Streiks und Gewerkschaften

Gewerkschaftlicher Kampf & Ostwind

von Rolf Geffken
Dezember 2017

Zur Dialektik von Streik, Recht und Gewerkschaften: Gewerkschaftspolitik in Ostdeutschland in den frühen 1990er Jahren

In einem Land mit stark verrechtlichten Arbeitsbeziehungen und einer starken Rechtsgläubigkeit in der arbeitenden Bevölkerung steht der gewerkschaftliche Kampf, vor allem der Streik, in einem widersprüchlichen und ständigen Veränderungen unterworfenen Verhältnis zum Recht, vor allem zum Arbeitsrecht. Beide Phänomene beeinflussen sich. Aber es geschieht auf sehr unterschiedliche Weise, je nach den verschiedenen historischen Phasen.[1] Um dem Thema vor allem auch in Bezug auf die Entwicklung in Ostdeutschland gerecht werden zu können, muss man zunächst auf die (bislang kaum untersuchten) dialektischen Beziehungen zwischen Streik, Recht und Gewerkschaften im Westdeutschland der 1950er bis 1990er Jahre eingehen.[2] Und diese sodann mit der ostdeutschen Entwicklung am Anfang der 1990er Jahre vergleichen.

Westdeutschland

Phase 1

Als Reaktion auf offene und breite Massenstreiks in den Jahren von 1948-1956 sowie der Zuspitzung des Kalten Krieges kam es zu einer staatlichen Repression gegen Bewegungen an den Rändern der Gewerkschaften und gegen die Gewerkschaften selbst. Entgegen dem verfassungsrechtlich garantierten Streikrecht verfolgte das neu etablierte aber von dem Nazijuristen Hans Carl Nipperdey[3] präsidierte Bundesarbeitsgericht eine Politik der Einhegung der Gewerkschaften und zwar überwiegend abseits der existierenden Rechtsnormen. An die Stelle des Streikrechts trat die Illegalisierung des politischen und des „nichtgewerkschaftlichen“ Streiks sowie – durch den Gesetzgeber – die Etablierung eines Arbeitskampfverbotes in der Betriebsverfassung. Gewerkschaftliche und betriebliche Praxis hatte zur Gegenreaktion in Gesetzgebung und „höchstrichterlicher Rechtsprechung“ geführt.

Phase 2

Auf Seiten der Gewerkschaften kam es zu einer Verinnerlichung der durch Rechtsprechung und „politischen Konsens“ gezogenen Grenzen und damit zu einer erheblichen Reduzierung des gewerkschaftlichen Handlungsspielraums. Dies führte zu einem Rückgang der Anzahl von Streiks, mindestens aber zu deren Eingrenzung auf Branchen und Betriebe. Die Adaption der „herrschenden Rechtsprechung“ führte zu einer zunehmenden Dominanz von Rechtsdenken und Rechtsprechungsgläubigkeit bei den Gewerkschaften und einer „Friedens- und Konsensstrategie“ von Betriebsräten.

Phase 3

Mit den Spontanstreiks 1969 und 1973 setzte allmählich ein Paradigmenwechsel auch im „juristischen Überbau“ ein: Der „wilde Streik“ war angeblich verboten, fand aber dennoch statt. Vertieft wurde dieses „Nachdenken“ durch die Arbeitskämpfe der IG Metall 1971 und 1973 sowie die Auseinandersetzung um das Thema Aussperrung auch beim so genannten IG-Druck-Streik 1984.[4] Der IG Metall-Kongress Streik und Aussperrung 1973 und die Etablierung von 2 bedeutenden kritischen Juristen-Zeitschriften[5] 5bewirkte die partielle Konsensfähigkeit einer „alternativen Rechtsinterpretation“. Die gewerkschaftliche Praxis spiegelte sich auf diese Weise in Veränderungen innerhalb der Rechtsprechung wider. Der Gesetzgeber reagierte mit partiellen Reformen in der Betriebsverfassung („mehr Demokratie wagen“)

Phase 4

Im weiteren Verlauf kam es Anfang der 1980er Jahre zu einer allmählichen Auflösung der bisher vom BAG errichteten Streikgrenzen, insbesondere der Warnstreiks, beweglichen Streiks sowie Solidaritätsstreiks und schließlich beim Flashmob im Jahre 2009. Insoweit spiegelte die Rechtsprechung eine offensivere gewerkschaftliche Praxis wider. Allerdings reagierte der Gesetzgeber 2015 mit der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes auf diese Situation. Wie bei der Illegalisierung des Spontanstreiks galt es den Aktionsradius weniger kontrollierter Gewerkschaften zu beschränken. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften inzwischen ihren eigenen Spielraum durch die Duldung der Spaltung der Beschäftigten in Stamm- und Fremdbeschäftigte wieder selbst eingeschränkt hatten.

In einem langen und gut 60 Jahre währenden Prozess reagierte der Gesetzgeber nur verhalten und punktuell, umso mehr aber die Rechtsprechung auf die gewerkschaftliche Praxis. Die Gewerkschaften ihrerseits unterwarfen sich dem von der Rechtsprechung eingeschränkten Handlungsspielraum. Erst allmählich führte die Wiederentdeckung des Streiks auch zur Auflösung einiger Positionen der herrschenden Jurisprudenz.[6] Als Fazit ließe sich sagen: Ohne Rückbesinnung auf Praxis wurde und wird der von der Rechtsprechung verbliebene Handlungsspielraum weiter oder wieder eingeschränkt. Von Dauer ist in diesen Beziehungen nichts.

Ostdeutschland

Phase 1

Im Gegensatz zur Phase 1 während des so genannten „Wiederaufbaus“ und des Kalten Krieges in Westdeutschland waren die Streiks in der Phase der Transformation der DDR-Ökonomie vor allem Abwehrkämpfe und keine Offensivstreiks. Gleichzeitig fehlte den Belegschaften – bis auf wenige Ausnahmen – jegliche Kampferfahrung, auf die sie hätten zurückgreifen können. Die Gewerkschaften wurden nicht umgebaut oder ersetzt sondern gingen in den „Rechtsnachfolger“ westdeutsche Gewerkschaft auf. „Entsandte“ westdeutsche Gewerkschafter zeigten nach einer kurzen Phase der selbstorganisierten Orientierung den ostdeutschen Kollegen „wo es lang geht“. Die Rolle der Treuhand zeigte zudem den Staat als direkten Agenten der Unternehmer und gleichzeitig führte die überwiegend paternalistische Einstellung der in den Osten gesandten West-Gewerkschafter dazu, dass aus Ansätzen von Arbeitskämpfen keine allgemeine Bewegung etwa für den Stopp der Deindustrialisierung des Ostens werden konnte.

Die spezifische Art der „Einhegung“ von Arbeitskämpfen und Arbeitskampfbereitschaft wich allerdings von der Phase 1 unter den westdeutschen Verhältnissen Anfang der 1950er Jahre dadurch ab, dass es nicht darum ging, bereits eingeleitete und überhand nehmende Massenstreiks zu bekämpfen, sondern eben darum, einem zu erwartenden Widerstand prophylaktisch zu begegnen. Hinzu kommt, dass die Deindustrialisierung selbst zum wesentlichen Angstfaktor bei der Verhinderung von Kampfbewusstsein der Arbeitnehmer wurde.

Bei der „Übernahme“ der ostdeutschen Gewerkschaftsstrukturen durch die DGB-Gewerkschaften spielten solche Fragen freilich keine Rolle. Die Organisation als solche wurde gefeiert. In ihrer Chronik über „Gewerkschaften und die deutsche Einheit“ stellt die Einzelgewerkschaft ver.di rückblickend zum Oktober 1990 fest: „Die Gewerkschaften sind gut aufgestellt für ihre Arbeit im vereinten Deutschland“[7] und verweist dann auf die „hervorragenden Ergebnisse“ der Wahlen zu den Personalvertretungen auf dem Gebiet der DDR. Doch ziemlich ernüchternd stellte der damalige HBV-Vorsitzende Lorenz Schwegler auf dem außerordentlichen .Kongress 1990 fest: „Die Aufbauarbeit in den Ländern jenseits der Elbe hat in Wirklichkeit keines der alten HBV-Probleme, übrigens auch keines der alten DGB-Probleme gelöst... Wir haben die Frage noch nicht beantwortet, was denn über alle Einzelinitiativen ... hinaus die tragenden Säulen sind, die Gewerkschaften über ihre Eigenschaft, Schutz- und Widerstandsorganisation der abhängig Beschäftigten zu sein, zu einer politischen Bewegung machen.“[8]

Phase 2

Ein politischer Neuanfang wurde nicht gewagt. Vielmehr wurde eine Anpassung an den im Westen vorhandenen Kurs des sozialpartnerschaftlichen Konsenses vorgenommen. Die Mitwirkung von aus Westdeutschland entsandten Gewerkschaftssekretären führte zu einer „Einpassung“ der ostdeutschen Arbeitnehmerschaft in das in Westdeutschland bestehende Kräfteverhältnis, einschließlich der Übernahme des fragmentierten westdeutschen Arbeitsrechts und der dazugehörigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Erleichtert wurde dieser Prozess durch die – paradoxerweise – in beiden deutschen Staaten schon vor der Wende bestehende Rechtsgläubigkeit innerhalb der Arbeiterschaft. Kurios genug: Im Wahlkampf zur letzten DDR-Volkskammer spielte nicht nur die Chimäre vom westdeutschen Kündigungsschutz eine herausragende Rolle. Vielmehr gab es auch in Bezug auf die Rettung des DDR-Arbeitsrechts grundlegende politische Illusionen.[9]

Allerdings bestand auch damals das Arbeitsrecht vor allem aus dem Kollektiven Arbeitsrecht, also insbesondere den Tarifverträgen. Hier gab es vor allem unter ostdeutschen Gewerkschaftern die Hoffnung auf weitgehende Sicherung vorhandener Standards, später auch auf Angleichung an Weststandards durch dieses Instrument. Doch genau bei diesem Instrument setzten die Unternehmer an. Sie verfolgten dabei – anders als die Gewerkschaften – unverhohlen eine politische Strategie. Das kollektive Tarifvertragssystem und die Existenz der Gewerkschaften wurden ihnen zum unmittelbaren Angriffsziel.

Phase 3

Zunächst gelang es den Gewerkschaften in der Metallindustrie einen Stufenplan über eine Angleichung der Ostlöhne an die Westlöhne durchzusetzen. Dieser relative Erfolg dürfte jedenfalls auf das unmittelbar nach der Wende günstige Kräfteverhältnis und eine gewisse Stärke der Gewerkschaften – vor allem der IG Metall – zurückzuführen gewesen sein. Doch schon bald bliesen Bundesregierung und Arbeitgeber zum „rollback“. Plötzlich mutierten die neuen Bundesländer zum Exerzierfeld einer Destabilisierung des Tarifvertragssystems insgesamt und der Tarifautonomie. Gleichzeitig kam es im Zuge der Deindustrialisierung zu einem rapiden Verfall des Arbeitsmarktes.[10] Innerhalb von 1,5 Jahren gingen bis Mitte 1992 mehr als eine halbe Mio. Arbeitsplätze verloren. Die Arbeitgeber nutzten die Chance und kündigten einen laufenden Tarifvertrag „fristlos“. Die Treuhand unterstützte das rechtswidrige Vorgehen der Arbeitgeber. Die IG Metall rief zu Warnstreiks auf, an denen sich fast 100 000 Arbeitnehmer in über 220 Betrieben beteiligten.[11]

Es kam erstmals in Ostdeutschland zu Urabstimmungen und schließlich zu einem großen Arbeitskampf. Die „Frankfurter Rundschau“ sprach von einem „politischen Streik“, weil er geführt wurde für die „Einhaltung des politischen Angleichungsversprechens“.[12] Tatsächlich war es ein Streik, der um einen Grundpfeiler der Tarifautonomie geführt wurde, nämlich um den Erhalt rechtsgültiger Tarifverträge. Reinhard Bispinck resümierte später, der Arbeitskampf habe bestätigt, dass soziale Grundrechte immer wieder, notfalls auch kampfweise, gesichert werden müssten.[13]

Der relative Erfolg des Streiks war umso erstaunlicher, als es in ihm auch um die Herstellung von Glaubwürdigkeit seitens der Gewerkschaft ging, wurde doch die Gewerkschaft in Ostdeutschland immer noch eher als Service-Einrichtung denn als originäre Arbeitnehmerorganisation betrachtet.[14] Zudem ging es um die Abwehr eines Angriffes auf die Gewerkschaften selbst, ähnlich dem Angriff der Arbeitgeber beim Streik der Hamburger Hafenarbeiter und Seeleute im Jahre 1896, der für die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung eine herausragende Rolle spielt.[15]

Kein geringerer als der Arbeitsrechtler Kurt Biedenkopf konstatierte dies, als er feststellte: „Die Streikbereitschaft wächst mit dem Gefühl der Gefährdung … der eigenen Organisation. Wenn die Leute das Gefühl gewinnen, dass die Organisation, die sie beschützt, kaputt gemacht werden soll, dann ist die Streikbereitschaft groß.“[16]

Phase 4

Während der Versuch, eine Zerstörung der Tarifautonomie in Ostdeutschland auf direktem Weg zu erreichen, gestoppt werden konnte, wirkte sich der auch Anfang der 1990er Jahre noch nicht gestoppte Prozess der Deindustrialisierung verheerend auf die Tariflandschaft Ostdeutschlands aus. 2015 waren nur noch 37 Prozent der Betriebe im Osten (gegenüber 51 Prozent im Westen)[17] tarifgebunden und – schlimmer noch – auch 27 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ blieb das Versprechen des Einigungsvertrages nach Schaffung eines einheitlichen Arbeitsgesetzbuches unerfüllt.

Fazit

Eine Dialektik von Streik, Recht und Gewerkschaften kann sich nur dann entfalten, wenn es überhaupt eine relevante Gewerkschaft in der Praxis gibt, also eine über eine längere Zeit anhaltende Bewegung in Richtung auf gewerkschaftliche Gegenmacht. Im Falle Ostdeutschlands wurden vorhandene Ansätze dazu durch die Politik der Deindustrialisierung und des gigantischen Arbeitsplatzabbaus konterkariert. Auf diese Weise wurde nicht kollektive Solidarität zu individuellen Erfahrung, sondern die staatlich organisierte Einübung in Arbeitsplatzangst wurde zur wichtigsten Erfahrung der einzelnen Beschäftigten.

Zwar haben auch westdeutsche Beschäftigte ähnliche Erfahrungen gemacht. Doch nur in Ostdeutschland war der sozialpolitische Absturz trotz aller Gegenwehr mit einem nachhaltigen Paradigmenwechsel verbunden. Zu Recht weisen Heering und Schroeder darauf hin, dass sich die ostdeutschen Betriebsleitungen im Zeitpunkt der Wende „mit Werktätigen konfrontiert (sahen), die arbeitsrechtlich eine starke Stellung inne hatten.“[18] Das unterschied die Lage der ostdeutschen Arbeiter erheblich von derjenigen der westdeutschen. Allerdings war die Lage der ostdeutschen Arbeiter zu Beginn der Wende durchaus vergleichbar mit der Situation nach der Niederschlagung des Faschismus 1945 in Gesamtdeutschland. Die politischen Kräfteverhältnisse in diesen beiden Phasen des Umbruches waren nämlich ganz andere als davor und auch danach. Es wird bisweilen gerne vergessen, dass das Arbeitsrecht, das den Außenstehenden (auch den Soziologen und Historikern) meist nur ein Achselzucken entlockt, seine Entstehung jeweils grundlegend veränderten Kräfteverhältnissen verdankt. So absurd es klingt: Es bedurfte in Deutschland einer Revolution, nämlich derjenigen von 1918, um den Unternehmern das Zugeständnis eines gesonderten Arbeitnehmerschutzrechts (Arbeitsrechts) zu entlocken.[19]

Eben deshalb sind wir heute weiter denn je von einem einheitlichen Arbeitsgesetzbuch entfernt. Es steht im Grundgesetz, ist aber nicht in die Wirklichkeit vorgedrungen. Eine der wesentlichen Ursachen dafür ist, dass der Aufbruch der ostdeutschen Arbeiterschaft nach 1990 und die Verteidigung dieses Aufbruches in den Arbeitskämpfen von 1993 nicht von Bestand waren. Mehr noch: Das Arbeitsrecht wurde in Ostdeutschland in weiten Bereichen durch das Sozialrecht abgelöst. Das Sozialrecht seinerseits wurde der „siegreichen“ bürgerlichen Ökonomie zum Kainsmal einer scheinbar besiegten Arbeiterklasse. Aber auch dieses Sozialrecht durfte eine geschwächte Arbeiterklasse nicht dauerhaft in Sicherheit wiegen. So konstatiert das Kieler Institut für Weltwirtschaft in der Analyse „Der ostdeutsche Arbeitsmarkt“: „Kinder, die mit einem silbernen Löffel im Mund geboren werden, haben es schwer, autarke (!) Erwachsene zu werden. Wird eine problemlose Transformation zum freien Markt gewünscht, stellt sich heraus, dass die Silberlöffelmethode eher hinderlich statt förderlich ist.“[20]

Deutlicher lässt sich die staatlich sanktionierte Verachtung einer jedenfalls zeitweise geschlagenen Arbeiterklasse nicht ausdrücken. Aber sie wird mit der Zunahme gewerkschaftlicher Praxis keinen Bestand haben.

Nachtrag

Der Beitrag sollte ursprünglich auf der Tagung „Ostwind“ in Berlin vom 23.06.2017 bis 24.06.2017 gehalten werden. Allerdings nahm diese Tagung einen derart ungewöhnlichen Verlauf, dass der Verfasser auf den geplanten Vortrag verzichtete und stattdessen einen freien Vortrag zum Thema „Was waren und was sind Betriebsräte?“ hielt. Warum?

Der Titel der Tagung knüpfte an den Namen der Zeitung der „Initiative ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute“ an, die von Anfang 1992 bis Ende 1993 die ostdeutsche „Betriebsrätebewegung“ begleitete. Kennzeichnend für diese „Bewegung“ war die Fokussierung auf die nach der „Wende“ neu gewählten Betriebsräte, die in den ostdeutschen Betrieben die Interessenvertretung der Beschäftigten anstelle des FDGB übernahmen und diese durchaus deutlicher als die nunmehr „gesamtdeutschen“ Gewerkschaften vertraten.

Doch förderte die Tagung ein aus Sicht des Verfassers völlig inakzeptables Verständnis der Institution des Betriebsrates zu Tage. In zahlreichen Beiträgen wurde zugleich deutlich, dass die immerhin fast 40 Jahre langen Erfahrungen mit Betriebsräten in Westdeutschland (1952 bis 1992) völlig ausblendet und nahezu als nicht existent betrachtet wurden. Kritische Sichtweisen auf die Institution Betriebsräte, die politischen Intentionen der Regierung Adenauer im Jahre 1952 und die rechtliche Instrumentalisierung der Betriebsräte für eine Entpolitisierung der Gewerkschaften wurden in keiner Weise bedacht. Im Gegenteil: Die „bundesdeutschen Gewerkschaften“ wurden gar nicht in ihrer extrem widersprüchlichen Entwicklung betrachtet sondern in einem der Grundsatzpapiere quasi absolut gesetzt: „Die bundesdeutschen Gewerkschaften sind bekanntermaßen in einem und mit einem festen rechtlichen Regelwerk groß und stark geworden.“[21] Welches feste (?) rechtliche (?) Regelwerk (?) war gemeint? Das „Arbeitsrecht“ des personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses eines H. C. Nipperdey?[22] „Fest“ kann es schon deswegen nicht gewesen sein, weil es bis heute (!) kein einheitliches Arbeitsgesetzbuch (übrigens im Gegensatz zur alten DDR) und vor allem stattdessen eine neben den Einzelgesetzen laufende „Rechtsfortbildung“ ohne demokratische Legitimation gibt. Und durch das „Regelwerk“ des Betriebsverfassungsgesetzes waren die bundesdeutschen Gewerkschaften ganz gewiss auch nicht „groß und stark“ geworden. Ziel des Gesetzes war nämlich anerkanntermaßen die Entfremdung von Gewerkschaften und Betriebsräten, ja die – bis heute sichtbare – Spaltung betrieblicher Organe von den „außerbetrieblichen“ Gewerkschaften. Eben das war der Grund für den bislang einzigen politischen Streik einer DGB-Gewerkschaft im Jahre 1952: Den so genannten „Zeitungsstreik“ gegen das Betriebsverfassungsgesetz durch die IG Druck- und Papier.

Nun sollte man eigentlich meinen, dass solche Hinweise unter Gewerkschaftern dankbar aufgenommen werden. Doch das Gegenteil war auf der Tagung der Fall: Als der Verfasser auf diesen Umstand hinwies, schlug ihm eine Welle der Entrüstung von zahlreichen Teilnehmern entgegen. „Was? Wie?“ Besonders auffällig war die Intervention des Rostocker DGB-Vorsitzenden aus der Wendezeit Reinhard Knisch, der ohne jegliche Nachfragen erklärte: „Ich denke, da müssen wir jetzt aber mal einen Fakten-Check machen, um das zu überprüfen. Am besten mal bei Google schauen!“ Er wollte es einfach nicht glauben ...

Andere wichen aus auf das Betriebsrätegesetz des Kontrollrats (um das es im Jahre 1952 gar nicht ging) oder auf das Betriebsrätegesetz von 1920, von dem sie glaubten, dies sei aus der „Rätebewegung“ hervorgegangen …

Den Gipfel erklomm allerdings eine IG-Metall-Sekretärin, die mit nicht zitierfähigen Worten die gesamten Thesen als nicht akzeptabel vom Tisch wischte ohne auf die dazugehörigen Fakten einzugehen.

Tatsächlich offenbarte die „Debatte“ spätestens hier, dass man sich ein „eigenes“ Bild davon gemacht hatte, was Betriebsräte seien und dass man unter allen Umständen dieses Bild bewahren wollte. Man verspürte wenig Neigung, dieses Bild zu hinterfragen, ja auch nur historische Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Zugleich offenbarte dieses Selbstverständnis ungewollt auch den Kern jener „Betriebsrätebewegung“ aus den anfänglichen 1990er Jahren: Das Missverständnis, das Betriebsräte als solche überhaupt eine „Bewegung“ darstellen könnten.

Betriebsräte waren nie – auch nicht in Ostdeutschland 1992/1993 – Organisationen. Sie waren nie – und selbst wenn sie selbst noch so aktiv waren – eine wie immer geartete „Bewegung“. Betriebsräte waren und sind Organe außerhalb jeder Bewegung, vor allem der Gewerkschaftsbewegung. Sie standen und stehen auch außerhalb von Streiks, Demonstrationen oder Betriebsbesetzungen. Selbst wenn sie sich zum Fürsprecher der Agierenden machen, denn als Organe. Waren sie nur ganz selten Teil der Bewegung. Allenfalls als einzelne Betriebsratsmitglieder engagierten sie sich innerhalb einer Bewegung. Als Stellvertreter der Betroffenen können sie auch keinen „Kampf“ für die Vertretenen führen. Deshalb war und ist schon der Begriff „Betriebsrätebewegung“ ein Widerspruch in sich. Dass nach der Implosion des alten FDGB und dessen Übernahme durch die DGB-Gewerkschaften das Vertrauen der ostdeutschen Belegschaften in unabhängige Betriebsräte größer war als in Organisationen jeglicher Art, bleibt unbestritten. Dass aber gerade Betriebsräte aufgrund ihrer Struktur und ihrer Funktionsweise wenig geeignet waren, spontane Bewegungen in den Betrieben zu initiieren und zu fördern, dürfte auch klar sein. Tatsächlich standen am Ende der zahlreichen von Betriebsräten begleiteten Auseinandersetzungen maximal Sozialpläne, aber keine Betriebsbesetzungen oder ähnliches.

Erst recht kam es nie zu einer politischen Streikbewegung gegen die Treuhandanstalt und die für die brutale Deindustrialisierung allein verantwortliche Bundesregierung. Wenn es in der Nachkriegsgeschichte jemals eine Chance zu einer politischen Streikbewegung gab, dann genau in dieser Umbruchphase.

Dass es hierzu nicht kam, war nicht die „Schuld“ von Betriebsräten. Natürlich war es vor allem die Untätigkeit und das mangelnde politische Bewusstsein in den westdeutschen Gewerkschaften, die – neben der Überforderung der extrem unter Druck stehenden ostdeutschen Arbeiterschaft – für dieses Versagen verantwortlich waren. Andererseits aber war dieses Versagen kein ausreichender Rechtfertigungsgrund dafür, die Rolle von Betriebsräten zu überhöhen, ihre reine Stellvertreterrolle zu ignorieren und zudem noch deren Rolle in der bundesdeutschen Gewerkschaftsgeschichte zu idealisieren. So gesehen offenbarte die Tagung ein gewaltiges „gesamtdeutsches“ Defizit in der Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte der Betriebsräte und Gewerkschaften. Die Tagung und das in ihr gewissermaßen eingeschlossene Missverständnis einer „Betriebsrätebewegung“ offenbarten aber auch, dass die Dialektik von gewerkschaftlichem Kampf und Recht sich kaum entfalten kann, wenn unter „Kampf“ nur Stellvertreterpolitik verstanden wird. Doch ist auch das letztlich Ergebnis der Adaption des bundesdeutschen Rechtsverständnisses.

[1] Rolf Geffken, Reines Recht als Unrecht – Zur Dialektik von Praxis und Recht, Hamburg (Cadenberge) 1984, S. 31 ff.

[2] Ders., Streikrecht – Tarifeinheit – Gewerkschaften, Cadenberge 2015, S. 9 ff., 25 ff.; ders., Kampf ums Recht, Hamburg 2016, S. 120 ff.

[3] Verfasser und Kommentator des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934. Vgl. dazu schon 1979 vom Verf.: Über den Umgang mit dem Arbeitsrecht. Ein Handbuch für Betroffene, Hamburg 1979, S. 37.

[4] Vgl. G. Hautsch, K. Pickshaus, K. Priester, Der Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche, Frankfurt/M. 1984 („Soziale Bewegungen – Analyse und Dokumentation des IMSF“, H. 16).

[5] „Kritische Justiz“ und „Demokratie und Recht“.

[6] Beispiele sind die partielle Anerkennung von Solidaritätsstreiks und Warnstreiks durch das Bundesarbeitsgericht sowie die sog. Flash-Mob-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (im Einzelnen: Geffken, Kampf ums Recht, Hamburg 2016, S. 128 ff.)

[7] www.verdi.de/ueber-uns/idee-tradition/gewerkschaften-und-die-deutsche-einheit

[8] Ausblick – Zeitschrift der Gewerkschaft HBV Nr. 11/1990, S. 7.

[9] Dazu: Rolf Geffken, Deutsche Wiedervereinigung und Arbeit, in: Positionen sichern und Interessen wahren – Handbuch für die abhängig Beschäftigten in der DDR, Hrsg. AL-Fraktion beim Abgeordnetenhaus, Berlin 1990, S. 30 ff.

[10] Vgl. Jörg Roesler, Aufholen ohne einzuholen! Ostdeutschlands rastloser Wettlauf 1965-2015, Berlin 2016, Kap. 7 und 8.

[11] Reinhard Bispinck, Der Tarifkonflikt um den Stufenplan in der ostdeutschen Metallindustrie, WSI-Mitteilungen Nr. 8/1993, S. 469 ff.

[12] Frankfurter Rundschau Nr. 101 v. 03.05.1993.

[13] R. Bispinck, a.a.O., S. 481. Lothar Bentzel, Der Streik der IG Metall zur Verteidigung des Stufentarifvertrages in den neuen Bundesländern im Jahre 1993, pdf.

[14] Heering/Schroeder, Ostdeutsche Arbeitsbeziehungen zwischen ökonomischer Transformationskrise, neuer arbeitsrechtlicher Normierung und alten Sozialbeziehungen, in: Arbeit Nr. 4 (1993), S. 357 ff., 369.

[15] Rolf Geffken, Arbeit und Arbeitskampf im Hafen, Bremen 2015, S. 16 ff.

[16] Der Spiegel Nr. 15/1993 v. 12.04.1993.

[17] Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), Aktuelle Daten und Indikatoren, 1.6.2016 – Tarifbindung der Beschäftigten: http://doku.iab.de/aktuell/2016/Tarifbindung 2015.pdf.

[18] Heering/Schroeder, a.a.O., S. 360.

[19] Rolf Geffken, Über den Umgang mit dem Arbeitsrecht, a.a.O., S. 22.

[20] Merkl/Snower, Der Ostdeutsche Arbeitsmarkt, www.ifw-kiel/forschung/wohlfahrt/der-ostdeutsche-Arbeitsmarkt.

[21] Renate Hürtgen, Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretung Anfang der 1990er Jahre im Osten (Manuskript), S. 5.

[22] Diese erstmals im Nazigesetz „Zur Ordnung der Nationalen Arbeit“ auftauchende Rechtsfigur übernahm Nipperdey in zahlreichen seiner Publikationen, aber auch in seiner Eigenschaft als Präsident des BAG.