Editorial

März 2012

Der dreitägige Besuch der Bundeskanzlerin in China Anfang Februar in Be-gleitung eines ‚Gefolges’ deutscher Unternehmensvorstände macht deutlich, wo derzeit die wirtschaftliche Musik spielt: Europa bettelt um chinesische Hilfe in der Euro-Krise, während deutsche Konzerne nach Investitionsmöglichkeiten suchen. Die Welt hat sich definitiv verändert. Wie konnte es dazu kommen? Der Schwerpunkt dieses Heftes diskutiert Theorien, die Ursachen wirtschaftlicher Auf- und Abstiegsprozesse und Machtverschiebungen im ka-pitalistischen Weltsystem erklären. Dabei wurde die Redaktion konzeptionell und organisatorisch von unserem Beiratsmitglied Dieter Boris unterstützt.
Einleitend werden in einem statistischen Überblick die wichtigsten Verschie-bungen der letzten 30 Jahre skizziert. Neben dem historisch hohen, das ökolo-gische Gleichgewicht bedrohenden Wachstum fällt auf, dass von einem all-gemeinen Aufholen der Länder der Peripherie bislang nicht die Rede sein kann: Hauptmerkmale sind der Aufstieg Chinas und der relative Bedeutungsverlust der USA.
Dieter Boris präsentiert Thesen, in denen er Theorieansätze mit dependenz- und regulationstheoretischem Hintergrund in Hinblick auf ihren Erklärungswert für die derzeitigen Auf- und Abstiegsprozesse abklopft. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass – zusammen mit anderen Faktoren – die Steuerungsfä-higkeit des Staatsapparats in Verbindung mit einem relativ stabilen Klassen-kompromiss zentral ist. Der Chance anderer Länder, dem „Modell China“ zu folgen, steht er aber skeptisch gegenüber.
Die wirtschaftlichen Machtverschiebungen gehen einher mit einer veränderten internationalen Arbeitsteilung, wobei transnationale Produktionsketten eine wachsende Rolle spielen. Auch wenn es in diesem Zusammenhang zu einer gewissen Industrialisierung in Ländern der Peripherie kommt, heißt das nicht – wie Karin Fischer und Christian Reiner in ihrem Beitrag zeigen – dass diese notwendig profitieren. Oft bleibt der Löwenanteil der Wertschöpfung in den Konzernzentralen der alten Industrieländer. Allerdings gibt es für die subal-ternen Länder die Möglichkeit, innerhalb der Güterketten „aufzusteigen“.
Andrea Komlosy diskutiert vor dem Hintergrund neuerer Positionsnahmen von Vertretern des Weltsystem-Ansatzes (Wallerstein einerseits und Andre Gunder Frank andererseits) die Frage, welche Folgen der relative Niedergang der USA und der Aufstieg Chinas für den Weltkapitalismus haben wird. Wäh-rend Wallerstein ein Ende des historischen Kapitalismus zu erkennen glaubt, meint Frank, dass sich ein neues asiatisches Zeitalter abzeichnet.
Viele Debatten über globale Machtverschiebungen betreffen die Frage der Hegemonie. Rudy Weissenbacher verweist auf den schon von Gramsci gesehenen Zusammenhang zwischen innergesellschaftlicher und internationaler Hegemonie und untersucht Elemente, auf denen die US-Hegemonie basiert. Der Aufstieg Chinas schwäche zwar die US-Position. Allerdings bleibe die Herausforderung Chinas im Rahmen der bestehenden Institutionen.
Einen völlig anderen Zugang wählt Hartmut Elsenhans. Ausgehend von key-nesianischen Grundannahmen und in Abgrenzung von Marx vertritt er die These, ohne handlungsfähige subalterne Klassen bestehe die Gefahr, dass der Kapitalismus seine Dynamik einbüße. Angesichts der komplexer gewordenen Bedingungen reiche heute aber die einfache Steigerung von Einkommen nicht mehr aus.
Die dependenztheoretische Annahme, dass die Dominanz der kapitalistischen Industrieländer des „Zentrums“ den Aufstieg der „Peripherie“ dauerhaft ver-hindere, wird vielfach mit der klassischen marxistischen Imperialismustheorie in Verbindung gebracht. Jörg Goldberg hat die einschlägigen Arbeiten von Hilferding über Lenin, Bucharin, Luxemburg bis Kautsky daraufhin durchge-sehen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die ‚Klassiker’ sich zwar über den ausbeuterischen Charakter des Imperialismus im klaren waren; sie nahmen aber trotzdem an, die imperialistische Expansion werde zur Industrialisierung der „rückständigen Länder“ führen.
Chinas Aufstieg zur politischen Weltmacht untersucht Helmut Peters anhand der Geopolitik der VR China gegenüber der Sowjetunion, den USA und der „Dritten Welt“ von den 50er bis in die 70er Jahre. Die „Renaissance der chi-nesischen Nation“ als international agierende Großmacht wird als das von der KP Chinas verfolgte „Kerninteresse“ herausgestellt, was in der Vergangenheit unter Mao Zedong wie in der Gegenwart eine „Dominanz des Nationalen über das Soziale“ und ausgeprägten Pragmatismus in Politik und Ideologie der chi-nesischen KP zur Folge hatte. Über aktuelle Diskussionen zu Arbeitskonflikten und -kämpfen in China berichtet Rolf Geffken.
„Problemfeldern der globalen Klassenanalyse“ widmet sich Karl-Heinz Roth. Das internationale Proletariat meldet sich, so Roth, in Aufständen, Revolten und Massenkämpfen zurück, wenn auch in einer „seltsam gebrochenen“ Form, die im Selbstbewusstsein der Agierenden wie der traditionellen Linken derzeit kaum Anschluss an vertraute Begriffe der Arbeitergeschichtsschreibung erlauben. Auf verschiedenen Handlungsebenen sind neue Prozesse der Klassenformierung in Gang gekommen. Das zwingt, so der Autor, zum Nach-denken darüber, was wir tun sollten, „um unsere verstaubten Vorstellungen von Klassenanalyse und Klassenhandeln wieder realitätstüchtig zu machen“.
Georg Fülberth betrachtet die sog. „Neue Kapital-Lektüre“, die die Wert-formanalyse in den Mittelpunkt stellt und dabei systematisch von Klassen-kampf und Bezug auf Geschichte des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung absieht, als eine zeitgebundene Sicht auf das Marxsche „Kapital“. Neue As-pekte im „interaktiven Verhältnis“ von Text, „operativen Intellektuellen“ und kapitalistischer Wirklichkeit sieht er in den Debatten um die Marxsche Wert-theorie nach Sraffa, in der Herausbildung des „finanzmarktgetriebenen“ Kapi-talismus und neuem (außerakademischem) Interesse an Kapital-Lektüre.
Wer sich über aktuelle Organisations- und Mobilisierungsprobleme der Ge-werkschaften und deren gewerkschaftstheoretische Fassung informieren will, findet in der Besprechung einer neuen Studie zu „Gewerkschaftlicher Moder-nisierung“ (Hrg. Th. Haipeter und K. Dörre) von Lothar Peter reichliches Ma-terial. Die Autoren untersuchen Aktivitäten und Ansatzpunkte zu einer Rück- oder besser Neugewinnung gewerkschaftlicher Gestaltungskompetenz und Konfliktbereitschaft unter den Bedingungen von Prekarisierung, Arbeits-marktsegmentierung und Erosion gewerkschaftlicher Machtressourcen.
Angesichts drohender neuer Kriegsherde im Mittleren Osten (Iran, Syrien) und der jüngsten Erfahrung der NATO-Intervention in Libyen ist der Beitrag von Matin Baraki zu den geostrategischen Hintergründen des Afghanistan-Konflikts äußerst lehrreich. Dies betrifft die Gegenwart wie die deutsche Ge-schichte (Wilhelm II. liebäugelte ebenso wie Hitler mit Afghanistan als geost-rategischem Aufmarschgebiet gegen das britische Empire). Die USA erklärten Mittelasien in den 90er Jahren zur ihrer geostrategischen Interessenzone. Schon lange vor 9/11 kam Afghanistan dabei eine Schlüssel-Rolle („schwäch-stes Glied“) zu. Der Krieg gilt heute auch bei seinen Befürwortern als geschei-tert; die NATO soll ungeachtet dessen präsent bleiben. Baraki legt einen Al-ternativ-Plan vor.
Aus Anlass des 250. Geburtstags von J.G. Fichte (19. Mai dieses. Jahres) stellt Wolfgang Förster dessen maßgeblich durch die Erfahrungen der Französi-schen Revolution und die revolutionär-demokratische Jakobiner-Diktatur ge-prägtes Denken vor. Im vorliegenden teil geht es um die frühen Schriften („Wissenschaftslehre“), um Geschichtsphilosophie und den romantischen An-tikapitalismus Fichtes.

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In Z 88 hatten wir eine Kritik von Andreas Wehr an dem Buch „Imperialismus“ von Deppe/Salomon/Solty veröffentlicht, zusammen mit einer Replik der Autoren. Auf Kritik stieß der Schlusssatz dieser Replik. Es lag nicht in der Absicht der Verfasser, die Person Andreas Wehrs zu treffen. Kritisiert werden sollte eine nach Ansicht der Verfasser auf den Nationalstaat fixierte Perspek-tive, die die Bedeutung der Transnationalisierung des Kapitalismus nicht ge-nügend berücksichtige.


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Die neue Website von Z ist schon seit einiger Zeit frei geschaltet. Jetzt haben wir Z auch bei Facebook ein Forum gegeben. Allerdings ist unsere neue Ho-mepage noch nicht ganz fertig. Wir arbeiten noch dran, die älteren Hefte ein-zustellen. Demnächst werden die kompletten Inhaltsverzeichnisse zur Verfü-gung stehen. Später sollen die älteren Jahrgänge sukzessive verfügbar ge-macht werden. Wir sind zu finden unter http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de und unter http://www.facebook.com/pages/Z-Zeitschrift-Marxistische-Erneuerung/119188931492537.


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Z 90 wird sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Konservatismus/Politische Rechte befassen. Z 90 erscheint im Juni 2012.

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