als Gegner im Kampf um Deutungshoheit nicht besonders ernst genommen werden und kann daher als diskursives Ersatzteillager Verwendung finden. Beides zusammengedacht, einerseits die schwache Position linker Ideen in den Deutungskämpfen und andererseits soziale Proteste wie in England, aber auch in vielen anderen Ländern, ergibt folgende Situation: Die Verhältnisse spitzen sich zwar zu, gleichzeitig sind explizit linke Alternativen im Mainstream bedeutungslos. Genau diesen Zustand versucht die „bürgerliche Gesellschaftskritik“ für sich zu nutzen. Linker Antikapitalismus wird ersetzt durch (sozial-)marktwirtschaftliche „Kapitalismuskritik“, die sich nicht gegen die Logik der Wirtschaftsordnung richtet, sondern gegen einzelne „Auswüchse“. Die hin und wieder geäußerte Gesellschaftskritik versickert oder wird kanalisiert, indem kapitalismuskritische Positionen eingebunden werden. Die im Feuilleton sich äußernde Werte- und Daseinskrise des Konservativismus als moralischer Bodyguard des Kapitalismus ist insofern nicht zwingend ein Grund zu Freude.

Literatur

Altenried, Moritz (2012): Aufstände, Rassismus und die Krise des Kapitalismus. England im Ausnahmezustand, Münster

Agnoli, Johannes/Brückner, Peter (1967): Die Transformation der Demokratie, Berlin

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/M

Graeber, David (2011): Debt. The First 5000 Years, New York

Kuhn, Gabriel (2012): Oktoberfest und Anarchie. Rezension von Erich Mühsam, Tagebücher. Band 1 (1910-1911), Berlin 2011, in: kritisch-lesen.de Nr. 16 (April). http://www.kritisch-lesen.de/2012/04/oktoberfest-und-anarchie/ [22.4.2012]

Louisa und Michael (2011): Von kommenden Aufständen und bürgerlichen Kritiken. Rezension von: Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand (frei verfügbare Fassung), in: kritisch-lesen.de Nr. 4 (Mai). http://www.kritisch-lesen.de/2011/05/von-nahenden-aufstanden-und-burgerlichen-kritiken/ [22.4.2012]

Weiß, Volker (2011): Wohin treibt die Junge Freiheit ohne konservatives Dickschiff? In: publikative.org am 23.10. http://publikative.org/2011/10/23/wohin-treibt-die-junge-freiheit-ohne-konservatives-dickschiff/ [22.04.12]