Der Anspruch der Neuen Marx-Lektüre[1]
Die seit Mitte der 1960er Jahre existierende „neue Marx-Lektüre-Bewegung“[2] – so Ingo Elbe, einer ihrer Historiker – erhebt den Anspruch, „seit Ende der 1960er Jahre sukzessive darüber aufgeklärt (zu haben), dass das Hauptwerk des sog. ‚wissenschaftlichen Sozialismus’ (Das Kapital) seinen Kritikern wie seinen Anhängern lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist.“[3] So hätten z.B. „Engels und Lenin … in gravierenden Punkten das Kapital und somit die ‚Methode des wissenschaftlichen Sozialismus’ falsch verstanden“.[4] Der „traditionelle (…) Marxismus“[5] sei eigentlich – so kritisiert die Neue Marx-Lektüre – ein „Engelsismus“ (und das ist negativ gemeint): „Der Marxismus ist in mehrerlei Hinsicht Engels’ Werk und von daher eigentlich ein Engelsismus ... eine ideologisierte und restringierte Marx-Rezeption“[6]. Und dieses bisherige durchgehende Miss-Verstehen des Marxschen Werks und seiner Intentionen habe bedeutsame negative Folgen für die politische Praxis gehabt – worüber die Neue Marx-Lektüre-Forscher allerdings keine Ausführungen machen.
Die Neue Marx-Lektüre versteht sich als „Bruch“ mit der bisherigen, „traditionellen“ marxistischen Theoriebildung, als die „Entstehung eines neuen Typus und einer neuen Phase marxistischer Theoriebildung“[7]. Sie arbeitet an der „detaillierten Erforschung und Erschließung der Marxschen Ökonomiekritik“[8]. Ihr Ziel ist das „adäquate Gegenstands- und Methodenverständnis der Marxschen Ökonomiekritik sowie ihrer staats- und revolutionstheoretischen Implikationen“[9].
Das Marx’sche Ziel ist es – so die Neue Marx-Lektüre –, die zum Verständnis des Kapitalismus „adäquate“ Theorie zu liefern. Dies Ziel sei durch Marx selber noch nicht erreicht und durch die Marx missverstehenden bzw. ihn verfälschenden marxistischen Theorien klar verfehlt; die Bedeutung der Marx’schen Begriffe und Theorien sei nicht immer hinreichend klar. Erforderlich sei die „Rekonstruktion“ der Kritik der Marx’schen politischen Ökonomie, da „der Marx’sche Text aus sich heraus nicht verständlich ist und sich bestenfalls spezialisierter Marx-Philologie erschließt“[10]. So komme es immer wieder zu „Kontroversen, die von der scheinbaren oder tatsächlichen Unbestimmtheit ‚Marxscher Grundbegriffe‘ ausgelöst worden sind.“[11] Zudem seien die Begriffe und Theorien von Marx noch zu wenig exakt. Weiteres Differenzieren und Vertiefen und die Berücksichtigung weiterer Aspekte seien erforderlich, um die Marx’sche Theorie gegenstandsadäquat zu machen.
Die Neue Marx-Lektüre hält ihre „neue Deutung des Marxschen Werks“[12] für „innovativ und in der marxistischen Tradition einzigartig“[13]. Sie mache eine emanzipatorische Praxis möglich – worüber die Neue Marx-Lektüre-Forscher allerdings keine Ausführungen machen.
Zur Kritik des Forschungsprogramms der Neuen Marx-Lektüre
Wissenschaft als Selbstzweck?
Die Zielsetzung der Neuen Marx-Lektüre-Forscher, Begriffe und Aussagen der Marx’schen Theorien präziser und differenzierter darzustellen, um zu der einen „adäquaten“, richtigen Theorie zu gelangen, klingt zunächst gut, erweist sich aber als fragwürdig.
Wittgenstein fragte einmal: „Ist es unexakt, wenn ich den Abstand der Sonne von uns nicht auf 1 m genau angebe; und dem Tischler die Breite des Tisches nicht auf 0,001 mm?“[14] Anders gesagt: Präzisierungen sind nicht per se sinnvoll. Ein Tischler muss zum Zweck der Tisch-Herstellung bekanntlich nichts von Atomtheorie verstehen (dass die feste Masse des Holzes eigentlich ein Gewirbel von Atomen mit unendlich viel leerem Zwischenraum ist), und er braucht auch keine Genauigkeit unterhalb der Millimeter-Einheit – beides wäre für ihn und für seine Aufgabe schlicht ein un-„adäquates“, weil nicht hilfreiches Wissen.
Wer glaubt, durch immer weiteres Differenzieren und Berücksichtigen weiterer Aspekte gelange man irgendwann ans Ziel – zu der einen „adäquaten“, zu der richtigen Theorie –, der befindet sich offenbar im Irrtum. Ein natürliches Ende für Differenzierbarkeit gibt es anscheinend nicht. Und dann ist doch wohl zu fragen: Ein Voran-Schreiten auf einem nie endenden Weg – wofür sollte das „adäquat“ sein?
Der grundlegende Irrtum der Neuen Marx-Lektüre-Forscher liegt im fehlenden Zweckbezug – „adäquat“ wofür? Sie versäumen oder vergessen, sich von der Frage leiten zu lassen: Welche Erkenntnisse von Marx über den Kapitalismus sind in welcher Präzision zur Überwindung des Kapitalismus erforderlich, „adäquat“? Was ist zu wissen und zu tun nötig, um „die ganze alte Scheiße“[15] zu überwinden?
Die Neue Marx-Lektüre nimmt – um einen Marx-Begriff zu verwenden – „falsche Abstraktionen“[16] vor. Sie abstrahiert von dem entscheidenden Zweck, dem die marx(isti)sche Theoriebildung dient, jedenfalls dienen sollte. Sie beschränkt sich auf bloße Textinterpretation und sieht vollkommen ab von der Wirklichkeit, auf die sie nie auch nur einen Blick wirft. Und sie sieht ab von dem Ziel, Theorien zu erarbeiten, die ein effektiveres emanzipatorisches Handeln zur grundlegenden Veränderung der schlechten Wirklichkeit möglich machen. Und so ist das Neue Marx-Lektüre-Programm Wissenschaft als Selbstzweck – l‘art pour l’art – und keine für die Praxis der sozialen Kämpfe relevante marxistische Forschung.
Jan Hoffs Bericht von 2009 „Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965“ liefert dafür schöne Belege. Etwa: „Mit Blick auf das ‚Problem des Anfangs‘ in der Darstellung von Marx selbst ist die Frage zu stellen, wie das Anfangskapitel der Marxschen Darstellung betitelt sein sollte…. Wann genau Marx sich entschloss, das erste Kapitel ‚Ware‘ statt ‚Wert‘ zu benennen, lässt sich nur schwer rekonstruieren.“[17] Oder das „Fetischismus“-Problem: „Bezüglich der sowohl in Italien wie auch in Deutschland diskutierten Fetischismusproblematik hat Alfonso M. Iacono in den 80er Jahren einen Ansatz vorgelegt, mit dem er die Debatte um die Frage nach dem Quellenhintergrund des Marx’schen Fetischismusbegriffs erweiterte.“[18]
Auch um „bisweilen eher vernachlässigte Interpretationsansätze“ kümmert sich die Neue Marx-Lektüre-Forschung: „Einen in der Rezeptionsgeschichte der Kritik der politischen Ökonomie bisweilen eher vernachlässigten Interpretationsansatz verfolgte in jüngerer Vergangenheit Franco Soldani…. Der italienische Interpret fragt nach den Anregungen, die Marx aus seiner Beschäftigung mit der Naturwissenschaft gewonnen haben könnte.“[19]
Weitere Bemühungen der Neuen Marx-Lektüre um Differenzierung bzw. Vertiefung betreffen etwa Marx’ Verhältnis zu Hegel, oder Marx’ Verhältnis zu Engels, oder das Verhältnis von Marx’ Frühwerk zu seinem Spätwerk: Wann, mit welchem Werk beginnt der ‚reife‘ Marx?
Konfusion statt Klärung
Das für die Neue Marx-Lektüre wichtigste Thema ist die „Wertformanalyse“. Bei Ingo Elbe nimmt die Darstellung dieser Forschungen fast 300 von insgesamt 600 Seiten ein. Diese für die Neue Marx-Lektüre zentralen, seit 50 Jahren andauernden Interpretationsbemühungen sind de facto ergebnislos geblieben, wie etwa Jan Hoff 2002 feststellen musste[20]: „Zwar sind seit den sechziger Jahren durchaus erste vielversprechende Ansätze gemacht worden … aber … eine in allen Punkten konsistente Explikation der Wertformanalyse (stellt) immer noch ein Desiderat dar (…), zumindest solange in Bezug auf die verschiedenen Deutungen innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses kaum ein Konsens gefunden werden kann.“
Doch nicht nur das: Diese Debatte hat darüber hinaus zu heilloser Konfusion innerhalb der Neuen Marx-Lektüre geführt. Dazu drei Belege:
Der erste Beleg stammt von Hans-Georg Backhaus, der 1974, nach bald zehn Jahren Neue Marx-Lektüre-Forschung, schrieb: „Grundsätzlich kritisiert jeder Interpret jeden anderen, die Wertlehre ‚nicht ganz richtig begriffen‘ zu haben. Tatsächlich existiert kaum eine Interpretation, der sich nicht Missverständnisse und Leerstellen nachweisen ließen.“[21]
Den zweiten Beleg lieferte Dieter Wolf nach 40 Jahren Wert-Interpretationen der Neuen Marx-Lektüre. Er veröffentlichte 2004 (zusammen mit Heinz Paragenings) ein Buch über die Werttheorie-Interpretationen von Hans-Georg Backhaus, Helmut Reichelt und Michael Heinrich mit dem treffenden Titel: „Zur Konfusion des Wertbegriffs – Beiträge zur ‚Kapital’-Diskussion“ – ohne selber Klarheit zu schaffen.[22]
Den dritten Beleg für die erreichte Konfusion lieferte 2008 Ingo Elbe mit seinem Resümee der Wertform-Analyse der Neuen Marx-Lektüre: „Die Spezifik der neuen Marx-Lektüre besteht vor allem im politischen und ökonomischen Formbegriff. Reichtumsformen im Kapitalismus sind demnach gegenständlich vermittelte (Wert), von Gegenständen repräsentierte (Geld und andere Wertformen) und als bloße Dingeigenschaften erscheinende (Fetischismus/Mystifikation) soziale Verhältnisse zwischen Produzenten unter privat-arbeitsteiligen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit. Neben der radikalen Historisierung der Reichtumsformen hat sich die Betonung des spezifischen Charakters ökonomisch-sozialer Gegenständlichkeit als von besonderer Bedeutung erwiesen. Nur mittels eines angemessenen Begriffs sachlicher Vermittlung sind sowohl die Formen des gesellschaftlichen Reichtums mit ihren intrinsischen Verselbständigungstendenzen als auch deren Einfluss auf menschliche Willensverhältnisse, die Form monopolisierter Gewaltorganisation und die Denkformen innerhalb sozialer Bewegungen begreifbar.“[23]
Dies Resümee verstehe, wer kann. Es lässt die Leser im Unklaren, was man tatsächlich behauptet, und entzieht die eigenen Ansichten der inhaltlichen Kritisierbarkeit. Es mag zwar den Eindruck erwecken, das Gesagte sei von tiefer Bedeutsamkeit, sollte allerdings die Leser argwöhnen lassen, hier handle es sich wieder mal bloß um des Kaisers neue Kleider.
Fehlende Ergebnisse
All diese Untersuchungen sind, wie Jan Hoffs Bericht zeigt, ohne dass er das zu bemerken scheint, weitgehend ergebnislos geblieben. So schreibt der Verfasser etwa über „eine erneute Vertiefung des internationalen Marx-Diskurses“ seit den 1980er Jahren zu dem „vieldiskutierte(n) Problem des Marxschen Verhältnisses zu Hegel“[24]. Und er kommt zu dem Ergebnis: „Mittlerweile hat sich der internationale Diskussionsstand (zur Frage von Marx’ Verhältnis zu Hegel) weiterentwickelt.“[25]. Und: „Wie in anderen Ländern, so bildet auch in der angelsächsischen Debatte das Hegel-Marx-Verhältnis einen wichtigen Diskussionspunkt, an dem sich die Geister scheiden.“[26] – was ja wohl im Klartext heißt: Lösungen, Klärungen bzw. Ergebnisse liefern diese Forschungen über diese durchaus interessanten Fragen nicht; nur eine ‚vertiefte Problem‘-Einsicht, nur eine ‚Weiterentwicklung des Diskussionsstandes‘.
Das gilt offenbar allgemein: Die Untersuchungen der Neuen Marx-Lektüre liefern keine Antworten auf die von ihr gestellten Fragen. Das Neue Marx-Lektüre-Programm bleibt ergebnislos.
Das zeigte schon in den siebziger Jahren etwa die 2-bändige Studie von Veit Bader und Anderen: „Krise und Kapitalismus bei Marx“. Die Autoren schreiben gegen Ende ihrer Arbeit[27]: „Die Beweislast, die wir mit der vorliegenden Untersuchung auf uns genommen haben, war keine rein philologische; die schlüssige Auslegung der Marxschen Texte war nur das Mittel, nicht das Ziel der Untersuchung. Der Rückgang auf Marx sollte dazu dienen, den ‚Grund der Krise’ oder die ‚Grundlage der Überproduktion’ offenzulegen.“ Und die Ergebnisse nach fast 500 eng bedruckten Seiten? „Die von uns an Hand der Marxschen Texte durchgeführte Entwicklung eines ökonomischen Krisenbegriffs hat noch nicht den Punkt erreicht, an dem sich ein Bezugsrahmen für empirische Untersuchungen formulieren ließe.“[28]
Es handelt sich also lediglich um begriffliche Vorarbeiten, die nach fast 500 Seiten keineswegs als im Wesentlichen abgeschlossen angesehen werden können. Ein Ende dieser Vorarbeiten ist nicht in Sicht. Anscheinend handelt es sich um eine praktisch unendliche Aufgabe, die auch von keinem der neun Autoren der Studie in der Folgezeit – soweit ich sehe – weiter oder gar zu Ende geführt wurde. Fazit: Die Hoffnung erscheint illusorisch, dass die Forscher in absehbarer Zeit an das Wesentliche, die marxistische Analyse der realen kapitalistischen Krisen, herangehen könnten.
Ein aktueller Beleg für diesen Misserfolg – den die Neue Marx-Lektüre-Forscher allerdings nicht zu bemerken scheinen – ist der 2011 erschienene Sammelband mit dem vielversprechenden Titel: „Kapital & Kritik: Nach der ‚neuen’ Marx-Lektüre“. Bei diesem Buchtitel darf der Leser doch wohl erwarten: Die vor gut 50 Jahren durch die Neue Marx-Lektüre begonnene „Rekonstruktion“ der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ist inzwischen (im Wesentlichen) abgeschlossen, und es werden nun die durch die Neue Marx-Lektüre ermöglichten neuen Einsichten geliefert – eine bessere Analyse und eine treffendere Kritik des Kapitalismus und dadurch möglicherweise verbesserte Handlungsmöglichkeiten zur Überwindung des Kapitalismus. Doch das Buch enthält nicht einen einzigen Beitrag, der sich mit der kapitalistischen Wirklichkeit befasst, sondern ausschließlich neue Interpretationsbemühungen, neue „Lesarten“ von Marx’schen Texten. Die Neue Marx-Lektüre-Forscher sind immer nur und immer noch damit beschäftigt, Marx zu rekonstruieren, ihn anders zu lesen und ‚tiefer‘ zu verstehen. Zur Marxschen Sache aber, zum zu überwindenden realen Kapitalismus, kommen sie nie – nie ein Eingehen auf die kapitalistische Wirklichkeit mit rekonstruierten „adäquaten“ Begriffen. Das Ziel der Neuen Marx-Lektüre wird offenbar erst am Sankt-Nimmerleins-Tag erreicht.
Michael Heinrichs philologische „Auflösung“ des Marxschen Werks[29]
Bislang war weitgehend unstrittig: Es gibt zwar kein fertiges Marx’sches Werk „Das Kapital“, Bd. I - III (und als IV. Band eine kritische Geschichte der ökonomischen Theorien: die „Theorien über den Mehrwert“). Denn nur Band I ist von Marx dreimal, jeweils überarbeitet, herausgegeben worden. Das Gesamtwerk ist unvollendet: Für die Bände II und III gibt es von Marx nur zahlreiche, häufig neu ansetzende, zum Teil sehr umfangreiche Vorarbeiten. Gleichwohl liegt aber mit den von Engels edierten Bänden I - III des „Kapital“ ein im Wesentlichen fertiges Werk vor, das die allgemeine Analyse des Kapital liefert – wobei Band I grundlegend für alles Weitere ist. Und das bei Marx noch Fehlende ist dank der vorhandenen Grundlegung im Prinzip von anderen ausführbar, eigentlich – so Marx[30] – bloße Fleißarbeit.
Diese Sicht des Marx’schen „Kapital“ stellte Michael Heinrich in seinem 2011 erschienenen Beitrag „Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘“[31] explizit in Frage. Eine Leistung, die Frieder Otto Wolf, der Herausgeber der 2015 erschienenen vollständigen deutschen Ausgabe von Louis Althussers u.a. „Das Kapital lesen“, als „intellektuell befreiend“[32] feierte, allerdings ohne sein Lob mit einem einzigen Wort zu begründen.
Michael Heinrich macht drei zentrale Aussagen:[33]
1. Marx’ nachgelassene „Manuskripte, Exzerpte und Forschungsinteressen … laufen noch längst nicht auf ein fertiges Werk hinaus.“
2. Marx’ „neues Forschungsprogramm …, das zunächst nur an den Themen von Buch II und III ansetzt“, macht schließlich, „wie Marx zuletzt einräumt, auch die grundsätzliche Überarbeitung des bereits veröffentlichten Buch I notwendig“.
3. „Als zwar nur unvollständig vorliegendes, aber im Prinzip abgeschlossenes Werk hat sich das ‚Kapital‘ aufgelöst.“
Somit ist Das Kapital mit dem darin von Marx formulierten Anspruch, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“[34], für Michael Heinrich nur noch ein „Versuch“[35], „weniger ein Werk als ein Forschungsprogramm, dessen riesige Umrisse erst jetzt durch die MEGA sichtbar werden.“[36] Was allerdings die Frage aufwirft: Wie, auf welcher Basis, sollte ein marx(isti)sches Forschungsprogramm zur Analyse des Kapitalismus arbeiten können, wenn sich, wie Heinrich behauptet, dessen theoretische Grundlegung – „Das Kapital I“ – „aufgelöst“ hat?
Michael Heinrichs „Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘“ ist, wie sich leicht zeigen lässt, sachlich unhaltbar: Bekanntlich überarbeitete Marx seinen erstmals 1867 veröffentlichten Band I des „Kapital“ vielfach. Er plante weitere Änderungen für die dritte deutsche Auflage und hinterließ zu den geplanten Bänden II und III umfangreiche Manuskripte, die inzwischen in der zweiten MEGA veröffentlich sind. Die Frage, die Michael Heinrich stellen müsste, ist: Stellen all diese vorgenommenen und geplanten Änderungen die in Band I des „Kapital“ erstmals 1867 veröffentlichte Grundlegung in Frage – egal, ob Marx das selber erkannt hat oder nicht? Sind die Forschungsprobleme, an denen Marx bis an sein Lebensende arbeitete, geeignet, diese Grundlegung seiner Kapitalismus-Analyse zu erschüttern, sie „aufzulösen“? Oder betreffen die von Marx vorgenommenen und geplanten Textänderungen nur Randprobleme, deren Ergebnisse – egal, wie sie im Einzelnen aussehen mögen – die vorhandene Grundlage nicht in Frage stellen, sondern sie vielmehr untermauern? Handelt es sich vielleicht bloß um die Lösung von Darstellungsproblemen und um präzisierende Korrekturen, Erweiterungen, Vertiefungen und Differenzierungen?
Michael Heinrich unterlässt es, all das zu prüfen. Er hält jegliche von Marx vorgenommene und geplante Textänderung, jegliches für Marx offene Darstellungsproblem und jegliche neue Forschung von Marx für einen Beleg für seine „Auflösungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘“. Und so ist es für ihn ein Leichtes, einen Auflösungsbeleg nach dem anderen zu präsentieren. Mit zwei Marx-Briefen glaubt er beweisen zu können, dass Marx selber die Notwendigkeit einer „grundsätzlichen Überarbeitung“ des gesamten „Kapital“ „klar gesehen“[37] habe.
1.) Michael Heinrich schreibt: „An Ferdinand Domela Nieuwenhuis schreibt er [Marx] am 27. Juni 1880 über den zweiten Teil des ‚Kapitals‘ (Buch II und III), dass ‚gewisse ökonomische Phänomene in ein neues Stadium der Entwicklung getreten sind, also neue Bearbeitung erheischen‘ (MEW 34: 447).“[38]
Wer wollte Marx da widersprechen? Nur ist die von Michael Heinrich zitierte Marx’sche Feststellung schwerlich ein Beleg und schon gar kein Beweis für die behauptete Notwendigkeit einer „grundsätzlichen Überarbeitung“, geschweige denn für eine „Auflösung“ des von Marx geplanten und in seinem grundlegenden Teil von ihm bereits dreimal, jedes Mal in überarbeiteter Form veröffentlichten Werks „Das Kapital“.
2.) Der zweite Brief vom 13. Dezember 1881 – an Nikolai Franzewitsch Danielson – beweist für Michael Heinrich schließlich klar seine „Auflösungsgeschichte“. Er enthalte nämlich das Marxsche Eingeständnis, der grundlegende Band I des „Kapital“ sei so, wie er von Marx selber veröffentlicht wurde, nicht mehr haltbar; es sei „die grundsätzliche Überarbeitung des bereits veröffentlichten Buch I notwendig“[39].
Marx schreibt in diesem Brief: „… Mein deutscher Verleger benachrichtigt mich, dass eine dritte Auflage des ‚Kapitals‘ notwendig geworden ist. Dies kommt in einem sehr ungelegenen Augenblick. Erstens muss ich wieder gesund werden und zweitens möchte ich den 2.Band so bald wie möglich fertig stellen (selbst wenn er im Ausland erscheinen sollte). Ich möchte ihn gerade jetzt auch deshalb fertig haben, weil ich ihn mit einer Widmung an meine Frau versehen möchte.
Auf jeden Fall aber werde ich mit meinem Verleger vereinbaren, dass ich für die 3.Auflage nur so wenig Änderungen und Ergänzungen wie möglich mache, daß er aber andererseits diesmal nur 1000 Exemplare statt 3000, wie er ursprünglich wollte, ausdruckt. Wenn diese 1000 Exemplare der 3.Auflage verkauft sind, werde ich vielleicht das Buch so umarbeiten, wie ich es jetzt unter anderen Umständen getan hätte.“[40]
Also: Hier ist die Rede von „vielleicht“ – was Michael Heinrich weglässt – und von „umarbeiten“ –, aber keineswegs von der Notwendigkeit „grundsätzlicher Überarbeitung“, die Marx (laut Michael Heinrich) „zuletzt einräumt“.
Schließlich ist festzuhalten, dass Marx eine erneute Herausgabe von „Das Kapital“ Band I – die dritte deutsche Ausgabe – mit wenigen Änderungen und Ergänzungen für vertretbar hielt. Somit hat er den Band I des „Kapital“ kaum als sachlich nicht mehr haltbar angesehen.
[1] Die folgenden Ausführungen fußen teilweise auf meinem Beitrag in: Grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie & Debatte, 37/2011, S. 47-56.
[2] Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2010², S. 8.
[3] Ebd., S. 283.
[4] Hans-Georg Backhaus, zitiert nach Elbe, a.a.O., S. 91/92.
[5] Elbe, a.a.O., S. 115
[6] Ebd., S. 14
[7] Ebd., S. 13.
[8] Jan Hoff, Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965, Berlin 2009, S. 91.
[9] Elbe, a.a.O., S. 8.
[10] Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg 2011², S. 70.
[11] Ebd., S. 70.
[12] Elbe, a.a.O., S. 599.
[13] Ebd., S. 587.
[14] Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe Band I, Frankfurt/Main 1984, S. 291.
[15] Karl Marx, Die Deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 35.
[16] Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26, 2, S. 440.
[17] Jan Hoff, a.a.O., S. 232/233.
[18] Ebd., S. 150.
[19] Ebd., S. 151.
[20] Jan Hoff, Bemerkungen zu Nadja Rakowitz‘ „Einfache Warenproduktion“. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Neue Folge 2001, Berlin-Hamburg 2002, S. 273.
[21] Backhaus, a.a.O., S. 71.
[22] Dieter Wolf/Heinz Paragenings, Zur Konfusion des Wertbegriffs – Beiträge zur „Kapital“- Diskussion, Berlin/Hamburg 2004.
[23] Elbe, a.a.O., S. 587.
[24] Hoff; a.a.O., S. 200; diese und die folgenden Kursivierungen stammen nicht von Jan Hoff.
[25] Ebd., S. 239.
[26] Ebd., S. 188.
[27] Ebd., S. 469.
[28] Ebd., S. 470.
[29] Die folgenden Ausführungen fußen auf meinem Beitrag in: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 64, 2014, S. 151-158.
[30] Karl Marx an Ludwig Kugelmann, 28. Dez. 1862, in: MEW 30, S. 639 („…würde auch von andern auf Grundlage des Gelieferten leicht auszuführen sein.“).
[31] Michael Heinrich, Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen „Kapital“, in: Werner Bonefeld/Michael Heinrich (Hg.), Kapital & Kritik. Nach der „neuen“ Marx-Lektüre, Hamburg 2011, S. 155-193.
[32] In: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik, 62, 2013, S. 159.
[33] Heinrich, a.a.O., S. 191.
[34] Ebd.
[35] Ebd., S. 190.
[36] Ebd., S. 191.
[37] Ebd., S. 189.
[38] Ebd..
[39] Ebd., S. 191.
[40] MEW 35, S. 245/246.