Editorial

September 2017

Vor 150 Jahren, am 11. September 1867, erschien in Leipzig der erste Band des „Kapital“. Wir widmen das vorliegende Heft mit werkgeschichtlichen wie aktuellen Beiträgen diesem Ereignis.

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Der Rückblick auf die großen Jahrestage der Erstveröffentlichung des „Kapital“ vor hundert und vor fünfzig Jahren – 1917 und 1967 – verweist auf die tiefen Brüche in der Geschichte des Kapitalismus, aber auch seine bislang ungebrochene Entwicklungsfähigkeit. Der fünfzigste Jahrestag fiel mitten in den durch die Zuspitzung der zwischenimperialistischen Widersprüche im ersten Weltkrieg ausgelösten Revolutionszyklus von 1917/1918 mit der Erwartung des Übergangs zum Sozialismus. 1967, vor fünfzig Jahren, sah sich die kapitalistische Welt nach einer langen Phase der Nachkriegs-Prosperität konfrontiert mit einem staatlichen Sozialismus auf der Höhe seiner Machtentfaltung, mit Revolten der Entkolonialisierung und neuen Kämpfen von Lohnabhängigen und Studenten im Inneren. Heute, nach dem Bruch von 1989/1990, blicken wir auf ein völlig anderes Terrain: den starken Schub der digitalen Revolution, den Übergang zur neoliberal entfesselten Konkurrenz, den „Aufstieg des Südens“, verbunden mit einem relativen Bedeutungsverlust der entwickelten kapitalistischen Länder, und die Nachwirkungen der Krise der kapitalistischen Finanz- und Weltwirtschaft von 2007/08. In diesem „postsozialistischen“ geschichtlichen Kontext eines internationalisierten und zugleich von ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen geprägten Welt-Kapitalismus steht heute das Marx’sche „Kapital“. Die marxistische Linke ist herausgefordert, sich seinen konzeptionellen, theoretischen und methodischen Gehalt zur Erfassung der heutigen Welt des Kapitals anzueignen.

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Vorangestellt werden dem Heft – nach Manfred Neuhaus’ Schilderung der näheren Umstände der Erstedition von Band I des „Kapital“ – kurze Leseempfehlungen von acht Autorinnen und Autoren. Sie berichten, welche Aspekte des „Kapital“ mit Blick auf Ökonomie, Politik, Subjektentwicklung und Gesellschaftstheorie ihnen aktuell besonders wichtig sind und warum es sich heute empfiehlt, „Das Kapital“ zu studieren.

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„Das Kapital“ – work in progress: Carl Erich Vollgraf zeigt, dass der Weg zum „Kapital“ zwischen 1844 und 1863 ein durchaus verschlungener und mit vielen Nebenwegen verbundener „Trampelpfad“ war, auf dem Marx sich bei ständiger kritischer Nachfrage und fordernder Ermunterung seiner politischen Kampfgefährten bewegte, dabei stets von Zweifeln am erreichten Erkenntnisstand geplagt. Angesichts der Komplexität des Gegenstandes war Marx nicht in der Lage, seine eigenen Forschungs- und Veröffentlichungspläne einzuhalten. Vollgraf setzt sich u.a. mit der Diskussion um den „Aufbauplan“ des „Kapital“ auseinander; den sog. „Sechs-Bücher-Plan“ hält er eher für eine Art Spielmaterial für die Verlagsverhandlungen denn ein von Marx wirklich verfolgtes Projekt. Marcello Musto zeichnet die unmittelbare Entstehungsgeschichte des ersten Bandes des „Kapital“ von 1863 bis 1867 anhand der Korrespondenz von Marx nach. Der Forschungs- und Schreibprozess wurde nicht nur ständig durch politische Ereignisse und Aufgaben – u.a. im Zusammenhang mit dem Aufbau der Internationalen Arbeiter Assoziation – unterbrochen, sondern immer wieder auch durch Krankheiten und finanzielle Engpässe. Michael Heinrich blickt auf die Entwicklungsgeschichte der dem „Kapital“ zugrundeliegenden Marx’schen Texte und Vorarbeiten und zeigt, dass sich Marx’ Leben und praktische Erfahrungen im Werk widerspiegeln. Er betont den geschlossenen, aber zugleich unabgeschlossenen Charakter des Buchs. Die Geschichte der Übersetzung und Rezeption des Marx’schen „Kapital“, die Xy Yang und Lin Fangfang für China rekonstruieren, zeigt die großen Hindernisse, die sich für die Aufnahme des Marx’schen Werks außerhalb des europäisch/nordamerikanischen Sprachraums (Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch waren die Hauptsprachen der Verbreitung des „Kapital“) ergaben. Nach der Kulturrevolution war die Marx-Rezeption ambivalent: Einerseits sei diese Periode die „goldene Zeit“ der Verbreitung des „Kapital“ gewesen, zugleich wurde dessen Aktualität im Kontext der wirtschaftlichen Öffnung jedoch zunehmend in Zweifel gezogen.

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Globalität und Vielfalt des modernen Kapitalismus: Elmar Altvater, der Marx’ Analyse im „Kapital“ nachzeichnet und für die Gegenwart produktiv macht, zieht die große Linie weiter bis hin zum „Anthropozän“, dem vom – im Kapitalismus vergesellschafteten – Menschen gestalteten Zeitalter. Das Kapital hat Destruktivkräfte in nie gekanntem planetarischem Ausmaß hervorgebracht. Rationalismus der Herrschaft über die Natur schlug um in die Irrationalität der (Selbst)vernichtung überall. „Wir müssen nun Sozialgeschichte als Erdgeschichte betreiben. Dabei ist das 150 Jahre alte ‚Kapital’ mehr als hilfreich“, schreibt Altvater, „es ist unabdingbar“. Denn es zeige grundsätzlich die Alternative, die gesellschaftliche Kapitalform in allen ihren Erscheinungsweisen radikal zu verändern.

Marx’ Analyse des Kapitalismus war verknüpft mit der Erwartung, die Zentralisation der Produktionsmittel müsse ein Maß erreichen, an dem sie unverträglich werde mit der kapitalistischen Hülle. Dann werde das weltweit einheitlich handelnde Proletariat das tun, was seinem geschichtlichen Interesse entspreche: „Die Expropriateurs werden expropriiert“. Jürgen Leibiger konstatiert, dass in der Tat der enorm angewachsene kapitalistische Reichtum in Händen winziger Minderheiten liegt. Aber zugleich seien die Eigentumsverhältnisse erheblich komplexer und differenzierter geworden, analog dazu auch die Interessenlagen der verschiedenen lohnabhängigen Klassen und Schichten. Die Lösung der Eigentumsfrage müsse diese Differenziertheit berücksichtigen.

Die von Marx im „Kapital“ entwickelten „Axiome des Marxschen Systems“ tragen Karl Heinz Roth zufolge den Realitäten des globalisierten kapitalistischen Weltsystems von heute nicht mehr ausreichend Rechnung. Er macht diese Sicht deutlich am Wertbegriff, der auf der abhängigen Lohnarbeit basiere und zudem die Ausbeutung der Natur – in Form der Grundrente – nicht angemessen berücksichtige. Angesichts globalisierter Wertschöpfungsketten müsse man die „Weltarbeiterklasse“ und den Marx’schen Subsumtionsbegriff neu denken. Genau dies tut Harry Harootunian, der – ähnlich wie Karl-Heinz Roth – davon ausgeht, dass der moderne Kapitalismus immer eine Kombination unterschiedlicher Produktionsweisen ist. Einen bestimmten „vollendeten“, „reinen“ Kapitalismus könne es nicht geben. Anders als Roth meint er jedoch, dass dieser Gedanke im Marx’schen Werk bereits angelegt sei. Er begründet dies vor allem mit dem Hinweis auf den – gegen den „westlichen Marxismus“ gerichteten – eminent historischen Charakter des „Kapital“ und anderer Texte. Einen eher historischen Standpunkt vertritt auch Konrad Lotter, der sich mit der Rolle der Zeit im Marx’schen Werk auseinandersetzt. In warenproduzierenden Gesellschaften – die es Lotter zufolge schon sehr lange gibt – ist die Zeit wesentlich Grundlage von Wertbestimmung und Austauschverhältnissen. Im Mittelpunkt des Kapitalismus dagegen stehe der Begriff der Beschleunigung. Indem die Zirkulation des Kapitals – nicht mehr der Ware – ins Zentrum rückt, wird die größtmögliche Beschleunigung Antriebskraft von Konkurrenz und damit der Umwälzung der Produktivkräfte. Dies habe Marx aber nicht unbedingt kritisch gesehen. Lotter leitet daraus ab, dass der Kampf um Entschleunigung – der heute teilweise als antikapitalistische Strategie verstanden wird – sich nicht auf Marx berufen könne.

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Interpretationen und Lesarten: Winfried Schwarz diskutiert Michael Krätkes Buch „Zeitgenosse Marx“. Vor allem Krätkes Untersuchung zur Bedeutung von Marx’ journalistischen Arbeiten für das „Kapital“ hält Schwarz für originell. Die sogenannte „Neue Marx-Lektüre“ wird, so die Kritik von Johann-Friedrich Anders, ihrem großen Anspruch in keiner Weise gerecht: Sie beschränke sich auf Textinterpretation, ohne sich mit der kapitalistischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen; ihre Versuche der „Rekonstruktion“ der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie blieben ohne Ergebnisse; statt dessen präsentiere sie eine „Auflösungsgeschichte“ des Marx’schen „Kapital“. Perrti Honkanen stellt Marx als mathematischen Ökonomen vor. Er bezieht sich hierbei auf die Marx’sche Formulierung der Wert- und Mehrwerttheorie und die Reproduktionsschemata, die auch bei nicht-marxistischen Ökonomen (z.B. Leontief) starkes Interesse ausgelöst hätten. Michael Klundt befasst sich mit dem Thema der Kinderarbeit im Werk von Marx und Engels und insbesondere im „Kapital“. Deutlich wird, dass die Ausbeutung von Kinderarbeit in Deutschland und England während des 19. Jahrhunderts hochgradig umstritten war. Klundt bescheinigt Marx, „eine der ersten explizit materialistischen Theorien zur Entstehung und Entwicklung von Kinderrechten“ entwickelt zu haben. Für Roberto Finelli hat Marx im „Kapital“ gezeigt, dass das Kapital das wahre, unpersönliche Subjekt der Geschichte ist. Erst jetzt, mit der Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise und der Revolution der Arbeitsprozesse im Rahmen der neuen Informationstechnologien komme das Kapital zu sich selbst, lasse fremdbestimmte Arbeit als selbstbestimmte Initiative der Individuen erscheinen. Morus Markard analysiert die Rolle der „Kapital“-Rezeption Klaus Holzkamps (1927-1995) bei dessen Ausarbeitung der Kritischen Psychologie. Auf die Tagesordnung gesetzt, so Markard, war seinerzeit die „psychologisch relevante Frage nach dem Verhältnis gesellschaftlicher und individueller Reproduktion“. Holzkamp habe die Vorstellung des gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen „abstrakten Individuums“ nicht mehr als bloßen „Fehler“ von Psychologinnen und Psychologen, sondern als eine quasi richtige „Spiegelung bestimmter ‚verkehrter’ gesellschaftlicher Verhältnisse“ angesehen.

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Rückblick: Eckart Spoo war der Berichterstatter der „Frankfurter Rundschau“ vom Frankfurter Kolloquium „Kritik der politischen Ökonomie. 100 Jahre ‚Kapital‘“ vom September 1967. Dieses Kolloquium – an dem Wolfgang Abendroth, Elmar Altvater, Fritz Behrens, Walter Fabian, Werner Hofmann, Ernest Mandel, Oskar Negt, Nicos Poulantzas, Alfred Schmidt, Otto Reinhold, Roman Rosdolsky, Klaus Steinitz und viele andere namhafte Marxisten und Marx-Forscher teilnahmen – signalisierte den Ausgangspunkt einer intensiven Marx-Beschäftigung in der damaligen Bundesrepublik, wie dies gleichermaßen für den in der edition suhrkamp 1967 erschienenen Band 226 „Folgen einer Theorie. Essays über ‚Das Kapital‘ von Karl Marx“ und das – von Heinz Jung redigierte – Sonderheft der „Marxistischen Blätter“ „Karl Marx – Das Kapital 1867-1967“ mit Beiträgen u.a. von Maurice Dobb, Dieter Klein, W. S. Wygodski, Paul Boccara und anderen Marxisten aus der UdSSR, den USA, Österreich und der DDR galt. Wir bringen Eckart Spoos Bericht in der Rubrik „Archiv“ – als historische Reminiszenz und als Erinnerung an ihn selbst, unseren erst kürzlich im Dezember letzten Jahres verstorbenen Freund und Genossen.

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Z 112 (Dezember 2017) wird als Schwerpunktthema „Weltwirtschaftsordnung im Umbruch“ behandeln.