Marx 200: Arbeit und Ausbeutung

Ausbeutung und Einkommensverteilung

von Klaus Müller
März 2018

Das Problem

Der Begriff „Ausbeutung“ assoziiert knechtende Arbeitsbedingungen, lange Arbeitszeiten, Hungerlöhne, ein Leben am Rande des Existenzminimums. Die tägliche Arbeitsdauer der Lohnarbeiter ist heute kürzer als zu Marx’ Zeiten, Nominal- und Reallöhne sind höher. Fernseher, Waschmaschine, Kühlschrank und Zweitwagen gehören zur Normalausstattung vieler Arbeiterhaushalte, auch wenn Millionen Menschen von Armut betroffen sind und immer mehr trotz Arbeit unter prekären Bedingungen leben (Butterwegge 2016). Kann man aber angesichts der materiellen Verbesserungen noch von „Ausbeutung“ sprechen? Trifft die Diagnose des Alten aus Trier über das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit zu dessen 200. Geburtstag noch zu? Mit der Kategorie „Ausbeutung“ erfassen wir das Verhältnis zwischen Menschen, die Eigentümer der Produktionsmittel sind und Menschen, die es nicht sind. Die Eigentümer eignen sich unentgeltlich einen Teil der Arbeit der Lohnarbeiter an. Das ist Ausbeutung. Der Kapitalismus hat sich über Jahrhunderte hinweg gewandelt. Die Formen des Kampfes um die Schaffung und Aneignung der Mehrarbeit änderten sich. Der Wandel betrifft Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte. Wählt man die Produktivkräfte als Kriterium der historischen Differenzierung, kann man unterscheiden zwischen einem Manufaktur-, Industrie-, Fließband- und einem digitalen Kapitalismus. Der für letzteren auch verwendete Begriff des „High-Tech-Kapitalismus“ (Haug 2003, 2012) ist unscharf, gab es doch höchst entwickelte Technik zu jeder Zeit. „High-Tech“ ist ein inhaltsleerer Begriff. Er kann stets nur historisch-konkret bestimmt werden. Der Faustkeil verkörperte, zugespitzt formuliert, hunderttausende von Jahren technisches Spitzenniveau. Im digitalen Kapitalismus verschwindet das Fließband ebenso wenig, wie die Maschine, als das Fließband kam. Maschinen ersetzten einst menschliche Muskelkraft. „Was Tätigkeit des lebendigen Arbeiters war, wird Tätigkeit der Maschine.“ (MEW 42: 600) Die digitale Maschinerie ersetzt nun zunehmend die geistige Potenz des Menschen. Sie übernimmt die Messung und Auswertung der Informationen über den Arbeitsprozess sowie dessen Planung und Steuerung. (Barthel/Rothenbach 2017: 251). Der Arbeiter wird „Anhängsel“ der Computersysteme, die seine Tätigkeit steuern und lückenlos überwachen (Seppmann 2017: 151). Wählt man die Produktionsverhältnisse, vor allem Macht und Konzentration des Eigentums, als Kriterium der historischen Differenzierung, kann man unterscheiden zwischen dem Kapitalismus der freien Konkurrenz, dem Monopolkapitalismus und dem staatsmonopolistischen Kapitalismus, wo sich Monopole und Oligopole den vielfältigen, wenn auch widersprüchlichen, Beistand des Staates sichern. Viele nennen den heutigen Kapitalismus „Finanzmarktkapitalismus“. Um Quantitatives hervorzuheben, kann eine Unterscheidung in Handels-, Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzmarktkapitalismus sinnvoll sein. Das Wachstum der Finanzdienstleistungen übertrifft bei weitem das der produktiven Sphäre. Was sich dadurch geändert hat, sind volkswirtschaftliche Strukturen, sind Formen, Abläufe, Proportionen und die Art von Ungleichgewichten. Aber auch das Wesen der kapitalistischen Wirtschaft? Finanzmärkte bleiben bei aller relativen Selbständigkeit und Rückwirkung auf die Bewegung des Kapitals der produktiven Sphäre doch von dieser abhängig. Im produktiven Sektor der Volkswirtschaft werden Werte und Mehrwerte erzeugt, bevor die Akteure auf den Finanzmärkten auf sie zugreifen, mit ihnen handeln und spekulieren können. Neue Erscheinungen werfen die Frage auf, ob sich das Wesen der Realität geändert hat. Taugt Marx’ Kritik der politischen Ökonomie dazu, das Wesen des gegenwärtigen Kapitalismus zu verstehen?

Axiomatischer Bestand der Theorie

Karl Marx hat viele Thesen der Politischen Ökonomie und Philosophie ad absurdum geführt. Die Kritik war ihm nie Selbstzweck. Er wollte Gewissheiten unterminieren, aber nicht nur das. Er suchte Wahrheiten, wollte Wissen schaffen. Dies gelang ihm wie keinem anderen. Sein Hauptwerk ist das „Kapital“. Obwohl unvollendet, ist es an Prägnanz und Wesenserfassung die nie wieder erreichte gültige Analyse der kapitalistischen Wirtschaft und damit der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. „Das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Angel, um die sich unser ganzes heutiges Gesellschaftssystem dreht“, schrieb Friedrich Engels, „ist hier zum ersten Mal wissenschaftlich entwickelt.“ (MEW 16: 235) Vom „Kapital“ sagt Marx, dass „es der letzte Endzweck dieses Werkes ist, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen.“ (MEW 23: 15 f.) Er fand es im Mehrwertgesetz, dem Grundgesetz des Kapitalismus, das Zweck und Mittel der Produktion ausdrückt: Mehrwert zu erzeugen durch die Beschäftigung und Ausbeutung der Lohnarbeiter. „Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise.“ (MEW 23: 647) Dabei gelangen Marx drei bahnbrechende Entdeckungen. Erstens begründete er den Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit. Schon Aristoteles kannte die zwei Seiten der Ware: Gebrauchswert (Nützlichkeit) und Tauschwert. Marx fand es sonderbar, „dass den Ökonomen ohne Ausnahme das Einfache entging, dass wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen muss.“ (MEW 32: 11) Als konkrete Arbeit schafft sie den Gebrauchswert, als abstrakte Arbeit den Wert der Ware. Marx hat dies seine entscheidende Entdeckung genannt, sprach vom Springpunkt, „um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht.“ (MEW 23: 56) Seine Vorgänger Petty, Smith und Ricardo, die er schätzte, sahen das „Zwieschlächtige“ der Arbeit nicht und stießen so „überall auf Unerklärliches.“ Die Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit ist auch Voraussetzung, um zu verstehen, wie im digitalen Kapitalismus Wert und Mehrwert entstehen. Zweitens fand Marx heraus, dass die Arbeitskraft eine Ware ist. Sie hat wie jede Ware einen Wert und einen Gebrauchswert. Jeder sah: Der Lohn ist geringer als der Wert der Produkte, die die Arbeiter erzeugen. Alle Ökonomen vor Marx schlossen daraus, dass der Profit einem ungleichen Austausch zwischen Kapitalisten und Arbeitern entspringen würde. Von seinen Gegnern wird Marx unterstellt, er sei der Meinung gewesen, Ausbeutung gäbe es, „weil Kapitalisten Arbeitern weniger Geld als Lohn zahlen, als ihnen eigentlich zusteht.“ (Martin 1990: 26) Die „Behauptung, etwas sei mehr wert als es gekostet habe“, werde „nicht dadurch richtig, dass man sie mit erhobenem Zeigefinger ausspricht.“ (Martin 1990: 55, Fn. 3) Marx hat das nicht getan. Im Gegenteil: Er hat die Forderung der Sozialdemokraten, den Arbeitern den „vollen Ertrag ihrer Arbeit“ auszuzahlen, in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ zurückgewiesen. Der Fehler ist, anzunehmen, der Arbeiter verkaufe die Arbeit als Ware. „Die Frage ist in dieser Fassung unlöslich. Sie ist von ihm (Marx, d. Verf.) richtig gestellt und damit beantwortet worden … Es ist nicht die Arbeit, die als Ware gekauft und verkauft wird, sondern die Arbeitskraft“, so Friedrich Engels (MEW 24: 25). „Wir mögen uns drehen und wenden, wie wir wollen“, so Engels an anderer Stelle, „wir kommen nicht heraus aus diesem Widerspruch, solange wir vom Kauf und Verkauf der Arbeit und vom Wert der Arbeit sprechen … Der letzte Ausläufer der klassischen Ökonomie, die Ricardosche Schule, ging größtenteils an der Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zugrunde.“ (MEW 22: 206) Die Arbeit hat keinen Wert, weil sie die Wert bildende Substanz ist. Wie jede Ware wird auch die Ware Arbeitskraft zu ihrem Wert bezahlt. Der Kapitalist „kauft“ die Ware Arbeitskraft ihres Gebrauchswertes wegen – ihrer Fähigkeit, mehr Wert zu schaffen, als sie selbst hat. Marx bewies, was dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen schien: der Gewinn entsteht aus gleichem Tausch. Er beruht auf dem Prinzip der Gleichheit von Leistung und Gegenleistung. Den Nachweis erbracht zu haben, ist nach Friedrich Engels das „epochemachendste Verdienst“ seines Freundes (MEW 20: 189). Zwar gibt es keine Gerechtigkeit zwischen Kapitalist und Arbeiter. Engels hielt „einen gerechten Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk“ im Kapitalismus für eine absurde Vorstellung. „Der Arbeiter gibt so viel und der Kapitalist so wenig, wie es die Natur der Übereinkunft zulässt. Das ist eine sehr sonderbare Sorte von Gerechtigkeit“, schrieb er 1881 für die Gewerkschaftszeitung „The Labour Standard“ (MEW 19: 248). Doch auf dem Arbeitsmarkt ist die formale Tauschgleichheit gewahrt. „Ausbeutung“ ist keine Kategorie der Morallehre, die Aneignung des Mehrwerts kein Raub. Marx hat sich in seinem letzten ökonomischen Manuskript, den „Randglossen zu Adolph Wagners Lehrbuch der politischen Ökonomie“, gegen die Fehlinterpretation seiner Mehrwerttheorie als eine Theorie des Diebstahls gewehrt: „Nun ist in meiner Darstellung in der Tat auch der Kapitalgewinn nicht nur ein Abzug oder ‘Raub’ am Arbeiter.“ Ich stelle umgekehrt den Kapitalist als notwendigen Funktionär der kapitalistischen Produktion dar und zeige sehr weitläufig dar, daß er nicht nur ‚abzieht’ oder ‚raubt’, sondern die Produktion des Mehrwerts erzwingt, also das Abzuziehende erst schaffen hilft; ich zeige ferner ausführlich nach, daß, selbst wenn im Warenaustausch nur Äquivalente sich austauschten, der Kapitalist – sobald er dem Arbeiter den wirklichen Wert seiner Arbeitskraft zahlt – mit vollem Recht, d.h. dem dieser Produktionsweise entsprechenden Recht, den Mehrwert gewänne. Aber all dies … beweist nur, daß in dem nicht durch die Arbeit des Kapitalisten ‚konstituierten’ Wert ein Stück steckt, das er sich ‚rechtlich’ aneignen kann, d.h. ohne das dem Warenaustausch entsprechende Recht zu verletzen.“ (MEW 19: 359 f.) Marx zeigt, dass sich die Kapitalisten nicht dadurch bereichern, dass sie das Wertgesetz beim Kauf der Arbeitskräfte verletzen, sondern anwenden. Bei der Ausbeutung der Lohnarbeiter geht es tauschgerecht zu. Drittens ermöglichte es die Kenntnis des Doppelcharakters der Ware Arbeitskraft Marx, das Wesen des Mehrwertes, aufzudecken. Die Ökonomen vor ihm hatten diesen mit seinen Formen gleichgesetzt. „Im Gegensatz zu aller früheren Ökonomie, die von vornherein besondre Fragmente des Mehrwerts mit ihren fixen Formen von Rente, Profit, Zins als gegeben behandelt, (wird) von mir zunächst die allgemeine Form des Mehrwerts, worin all das sich noch ungeschieden, sozusagen in Lösung befindet, behandelt“, sagt Marx (MEW 32: 11). Wer Profit und Mehrwert gleichsetzt, verschleiert die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Im Profit erscheint der Mehrwert, als habe das Gesamtkapital ihn erzeugt. Dabei entspringt er dem variablen Kapitalteil, ist unbezahlte lebendige Arbeit (Müller 2016: 40 f., 63 f.). Die Arbeitszeit des Arbeiters gliedert sich in notwendige und in Mehrarbeitszeit. In der notwendigen Arbeitszeit erzeugt der Arbeiter ein Äquivalent seines Wertes, in der Mehrarbeitszeit schafft der Arbeiter Wert, der über seinen Wert hinausgeht. Das ist der Mehrwert, den sich der Kapitalist aneignet, konsumiert und in Kapital zurückverwandelt. Irritiert sind einige durch Marx’ Bemerkung: „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen und es kann ebenso wenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muss zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.“ (MEW 23: 180 f.) Michael Heinrich schlussfolgert daraus: „Reine Produktionstheorien von Wert und Mehrwert sind genauso falsch wie reine Zirkulationstheorien.“ (Heinrich 2017: 427 f.) Dabei ist die rabulistische Logik, wie der Hegelkenner Marx sie liebte, leicht aufgelöst: Mehrwert und Kapital entspringen nicht der Zirkulation, weil in ihr der Mehrwert nur verteilt und angeeignet werden kann. Bestünde die Gesellschaft nur aus Händlern und Finanzmarktakteuren, entstünde kein Quäntchen Wert. Mehrwert und Kapital entspringen doch der Zirkulation, weil der Kauf der Ware Arbeitskraft die Voraussetzung der Mehrwertproduktion ist und weil der Verkauf der Waren den Mehrwert glücklich in Geldform umwandelt. In diesem weiteren Sinne, im Sinne der Voraussetzungen und der Realisierung, „entspringt der Mehrwert der Zirkulation“. Im engeren Sinne entspringt er ihr nicht, sondern der Produktion.

Wert der Ware Arbeitskraft und ihr Preis

Der Wert der Ware Arbeitskraft wird prinzipiell so bestimmt wie der Wert jeder Ware: durch die Arbeitszeit, die zu ihrer Reproduktion nötig ist. „Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel (im umfassenden Sinne der Existenzmittel, d. Verf.), oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel.“ (MEW 23: 185) Nach Marx enthält der Wert der Arbeitskraft drei Bestandteile. Diese Wertstruktur hat sich im staatsmonopolistischen Kapitalismus erhalten. Doch gibt es Veränderungen innerhalb dieser Bestandteile. Erster Bestandteil ist der Wert der Existenzmittel, die zur Reproduktion, der Wiederherstellung und dem Erhalt der Arbeitskraft notwendig sind. Dieser Wert der Konsumtionsmittel wird bestimmt durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Produktion je Konsumgütereinheit und durch die Menge und Struktur des entsprechenden Warenkorbs. Die Menge der benötigten Konsumgüter ist dabei nicht allein durch physische Erfordernisse bestimmt. Historisch-moralische Einflüsse, wie das erreichte und erkämpfte Wohlstandsniveau eines Volkes, Gewohnheiten, Lebensansprüche, das Bildungs- und Kulturniveau, klimatische, natürliche Bedingungen sind gleichermaßen wichtig. Produktivitätsfortschritte mindern den Wert der Waren. Gleichzeitig haben sich die Anforderungen an die Reproduktion der Arbeitskraft, an die Gesunderhaltung und die Bedürfnisse der Arbeiter gegenüber dem Kapitalismus des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark erhöht. Dazu gehören neue Ernährungsgewohnheiten, Veränderungen bei Bekleidung, Wohnen, Freizeitgestaltung, Tourismus und Erholung, privater Mobilität und Verkehr, Kommunikation und anderen individuellen Bedürfnissen. Den zweiten Wertbestandteil der Arbeitskraft bildet der Wert der Existenzmittel, die zur „Verewigung“ der Arbeitskraft erforderlich sind. „Der Eigentümer der Arbeitskraft ist sterblich. Soll also seine Erscheinung auf dem Markt eine kontinuierliche sein, … so muss der Verkäufer der Arbeitskraft sich verewigen … Die Summe der zur Produktion der Arbeitskraft notwendigen Lebensmittel schließt also die Lebensmittel der Ersatzmänner ein, d.h. der Kinder der Arbeiter.“ (MEW 23: 185 f) Der Rückgang der Kinderarbeit und der steigende materielle Lebensstandard erhöhen, die Abnahme der Kinderzahl mindert den Wert der Arbeitskraft. Die Frauenarbeit wirkt sich widersprüchlich auf den Wert der Arbeitskraft aus: Arbeitet die Frau mit, sinkt der Wert der Arbeitskraft des Mannes. Zugleich steigen die Bedürfnisse der Frau. Einige ihrer Tätigkeiten werden aus dem Haushalt ausgelagert, müssen durch Fremdbezüge ersetzt werden. Das wirkt erhöhend auf den Wert der Arbeitskraft der Frau. Dritter Wertbestandteil ist der Wert der Existenzmittel, die für die Entwicklung der Arbeitskraft nötig sind. „Um die allgemeine menschliche Natur so zu modifizieren, daß sie Geschick und Fertigkeit zu einem bestimmten Arbeitszweig erlangt, entwickelte und spezifische Arbeitskraft wird, bedarf es einer bestimmten Bildung und Erziehung, welche ihrerseits eine größere oder geringere Summe von Wertäquivalenten kostet.“ (MEW 23: 186). Die Kosten für die schulische Bildung der Kinder, für die Berufsausbildung, Umschulung und Fortbildung sind gestiegen. Das bedeutet, dass die Reproduktion der Arbeitskraft durch Teile der gesellschaftlichen Konsumtion ergänzt wird, d.h. durch die Inanspruchnahme sozialer Leistungen des Staates.

Die Wertgröße der Arbeitskraft verändert sich. Wie, ist umstritten. Zwei widerstreitende Kräfte wirken auf sie ein: Die Produktivitätssteigerungen mindern den Wert der Existenzmittel und damit den der Arbeitskraft, die wachsenden Bedürfnisse und neuen Konsumtionsmittel, die die „Normalausstattung“ der Haushalte und Verbraucher ändern, erhöhen ihn. Auch die stärkere Anwendung komplizierterer Arbeit, steigende Bildungsausgaben und die wachsende Qualifikation der Arbeiter bewirken, dass der Wert der Arbeitskraft steigt. An der Erhöhung des Reallohnes könne man dies erkennen, so ein Argument. Steigender Wert der Arbeitskraft und steigende Reallöhne widerlegten Marx’ These der zunehmenden Ausbeutung.

Tabelle 1: Nominal- und Reallohn in Deutschland 1991 / 2016

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Memorandum 2017, AG Alternative Wirtschaftspolitik, Köln 2017, Tab. A9

Tabelle 1 zeigt, dass Nominal- und Reallöhne in den letzten 25 Jahren in Deutschland gestiegen sind. Von 1991 bis 2016 beträgt der Nettonominallohnzuwachs pro Monat 684 €. Das sind 59 Prozent. Die Preise steigen um 53,1 Prozent. So erhöhen sich die Reallöhne in dieser Zeit um 3,9 Prozent. Was heißt das? Im Basisjahr 1991 wird die reale Nettolohnsumme mit der Nettonominallohnsumme gleichgesetzt. Sie beträgt 1.159 € im Monat. Im Jahr 2016 beträgt die reale Nettolohnsumme 103,9 Prozent der Lohnsumme des Basisjahres 1991. Diesen Wert erhalten wir, indem wir den Nettolohnindex durch den Preisindex dividieren: (159 %: 153,1 %) × 100 % = 103,9 %. Die reale Nettolohnsumme beträgt damit 103,9 Prozent von 1.159 €. Das sind 1.204,20 €. Man kann auch so sagen: Vom nominalen Nettolohnzuwachs in Höhe von 684 € je Monat wurden 45 € konsumwirksam. 639 € wurden durch die Preissteigerungen aufgefressen. Das sind Durchschnittszahlen. Die Reallöhne entwickeln sich sehr unterschiedlich. In einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums heißt es, dass im Jahr 2015 die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent der Einkommensbezieher zum Teil deutlich niedriger waren als 1995. Seit den 1990er Jahren haben Haushalte mit niedrigen Einkommen reale Einkommensverluste in Höhe von fünf bis zehn Prozent erlitten. Haushalte mit hohem Einkommen hätten Einkommenszuwächse von über 25 Prozent erzielt.[1] Die Lohnungleichheit befindet sich auf „historisch hohem Niveau“.

Beweisen steigende Löhne, dass der Wert der Arbeitskraft gestiegen und die Ausbeutung gesunken ist? Die Wertgröße der Waren ist die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Sie ist die volle Arbeitszeit zur Herstellung des Produkts. Sie enthält zum einen die indirekte Arbeitszeit für die zur Produktion benötigten Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände, die das konstante Kapital c bilden. Das konstante Kapital wird durch die konkrete Arbeit auf die neuen Produkte übertragen. Zum anderen enthält sie die unmittelbar bei der Produktion geleistete abstrakte lebendige Arbeit, die dem auf die Produkte übertragenen Wert neuen Wert hinzufügt. Der neue Wert besteht aus dem variablen Kapital v, das für Arbeitskräfte ausgegeben wird und dem Mehrwert m. Die Wertgröße besteht folglich aus den Bestandteilen c v m. Die Waren können die zu ihrer Herstellung benötigte Zeit nicht unmittelbar ausdrücken. Sie drücken sie in einer anderen Ware aus, der Geldware. Der Lohn ist der Preis der Arbeitskraft. Wie der Preis der Geldausdruck des Wertes der Ware, so ist der Lohn der Geldausdruck für den Wert der Arbeitskraft. Die Schwierigkeit, den Wert der Ware Arbeitskraft zu messen, ist die gleiche, auf die wir stoßen, wenn wir den Wert der gewöhnlichen Ware messen wollen: Es fehlen Arbeitszeitrechnungen. Wie jeder Wert, kann der Wert der Arbeitskraft nur als Preis, d.h. als Arbeitslohn, ausgedrückt werden. Dieser Geldausdruck hängt aber auch vom „Wert“ oder der Wertrepräsentanz des Geldes ab. Daher ist es möglich, dass die Löhne, obgleich Geldausdruck des Wertes der Arbeitskraft, sich anders verhalten können, als der Wert selbst. Löhne können steigen, obwohl der Wert der Arbeitskraft sinkt, und sie können sinken, obwohl der Wert der Arbeitskraft steigt. Die Zunahme der Nominallöhne beweist nicht, dass der Wert der Arbeitskraft zugenommen hat. Folgen wie seit langem die Preise nicht den Wertsenkungen der Waren, sondern steigen sie, dann werden geringere Werte in höheren nominalen Geldbeträgen ausgedrückt. Das betrifft ebenso den Lohn: Sinkender Wert der Arbeitskraft und steigende Nominallöhne sind kein Widerspruch.

Und wie steht es um das Verhältnis zwischen dem Wert der Arbeitskraft und dem Reallohn? Der „Unterschied zwischen dem Tauschwert der Arbeitskraft und der Masse der Lebensmittel, worin sich der Wert umsetzt, erscheint jetzt als Unterschied von nominellem und reellem Arbeitslohn.“ (MEW 23: 565) Der Reallohn zeigt, wie Bedürfnisse befriedigt werden. Er drückt die Menge der kaufbaren Güter aus. Mit der Erfassung der Gütermenge und ihrer Struktur wird ein den Wert der Arbeitskraft beeinflussender Faktor erfasst. Wird dieser Faktor verabsolutiert, scheint es, als ob der Wert der Arbeitskraft steige, wenn die Arbeiter höhere Reallöhne beziehen und ihre Bedürfnisse besser befriedigen können, und als ob er sinke, wenn bei niedrigeren Reallöhnen die Arbeiter ihre Bedürfnisse nur mehr schlechter befriedigen können. In allen Ländern steigen die Reallöhne langsamer als die Nominallöhne, weil es in allen Ländern Inflation gibt. Damit ist nirgendwo entschieden, ob mit dem Reallohn der Wert der Arbeitskraft erreicht ist, d.h. ein Subsistenzmittelquantum verfügbar ist, das den Aufwand zur Reproduktion der Arbeitskraft deckt, von den in den Wert der Arbeitskraft eingehenden Teilen der gesellschaftlichen Konsumtion abgesehen. Der Reallohn gibt die Menge der Güter an, die der Arbeiter kaufen kann. Er gibt nicht die Dauer der Arbeitszeit an, die zur Produktion dieser Gütermenge nötig ist. Der Wert der Arbeitskraft ist weder identisch mit dem Nominallohn, obgleich er in Geld ausgedrückt wird, noch stimmt er mit dem Reallohn überein, obgleich er sich auf ein bestimmtes Quantum Subsistenzmittel bezieht. Und: Ein Anstieg der Löhne zeigt nicht per se, dass sich die Ausbeutung – die Aneignung von Mehrwert, von unbezahlter lebendiger Arbeit – verringert hat. Erst ein Vergleich der Profitentwicklung mit jener der Löhne ermöglicht Einsichten.

Wert der Ware Arbeitskraft und Verteilung

Eigentlich müsste ermittelt werden, wie sich das Verhältnis der Mehrarbeitszeit zur notwendigen Arbeitszeit, der Umfang der unbezahlten zur bezahlten lebendigen Arbeit verändert hat. Da wir aber den Wert nicht in Arbeitszeit ausdrücken, können wir dies auch nicht mit seinen Teilen, der indirekten Arbeitszeit, der bezahlten und unbezahlten direkten Arbeitszeit tun. Wir sind auf monetäre Analysen angewiesen, und schließen aus ihren Proportionen auf die diesen zugrunde liegenden Arbeitszeiten. Zwar gibt es keine Arbeitszeitrechnungen, prinzipiell möglich sind sie sehr wohl (Müller 2015: 64-72). Marx verknüpft die Entwicklungstendenz der Einkommensverteilung mit den anderen Elementen des politökonomischen Systems. Als Ergebnis ergibt sich, dass die Profitrate p’ als das Verhältnis des Mehrwertes m zum vorgeschossenen Gesamtkapital C tendenziell sinkt (Vgl. Müller 2016: 91-130). Die von den Arbeitern geschaffene Mehrwertmasse steigt absolut, geht aber im Vergleich zum Gesamtkapital zurück. Der Anteil des Profits (bzw. des Mehrwertes) am Neuwert bzw. Volkseinkommen m/v+m steigt, weil das Verhältnis von Mehrwert zum variablen Kapital – die Mehrwertrate m’, d.h. der Ausbeutungsgrad m/v – zunimmt, und der Anteil des variablen Kapitals am Gesamtkapital v/c+v sinkt. Das variable Kapital ist das vom Kapitalisten zum Kauf von Arbeitskräften vorgeschossene Kapital. Die Arbeitskräfte werden, wie bereits gesagt, in Höhe ihres Werts bezahlt. Der Anteil des Lohnes am Neuwert (Volkseinkommen) v/v+m sinkt. Die Profitmasse und der Anteil des Profits am Volkseinkommen wachsen, obgleich die Profitrate tendenziell fällt. Dem Fall versuchen die Kapitalisten durch eine verstärkte Akkumulation entgegenzuwirken, mit dem Effekt, dass sie ihn über die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals immer wieder neu begründen.

Die Empirie bestätigt die verteilungstheoretischen Zusammenhänge. Das Volkseinkommen ist die Summe aller Einkommen aus unselbständiger Arbeit (Löhne, Gehälter, Honorare) und den Einkommen aus Unternehmertätigkeit (Gewinne) und Vermögen (Zinsen, Mieten, Pachten, Dividenden). Lohnquote nennt man den Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen. Die Bruttolohnquote gibt an, wie groß der Anteil des Bruttolohns, die Nettolohnquote, wie groß der des Nettolohns am Volkseinkommen ist. In der marxistischen Terminologie handelt sich um den Ausdruck v/v+m. Tabelle 2 zeigt, dass die Bruttolohnquote in Deutschland von 1950 bis 1980 steigt, danach geht sie zurück. Sie ist im Jahre 2015 höher als im Jahr 1950. Daraus zu schließen, dass sich die Verteilung des Volkseinkommens zugunsten der Bezieher von Löhnen geändert habe, wäre voreilig. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen kann steigen, weil die Anzahl der Lohnarbeiter an der Gesamtbeschäftigung gestiegen ist, ohne dass der Einzelne besser vergütet wird. Die „beschäftigtenstrukturbereinigte’ Lohnquote korrigiert diesen Einfluss. Sie zeigt, wie groß die Bruttolohnquote in einem beliebigen Jahr gewesen wäre, wenn es so viele Arbeiter und Unternehmer wie im Basisjahr 1950 gegeben hätte. Wir ermitteln sie mit folgender Formel: Beschäftigtenstrukturbereinigte Lohnquote = (Bruttolohnquote des jeweiligen Jahres × konstante Arbeitnehmerquote des Jahres 1950) dividiert durch die Arbeitnehmerquote des jeweiligen Jahres. Im Basisjahr (hier 1950) ist sie so groß wie die unbereinigte Quote.

Tabelle 2: Arbeitnehmerquote, unbereinigte und beschäftigtenstruktur-bereinigte Bruttolohnquote

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt und H. Adam, Bausteine der Wirtschaft, 16. Aufl., Wiesbaden 2015, S. 208; bis 1990 altes Bundesgebiet

An der beschäftigtenstrukturbereinigten Lohnquote erkennen wir, dass sich die Einkommensverteilung zugunsten der Kapitaleigner ändert. Noch deutlicher wird dies, wenn man zwei weitere Verteilungskennziffern zu Rate zieht. Die „Einkommensposition“ ist gleich der Relation zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen der „Arbeitnehmer“ und dem Volkseinkommen pro Kopf der Erwerbstätigen. Die Kennzahl informiert darüber, wie der einzelne im Durchschnitt partizipiert an der Veränderung des Anteils der Löhne am Volkseinkommen. Die „Verteilungsposition“ ist der Quotient aus dem Pro-Kopf-Einkommen der „Arbeitnehmer“ und dem Pro-Kopf-Einkommen der Selbständigen. Beide Kennziffern sind in Deutschland über einen langen Zeitraum hinweg gesunken (vgl. Müller 2015: 431-435). Ursache ist die Konzentration und Monopolisierung der Wirtschaft, die es den Unternehmern erleichtert, ständig die Preise zu erhöhen. Die Gewerkschaften orientierten sich mit ihrer produktivitätsorientierten Lohnpolitik am globalen Verhältnis der Löhne zum Volkseinkommen. Aufgrund der unterschiedlichen „Gruppenstärke“ – mehr Arbeiter als Kapitalisten – stiegen die Durchschnittseinkommen der „Arbeitnehmer“ langsamer als die der Unternehmer. Die Verteilungsposition der „Arbeitnehmer“ verschlechterte sich. Sie entspricht dem relativen Pro Kopf- Lohn. Der relative Lohn ist das Verhältnis des Arbeitslohnes zum Gewinn, zum Profit des Kapitalisten (MEW 6: 413), der Kehrwert der in Geld ausgedrückten Mehrwertrate. Er drückt den Lohn in Prozent des Gewinns aus. Die Berechnungen sind schwierig und zeigen unterschiedliche Ergebnisse. Mangels statistischer Angaben sind zuweilen Schätzungen nötig. So schwanken die Mehrwertraten in den USA bei Carchedi von 1947 bis 2010 zwischen 9 und 50 Prozent. (Carchedi 2013: 854) Krüger errechnet für etwa den gleichen Zeitraum Mehrwertraten zwischen 117 und 188 Prozent. (Krüger 2010: 892f), Tammer bis Mitte der 1970er Jahre für die BRD bis zu 300 Prozent, für die USA sogar darüber (Tammer 1977: 19). Die Ursachen für die Abweichungen liegen in unterschiedlichen Berechnungsmethoden. Manchmal wird die nichtkapitalistische Warenproduktion ausgesondert, werden die Unterschiede zwischen produktiven und unproduktiven Sektoren beachtet oder wird die gesellschaftliche Konsumtion einbezogen, manchmal nicht. Jede Methode ist ungenau. „Daher sollte man über die größere oder geringere Exaktheit von dargestellten Mehrwertraten in der Literatur nicht rechten.“ (Holzapfel/Klemm 1981: 95f)

Obgleich die Zahlen zeigen, dass sich die Verteilung des Volkseinkommens zugunsten der Profite verschiebt, erlauben sie keinen exakten Blick auf die Unterschiede zwischen den Einkommen der Kapitalisten und der Arbeiter. Sie beruhen auf den Angaben der bürgerlichen Statistik. So werden die Lohnquoten auf Basis der „Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit“ ermittelt. Diese Größe enthält neben der Bruttolohn- und gehaltsumme auch die Sozialaufwendungen der „Arbeitgeber“, v.a. deren Beiträge zur Sozialversicherung der „Arbeitnehmer“. Diese kommen den Arbeitern und Angestellten zugute. Man könnte auch eine Nettolohnquote – Lohnquote nach Abzug aller Sozialabgaben und der Lohnsteuer – ermitteln. Sie liegt in etwa zwischen 40 und 60 Prozent der Bruttolohnquote. Zum Nettolohn müssten empfangene monetäre Sozialleistungen und die Gewinn- und Vermögenseinkommen der Arbeiter (z.B. Mieten, Zinsen, Dividenden, Kursgewinne) hinzugefügt werden, um die Quote des verfügbaren Einkommens der Arbeitnehmer am Volkseinkommen zu berechnen. Weder die Lohnquoten, noch Einkommens- und Verteilungspositionen bilden die Ungleichheit zwischen Kapitalisten und Arbeitern korrekt ab. Der Lohn, den im Jahre 1970 ein Arbeiter im Durchschnitt erhielt, machte nach Angaben der offiziellen Statistik 37 Prozent des Gewinns eines „Durchschnittskapitalisten“ aus. Bis zum Jahr 2015 war das Verhältnis auf 24 Prozent zurückgegangen. Das bedeutet, dass der Kapitalist jetzt im Durchschnitt das Vierfache eines Arbeiters verdient. Diese Zahlen zeigen die Tendenz richtig an, verniedlichen aber die Schieflage in der Einkommensverteilung erheblich. Man muss beachten, dass zu den Beziehern des „Einkommens aus unselbständiger Arbeit“ vom unqualifizierten Hilfsarbeiter über gut bezahlte Ärzte in Kliniken bis zu den hochvergüteten Managern der Großkonzerne Einkommensempfänger unterschiedlicher sozialer Herkunft gezählt werden. Die letzten gehören der Kapitalistenklasse an. Jeder Vorstandschef der dreißig DAX-Unternehmen hat ein Jahreseinkommen über mehrere Millionen Euro. Der Klassencharakter der Verteilung wird durch die Einbeziehung der Topverdiener kaschiert, der Einkommensdurchschnitt der Gruppe zu hoch ausgewiesen. Zwar ist richtig, dass die Einkünfte, die Unselbständige aus Kapitaleinkommen beziehen, wie Zinsen und Mieten, nicht erfasst werden. Sie fallen jedoch quantitativ kaum ins Gewicht und mindern die Aussagekraft der Lohnquote als Indikator der Einkommensverteilung wenig. Kleine Handwerker, Dienstleistende, Händler und die so genannten Scheinselbständigen dagegen, die durch Gründung eines wackligen „Unternehmens“ sich der Arbeitslosigkeit zu entziehen versuchen und oft nicht mehr als ein „gewöhnlicher“ Arbeiter verdienen, beziehen Einkommen aus Unternehmertätigkeit. Fasst man die finanzstarken Unternehmer, die Mono- und Oligopolisten zusammen mit den Krämern, den Scheinselbständigen, kleinen Gewerbetreibenden, fliegenden Händlern und „Bauchladenbesitzern“, wird ein zu niedriger Durchschnitt der Gruppe ausgewiesen. Ein korrekter Ausweis der Einkommensverteilung auf Basis der Zahlen der offiziellen Statistik erfordert Umrechnungen, die ohne Annahmen und zum Teil auch Schätzungen nicht auskommen. Ich habe das vor langer Zeit einmal versucht. (siehe Müller 1980: 29-43)

Theoretisch ist die Frage interessant, ob steigende Mehrwertraten und die fortwährende Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten der Kapitalisten mit einem Anstieg des Wertes der Ware Arbeitskraft vereinbar sind (Vgl. IMSF 1980). Einige marxistische Ökonomen der DDR waren der Meinung, dass der Wert der Arbeitskraft nicht steigen könne (Holzapfel/Klemm u.a. 1981: 65 ff.). Ein solches Steigen stehe entweder im Widerspruch zur relativen Mehrwertproduktion und damit zur Erhöhung der Mehrwertrate, oder sie sei unvereinbar mit der durch den Produktivitätsanstieg bewirkten generellen Wertsenkung der Waren. Auf das eine könne der Kapitalismus nicht verzichten, das andere sei unvermeidlich. Beide Konsequenzen – die Senkung der Mehrwertrate und die Erhöhung der Wertgröße – müssten ausgeschlossen werden. Es muss jedoch beachtet werden – ohne behaupten zu wollen, der Einwand widerspiegele die Realität richtig –, dass ein steigender Gesamtarbeitsaufwand und damit eine höhere Wertsumme mit sinkendem Wert pro Produkt, steigendem Wert der Arbeitskraft und der Erhöhung der Mehrwertrate vereinbar ist. In einer solchen Variante wird der Produktivitätsdynamik gegenüber der Neuwertbildung die dominierende Rolle zugeschrieben. Der Einsatz komplizierter Arbeit erfolgt in größerem Umfang und die Verdichtung des Arbeitstages, d.h. die Arbeitsintensität, nimmt zu. Die Erhöhung des Wertes der Arbeitskraft kollidierte unter diesen Bedingungen nicht mit dem Ziel der kapitalistischen Produktion noch stünde sie im Widerspruch zu Produktionsfortschritten. Auch wenn angenommen werden kann, dass eine solche Konstellation der Intensivierung der kapitalistischen Ausbeutung gerecht wird, beweist sie nicht, dass der Wert der Arbeitskraft steigt. Wohl aber zeigt sie, dass eine solche Steigerung nicht zwangsläufig mit einer Erhöhung der Mehrwertrate und einer Senkung des Wertes pro Produkt unvereinbar sein muss.

Fazit

Ausbeutung ist die Aneignung von unbezahlter lebendiger Arbeit. Ihre Zunahme äußert sich in steigenden Profiten, der Erhöhung der Mehrwertrate und sinkenden Lohnquoten. Sie ist mit einer Hebung des materiellen Lebensstandards der Arbeiter vereinbar, die im Anstieg der Reallöhne zum Ausdruck kommt. Steigende Löhne wiederum sind kein Widerspruch zur Senkung des Wertes der Ware Arbeitskraft. Die Entwicklungstendenz des Wertes der Arbeitskraft ist strittig. Sie hängt ab vom Produktivitätsfortschritt und Bedürfniswandel, die sich gegensätzlich auf sie auswirken. Ein für möglich gehaltener Anstieg des Wertes der Arbeitskraft ist mit einem Anstieg der Mehrwertrate vereinbar.

Literatur

Barthel, Georg/Rottenbach, Jan (2017), Reelle Subsumtion und Insubordination im Zeitalter der digitalen Maschinerie. Mit-Untersuchung der Streikenden bei Amazon Leipzig, in: Prokla Heft 187, S. 249-269.

Butterwegge, Christoph (2016), Armut, Köln.

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[1] ttps://www.jungewelt.de/artikel/316823.zypries-entdeckt-die-lohnungleichheit.html, 23.08.2017.

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