Feminisierung der Lohnarbeit

Neoliberale Erwerbsmärkte, „Womenomics" und Geschlechterverhältnisse

Eine Perspektive feministischer internationaler politischer Ökonomie

von Christa Wichterich
Juni 2017

Ob es um die Hausarbeitsdebatte ging oder die Diskussion über Entgeltgleichheit, um den Streit über die geringe Zahl von Frauen in Führungspositionen oder um die Anerkennung von Sexarbeit als Beruf: immer zielten linke Feministinnen darauf, die marxistische Geschlechterblindheit zu beseitigen, die Rede vom Haupt- und Nebenwiderspruch zu knacken und die soziale Ungleichheitskategorie Geschlecht als eine konstitutive Bedingung des Kapitalismus sichtbar und verhandelbar zu machen. Im Fokus des Forschungsinteresses standen aus feministisch-ökonomischer Perspektive zum einen die bizarre Allianz zwischen neoliberalen und feministischen Zielorientierungen (vgl. Fraser 2009), zum anderen die neuen Subjektivitäten, die Frauen in transnationalen Wertschöpfungs- und Sorgeketten entwickelten.

Erzählung Nr. 1: Engels und Emanzipation durch Lohnarbeit

Als seit den 1980er Jahren die Beschäftigungszahlen von Frauen weltweit stiegen, schien das Engelssche Diktum von der Emanzipation durch Integration in die Lohnerwerbsmärkte Realität zu werden. Junge Frauen vom Land, in Nordafrika, Ost- und Südostasien sowie in Zentralamerika fanden in der Exportproduktion von Textilien, Schuhen und IT-Elementen Job und Einkommen. „Befreit“ wurden sie damit aus oft ärmlichen patriarchalen Subsistenzbedingungen in der Landwirtschaft und integriert in die städtisch moderne Lohnarbeits- und Geldökonomie, die sie industriellen Zwangsverhältnissen von Produktivität, Konkurrenz und Fremdbestimmung unterwarf. So entstanden vergeschlechtlichte Produktionssysteme, später transnationale Wertschöpfungsketten genannt. Sie beruhen auf einem großen Pool weiblicher Arbeitskräfte, deren komparativer Vorteil es ist, preiswert, geschickt und gewerkschaftlich nicht organisiert zu sein. Diese Entwicklung ging mit der evolutionären Vorstellung von Modernisierung einher, der zufolge zunehmende Erwerbsarbeit von Frauen ein weltweit kontinuierlicher Trend der Geschlechtergleichheit sei und damit auch die Emanzipationschancen kontinuierlich erhöhen werde.

Allerdings ist die Feminisierung der Beschäftigung in den unterschiedlichen Weltregionen sehr ungleichzeitig: Während die Erwerbsquote von Frauen in Lateinamerika und der Karibik zwischen 1990 und 2015 von 40 auf 54 Prozent anstieg (UN Women 2015: 75ff), war sie in anderen Regionen bereits wieder rückläufig. Im selben Zeitraum ging sie in Ostasien von 68 auf 62 Prozent zurück, in Osteuropa von 54 auf 50 Prozent und weltweit von 52,4 auf 49,6 Prozent (ILO 2016). In diese Statistiken gehen allerdings nur formale Arbeitsverhältnisse ein, nicht die Erwerbsarbeit im informellen Sektor, von der Kleinbäuerin bis zur Straßenhändlerin, von der Hausangestellten bis zur Sexarbeiterin.

Feministische Wissenschaftlerinnen diskutierten die möglichen Emanzipationsgewinne unter den Bedingungen von Ausbeutung und Informalisierung, z.B. in der Boombranche Bekleidungsindustrie. Bilanz: Der Zuwachs an Frauenjobs, der große Beitrag zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und die Produktivitätssteigerungen setzen sich nicht in existenzsichernde Löhne, Arbeitsrechte und soziale Sicherheit um. Am schlechtesten sind Löhne und Arbeitsbedingungen in informellen Werkstätten und unregulierten Sweatshops wie in Rana Plaza in Bangladesh. Das 2013 eingestürzte Fabrik- und Geschäftsgebäude mit 1126 Toten und 2500 Schwerverletzten ist zur tragischen Metapher für die strukturelle Gewalt dieses transnationalen Produktionsregimes geworden. Der Kollaps von Rana Plaza war die systemische Folge einer auf Wachstum und Kostensenkung orientierten transnationalen Industrie, in der Risiken und Schäden an das untere Ende der Wertschöpfungskette verschoben werden. Zu diesen Produktionsverhältnissen gehört auch, dass Organisierungsversuche der Arbeiter*innen und Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne gewaltsam unterdrückt werden.

Erzählung Nr. 2: Die Frauenfreundlichkeit des neoliberalen Kapitalismus

2010 fragte die bekannte US-amerikanische Kolumnistin Hannah Rosin: „Könnte es sein, dass die moderne, post-industrielle Ökonomie frauenfreundlich und nicht männerfreundlich ist?“ (zit. n. Radhakrishnan/Solari 2015:784). Der Hintergrund war die Finanzkrise von 2008/09, in der US-Statistiken erstmals mehr erwerbstätige Frauen als Männer verzeichneten. Das, so Rosin, würde das Ende des männlichen Familienernährers, eine Rollenumkehrung und ein „gescheitertes Patriarchat“ anzeigen. Diese Lesart von Geschlechterverhältnissen steht ebenfalls in der Tradition des Empowerments von Frauen durch Erwerbsarbeit und Geldeinkommen.

Erstmals galten Frauen als Krisengewinnerinnen, weil die Krise im globalen Norden vor allem negative Auswirkungen auf Männerjobs hatte, während im globalen Süden wie bei früheren Krisen Frauen stärker betroffen waren. Den allgemeinen Rahmen für Verschiebungen in der Beschäftigung bildeten einerseits die Deindustrialisierung in vielen Ländern, weniger Arbeitsplätze in der zunehmend industrialisierten Landwirtschaft und der Boom der Dienstleistungsbranchen, wo über 60 Prozent aller erwerbstätigen Frauen Beschäftigung fanden. In diesem Kontext sank in den vergangenen 20 Jahren weltweit die männliche Erwerbsquote von 80 auf 76 Prozent (ILO 2016). Andererseits ging die Feminisierung der Beschäftigung bereits seit den 1990er Jahren im Tandem mit der Durchsetzung der neoliberalen Prinzipien von Deregulierung und Flexibilisierung auf den Erwerbsmärkten einher. Flexibilisierung bringt Beschäftigung und schönt Arbeitsmarktstatistiken.

Deregulierung von Märkten wie auch Flexibilisierung und Informalisierung von Arbeitsverhältnissen sollen die Inklusion, die Öffnung von Marktsegmenten für bisher Exkludierte und Marginalisierte, Arme, Indigene, informell Arbeitende und Subsistenzwirtschaftler*innen erleichtern. Diese neue Seite des Neoliberalismus, der „inklusive Liberalismus“ (Porter/Craig 2004), resultierte für Frauen darin, dass sie weltweit betrachtet überwiegend informell, teilzeitig und geringfügig erwerbstätig sind, häufig auch als mitarbeitende Familienangehörige. In der EU machen Frauen 75 Prozent der geringentlohnten und teils sozial ungeschützten Teilzeit- und Gelegenheitsbeschäftigten aus.

Gerade der Servicesektor ist hochgradig flexibel, informell und entlang von Leih-, Gelegenheits- und Unterauftragsarbeit organisiert. Entsprechend prekär ist die Lohnarbeit. Zwar hat sich die Beschäftigung in Dienstleistungen, im Bildungs- und Gesundheitsbereich als krisenfester erwiesen als die am Bau und bei Banken. Allerdings sind die Jobs von Frauen in der Verwaltung und sozialen Sektoren durch krisenbedingte Austeritätspolitiken, das Schrumpfen des öffentlichen Sektors und durch Privatisierung bedroht. Die anlaufende Industrie 4.0-Welle von Automatisierung und Digitalisierung rationalisiert noch mehr Jobs weg. Frauen wird dies allerdings als neuer Horizont für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben angepriesen, durch noch mehr zeitliche und räumliche Flexibilisierung z.B. durch Crowd-Arbeit.

Neben der strukturellen „Frauenfreundlichkeit“ durch Flexibilisierung und Dienstleistungsorientierung propagierten in der Krise viele multilaterale Institutionen wie die Weltbank, das Weltwirtschaftsforum in Davos, die Vereinten Nationen und die EU Gleichstellungsmaßnahmen als Strategie, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum zu maximieren. Das Phantasma, dass Frauen als Humankapital bisher „untergenutzt“ waren und nun zwecks Produktivitätssteigerung besser genutzt werden sollten, hatte die Weltbank bereits 2007 in ihrem Gender Action Plan mit dem Konzept von Frauenempowerment durch Marktinklusion aufgenommen. Dabei ging es ihr nicht um Frauenrechte. Vielmehr macht sie mit der flotten Definition von Geschlechtergleichheit als „smart economics“ und von Frauen als neuen fitten Marktsubjekten Effizienz, Wachstum und Rentabilität zu universellen Maßstäben für Empowerment (World Bank 2007). Das Ganze wird als Win-win-Situation und Chancenzuwachs für die Frauen gepriesen. In der Krise gewann die Weltbank mit dieser Wachstumsorientierung entwicklungs- und genderpolitische Hegemonie gegenüber menschenrechtlichen und feministischen Zielsetzungen (vgl. World Bank 2011).

Diese Offensive der Frauenfreundlichkeit wird durch Großkonzerne unter-stützt, von Coca Cola bis Exxon, die in Partnerschaft mit UN-Institutionen Förderprogramme für Frauen und immer häufiger auch für Mädchen auflegen. Goldman Sachs will 100.00 Frauen mit „Womenomics“-Training und Krediten für Business fit machen. Die Nike Stiftung propagiert mit einer Kampagne „Girl Effect“ und Walt Disney mit „Pink Princess“ Investitionen in Mädchen, die als „emerging markets“ und zukünftige Unternehmerinnen ihres Selbst die Wirtschaft antreiben sollen (Calkin 2015; Murphy 2012).

Erzählung Nr. 3: Lücken schließen, aufholen, gleichziehen

Geschlechtsspezifische Ungleichheiten werden mit dem Begriff Gap – Gefälle oder Kluft – bezeichnet. Eine Kluft in Beschäftigung und Jobqualität, das Lohn- und Pensionsgefälle, die Ungleichverteilung von Care-Arbeit und Führungspositionen, ungleiche Zugangschancen zu Ressourcen und Technologien umreißen die Unterschiede zwischen Frauen und Männern auf den Erwerbsmärkten. Im Zentrum stehen die Beschäftigungskluft zwischen Männern und Frauen von weltweit 26 Prozent (unverändert seit 20 Jahren) und die Lohnkluft im Weltdurchschnitt von 23 Prozent. Wo sich die Lohnkluft verringert hat, sind nicht zwangsläufig steigende Frauenlöhne die Ursache, sondern manchmal auch sinkende Männerlöhne. Japan, Südkorea und Russland gelten als Länder mit dem höchsten geschlechtsspezifischen Lohngefälle von weit über 30 Prozent. Laut Hochrechnungen der International Labour Organization (ILO 2016) wird der gender pay gap bei Fortschritten im derzeitigen Tempo erst in 75 Jahren geschlossen. In der EU besteht ein alarmierendes Rentengefälle von 39 Prozent mit einem hohen Armutsrisiko von Frauen im Alter. Da auch Erwerbstätigkeit von Männern diskontinuierlicher wird und männliche Jugendliche derzeit am meisten von Erwerbslosigkeit betroffen sind, werden in Zukunft auch die Rentenansprüche von Männern sinken. Dadurch kann eine Angleichung erfolgen.

Die Klüfte resultieren auch aus einer geschlechtsspezifischen Segmentierung der Märkte, wonach bestimmte Berufe und Bereiche jeweils als weiblich oder männlich gelten, was in die Bewertung und Lohnbildung eingeht. Bemerkenswert ist, dass die Gehaltsunterschiede in hochqualifizierten und hochdotierten Jobs größer sind als in unteren Lohngruppen.

Obwohl sich das Gefälle in Bildungs- und Ausbildungsabschlüssen zugunsten von Mädchen und jungen Frauen verändert hat, übersetzt sich dies nicht geradlinig in Erfolge auf dem Erwerbsmarkt und im Beruf. Die Erwerbsarbeit von Frauen ist – wie die ILO sagt – von unten durch einen „klebrigen Boden“ mit prekären Jobs und schlecht bezahlter Arbeit beschränkt und von oben durch eine „Glasdecke“, die Frauen am Aufstieg in die Führungsetagen hindert. Knapp die Hälfte aller Beschäftigung weltweit stuft die ILO als prekär ein, d.h. ohne existenzsichernde Bezahlung und ohne soziale Sicherheit. Weltweit gehören Frauen überproportional zu den „working poor“, denjenigen, die trotz Erwerbsarbeit arm bleiben.

In den westlichen Ländern lag in den vergangenen Jahren ein Gleichstellungsfokus auf Frauen in Führungs- und Entscheidungspositionen. Weltweit hat sich die Zahl weiblicher Führungskräfte nur unwesentlich auf 23 Prozent erhöht, in den von Fortune 500 gelisteten Unternehmen waren es 2016 nur 10,9 Prozent, und nur 13 der 500 Konzerne haben eine Direktorin an ihrer Spitze. Interessant ist, dass die reichen Länder des Nordens unter dem Durchschnitt liegen mit Japan und Deutschland auf abgeschlagenen Rängen, weit hinter z.B. der Türkei. Russland führt die Statistik mit 43 Prozent an, gefolgt von China sowie anderen osteuropäischen und südostasiatischen Ländern. Ein politischer Meilenstein war die Einführung einer Frauenquote von 40 Prozent für börsennotierte Unternehmen in Norwegen. Meist wehren sich Unternehmen gegen verpflichtende Regelungen und versprechen Besserung auf freiwilliger Basis, was bekanntlich folgenlos bleibt.

Neben der klassen- und geschlechtsspezifischen Einkommenskluft besteht auch zwischen migrantischer und einheimischer Bevölkerung ein Lohngefälle. Zudem gibt es meist deutliche Nachteile für Mütter im Erwerbsleben und beim Einkommen im Vergleich zu Nicht-Müttern, am stärksten im familistischen Polen. Und dies, obwohl viele EU-Länder politische Maßnahmen zur Unterstützung der Erwerbstätigkeit von Müttern und Alleinerziehenden einführten, denn die EU verfolgt zur Förderung von Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit ein neoliberales Erwachsenen-Erwerbsmodell: jede/r Erwachsene soll erwerbstätig sein.

Auch im Weltentwicklungsbericht 2012 zu Geschlechtergleichheit standen gender gaps im Fokus, denn in der Business-Logik der Weltbank müssen Gaps beseitigt werden, weil sie als Wachstumshindernisse wirken. Der Fokus auf Gaps ist wie ein Tunnelblick auf Ungleichheitsverhältnisse, herausgelöst aus ökonomischen Rahmenbedingungen und aus lokal und kulturell sehr unterschiedlichen Geschlechterordnungen. In der Gap/Ungleichheitsperspektive sind Frauen die Defizitären, die Diskriminierten und Opfer. Verwundbarkeit durch Armut bzw. mangelnde Widerstandskraft gegen Armut wird geschlechtsspezifisch zugeschrieben und wenig klassenspezifisch konnotiert. Zwar macht die Analyse von gender gaps – wie stets von Frauenbewegungen gefordert – Geschlechterungleichheiten und Exklusion von Frauen sichtbar. Doch die Beseitigung der Geschlechterungleichheiten beim Marktzugang ist höchst ambivalent, ja paradox. So will die Weltbank Kleinbäuerinnen allüberall durch den Zugang zu modernen Agro-Inputs wie Chemiedünger und Industriesaatgut empowern und dadurch ihre Erträge steigern. Tatsächlich war es ein herkömmlicher Machtbereich von Bäuerinnen, ihr eigenes Saatgut zu vermehren, zu tauschen, mit ihm Ernährungssouveränität zu bewahren und kein hybrides Konzernsaatgut teuer auf dem Markt kaufen zu müssen. Statt den kleinbäuerlichen Beitrag von Frauen zur Ernährungssicherung zu würdigen und durch Fördermaßnahmen zu verbessern, dient diese Form von Gleichstellung dem agrarwirtschaftlichen Strukturwandel hin zur konzerngesteuerten industrialisierten Landwirtschaft.

Erzählung Nr. 4: Sorgeextraktivismus und Anerkennung

In allen internationalen Gleichstellungsprogrammen von der Weltbank bis zur ILO taucht nach jahrelanger kritischer Intervention von Feministinnen in Fortführung der so genannten Hausarbeitsdebatte Care – Sorgearbeit und Sorgeökonomie – als eine bedeutende ökonomische Größe auf. Ohne Care-Arbeit, also das Sich-Sorgen um, Versorgen und Erhalten von Mensch und Natur, ist keine soziale Reproduktion von Gesellschaften und kein Funktionieren der Märkte möglich. Ein Grundwiderspruch kapitalistischer Akkumulation besteht jedoch darin, dass Expansion und Wachstum die lebendigen Ressourcen im Menschen und in der Natur übernutzt und zerstört. Deswegen sind Krisensituationen sozialer Reproduktion ein Dauerzustand (Klinger 2013).

Perfiderweise setzen der Markt und auch die Politik Sorgearbeit als unendlich dehnbare, „natürliche“ weibliche Fähigkeiten voraus. Die Sorgeökonomie ist sowohl Ressource und Energiequelle für die Märkte, sie wird aber gleichzeitig auch zur Externalisierung und Individualisierung sozialer Kosten und Risiken benutzt. In Krisensituationen, bei Sozialabbau und Austeritätspolitiken greifen Staaten verstärkt auf un- und unterbezahlte Sorgearbeit zurück, um Reproduktionskosten aus dem wohlfahrtsstaatlichen Portfolio zu verschieben und soziale, ökonomische und ökologische Probleme kostengünstig zu managen (Elson 2002).

Care-Arbeit wird zunehmend als Lohnarbeit geleistet, aber gering bewertet und schlecht entlohnt. Bezahlung garantiert also keine Aufwertung. Ökonomisierung von Sorgearbeit bedeutet, dass die Marktlogik von Effizienz, Rationalisierung und Konkurrenz auf bisher marktferne private, ja intime Sektoren übergreift und sich die Sorgelogik von Sich-Kümmern, Sozialbeziehung und eigenem Tempo unterwirft, Beispiel: Module in der Altenpflege. Feministische Ökonominnen betrachten die kontinuierliche Nutzung und Ausbeutung von Sorgearbeit – kurz „Sorgeextraktivismus“ (Wichterich 2016) – als zentralen Funktionsmechanismus des globalisierten neoliberalen Kapitalismus und als systemische Herrschaftsstruktur kapitalistischer Wirtschaftsweise (Aulenbacher/Riegraf/Völker 2015).

Zwar versuchen eine Reihe von EU-Ländern, vor allem skandinavische Länder, durch Optionen wie eine (bezahlte) Vaterschaftszeit oder eine familistische Pflegeversicherung Männer in die Verantwortung für die Kinderbetreuung und Altenpflege einzubeziehen. Dies nehmen allerdings bisher nur relativ wenige Männer wahr. Das sogenannte Vereinbarkeitsproblem bleibt privat und überwiegend weiblich und wird selten politisch durch öffentliche Einrichtungen gelöst.

Anstelle der von Feministinnen geforderten neuen Sorgearbeitsteilung mit Männern kam es zu einer Arbeitsteilung zwischen Frauen aus verschiedenen Klassen, Ethnien und Weltregionen. In der Krise sozialer Reproduktion bei gleichzeitig zunehmender Erwerbstätigkeit mittelständischer, gut qualifizierter Frauen in den Metropolen überbrücken migrantische Hausangestellte, Kinderfrauen, Altenbetreuer*innen, Putzkräfte und Krankenpfleger*innen aus dem globalen Süden Versorgungslücken im globalen Norden. Transnationale Sorgeketten ziehen Sorgekapazitäten aus ärmeren in wohlhabendere Haushalte, von ärmeren in wohlhabende Länder ab (care drain). Dadurch wird eine Krisensituation von Deutschland nach Polen und weiter in die Ukraine verlagert, wenn eine polnische Altenpflegerin ihre Care-Aufgaben an eine Ukrainerin gegen geringe Bezahlung übergibt, die dann wiederum bei sich zu Hause eine Lücke hinterlässt (Hochschild 2000). Die Frauen entwickeln Subjektivitäten von transnationaler Mutterschaft.

Der nationale und transnationale Sorgeextraktivismus, der zentral für Krisenlösungen ist, bleibt unter dem Radar der politischen Ökonomie, während Ressourcenextraktivismus eine bedeutende polit-ökonomische Kategorie ist, vor allem seit linke Regierungen in Lateinamerika den Raubbau an den Bodenschätzen in der Krise forcierten, um mit den Erlösen Sozialprogramme finanzieren zu können.

Sorgearbeit setzt die Frage der Anerkennung auf die politische Agenda. Rund um den Globus beklagen Frauen, dass unbezahlte Haus-, Familien- und Gemeindearbeit zu wenig gewertschätzt und entsprechend als Lohnarbeit miserabel bezahlt wird. Überall streiten Hausangestellte dafür, als „vollwertige“ Arbeiterinnen anerkannt zu werden, denn nur dann haben sie Anspruch auf Arbeitsrechte, soziale Sicherung und Organisierung. Selbstorganisiert erkämpften sie mit einer internationalen Kampagne 2011 bei der ILO eine eigene Konvention Nr. 189 für „würdige Arbeit“.

Genau den Mangel an Wertschätzung und an Qualität artikulierten in den vergangenen Jahren viele Streiks und Proteste im personennahen Dienstleistungsbereich. Die KiTa-Beschäftigten in Deutschland demonstrierten nicht nur für höhere Löhne, sondern für mehr Anerkennung ihrer Arbeit (vgl. Kutlu 2015, Winker 2015). Altenpfleger*innen forderten mehr Wertschätzung und eine Aufweichung der Pflegemodule, Pflegepersonal und Ärzt*innen in der Charité in Berlin sind so überlastet, dass sie keine Qualitätsbetreuung mehr gewährleisten können. Diese Kämpfe zeigen, dass die Bedingungen des neoliberalen Marktes qualitätsvolle Sorgearbeit im Wachstumssektor Pflege, Betreuung und personennahe Dienstleistung unmöglich machen. Sie verweisen aber auch darauf, dass im Kontext der Sorgeökonomie neue Bündnisse zwischen Beschäftigten und Patient*innen/Konsument*innen möglich werden.

Während die Weltbank (2011) die unbezahlte Sorgearbeit von Frauen primär als „fehlallokierte“ Zeit- und Arbeitsbelastung und als Einschränkung für bezahlte Beschäftigung betrachtet, ist aus feministisch-ökonomischer Perspektive die Care-Arbeit und ihre intrinsische Logik des Sorgens, der Achtsamkeit und Kooperation ein Ansatzpunkt, um das Wirtschaften insgesamt aus der Perspektive des Versorgens und der Lebensqualität her neu zu denken. Dazu muss angesichts der Perspektive, dass immer weniger produktivistische Lohnarbeit gebraucht wird, die soziale, ökonomische und ökologische Bedeutung von Care mit dem Zielhorizont eines ‚guten Lebens für alle’ politisiert werden.

Erzählung Nr. 5: Dann sollen sie doch Kuchen essen und Unternehmen gründen

Mikrokredite sind in den letzten beiden Jahrzehnten als geschlechtsspezifisch zugeschnittenes Instrument der finanziellen Marktinklusion eingesetzt worden, das armen Frauen Einkommensmöglichkeiten und Armutsmanagement verspricht. Entsprechend dem Modell der Grameen Bank des Nobelpreisträgers Mohammad Yunus in Bangladesh wurde die finanzielle Inklusion zwillingshaft verkoppelt mit Erwerbsarbeit und dem Empowerment von Frauen.

Die Kleinkredite werden in Südasien fast nur Frauen angeboten, weil sie – im Unterschied zu Männern – eine hohe Rückzahlungsmoral von über 90 Prozent bewiesen haben. Auf Basis dieser Sicherheit haben sich im globalen Süden kommerzielle Mikrofinanzinstitutionen entwickelt, die armen Frauen oder Frauengruppen Mikrokredite mit Zinssätzen von über 30 Prozent an der Haustür anbieten. Sie verdrängen herkömmliche Spar- und Darlehenssysteme – Tontine, Merry-go-round, revolving fund, sanghams –, die die Frauen in vielen Ländern in Nachbarschaftshilfe selbst organisiert haben, und auch NGO-finanzierte Selbsthilfegruppen, die durch Sparen und Kreditvergabe den Frauen ein Startkapital für eine „einkommenschaffende Tätigkeit“ als Selbstbeschäftigte, Kleinstunternehmerin oder Mini-Kooperative bereitstellten.

Wird der Kredit investiert, erfüllt sich die Hoffnung nicht unbedingt, ein lokales Kleinunternehmertum aufbauen zu können, wie es der peruanische Ökonom Hernando de Soto bereits in den 1980er Jahren als Kapitalismus von unten propagiert hatte (Soto 1992). Natürlich gibt es einzelne Erfolgsgeschichten. Doch wo Frauen Eier verkaufen, einen Essensstand betreiben, Heilkräuter sammeln, einen Friseursalon eröffnen usw. führt dies häufig wegen des Nachahmeffekts zu einem Überangebot und einem Verdrängungswettbewerb auf den lokalen Märkten, nicht aber zu einer dauerhaften Existenzsicherung (Raza 2014).

Yunus entwickelte in Bangladesh soziale Business-Projekte mit transnationalen Konzernen wie Nokia, Danone, Adidas, Otto und BASF. Die Frauen finanzierten mit den Krediten einen Kleinhandel im Dorf mit Joghurt, Turnschuhen und Telefonzeit. Das Danone-Projekt zielte auf die Verdrängung der haushaltlichen und dörflichen Selbstversorgungsökonomie, denn in Bangladesh stellt jede Frau zu Hause eigenen Joghurt her.

Auch in Indien fungieren die Frauen mit kleinen Franchisegeschäften auf dem Land als Vorhut der konzerndominierten städtischen Konsumökonomie. Sie betreiben Markterschließung für die Unternehmen, übernehmen Absatzrisiken und führen den freien Wettbewerb mit den dörflichen Produzent*innen ein. In Südindien bietet eine Kreditgruppe in ihrem Mini-Supermarkt als Einstieg in den modernen Konsum nur sauber verpackte Konzernprodukte an, nehmen jedoch die Gewürze, Öle und Heilmittel, die die Dorffrauen nebenan herstellen, nicht ins Sortiment auf, weil sie nicht „richtig“ verpackt seien. So drängen die Kreditnehmerinnen die lokale Ökonomie ins Abseits und werten deren Frauenarbeit als nicht marktfähig ab. Ungleichheiten und Interessenunterschiede zwischen den Frauen nehmen zu.

Die Mehrheit der Frauen nutzt die Kredite allerdings nicht für produktive, sondern für konsumtive Zwecke. Oft wurden als erstes Schulden zurückgezahlt, die die Familie oder der Mann beim lokalen Geldverleiher, der Wucherzinsen von über 50 Prozent verlangt, hatte. Häufige Verwendungszwecke sind auch medizinische Kosten für eine Operation und Medikamente oder die Ausrichtung von Hochzeiten sowie Mitgiftzahlungen in Südasien. Die Armen substituieren mit den Krediten auch den Rückgang staatlicher Subventionen sowie geringere Einkommen auf dem Land und finanzieren ihre soziale Reproduktion auf einem höheren Konsumniveau. Milford Bateman (2010) nennt Mikrofinanzierung deshalb den „zerstörerischen Aufstieg des lokalen Neoliberalismus“, der die Armen in die Lage versetzt, die Armut eigeninitiativ und unternehmerisch besser zu managen.

Das Überangebot von Krediten im Dorf durch mehrere kommerzielle Anbieter beförderte viele Frauen in eine Verschuldungsspirale: Angetrieben durch die wöchentliche Zinseintreiberei der Mikrofinanzagenten nahmen sie mehrere Kredite von mehreren Anbietern auf, um alle Rückzahlungen prompt leisten zu können. Hinter der hohen Rückzahlungsquote wie auch hinter dem zunehmenden Cash-Flow und Konsum in den Dörfern verbirgt sich jedoch eine zunehmend hohe Verschuldung. In Indien kam es zu einem Crash des Mikrofinanzsystems, als die Frauen nicht mehr zurückzahlen konnten. Zwar fühlen sich die Frauen aufgewertet, dass sie so viel Geld wie nie zuvor in die Familie einbringen. Doch Empowerment durch die Feminisierung der Kreditnahme und kleinunternehmerische Tätigkeit ist höchst fremdbestimmt und riskant.

Die Finanzkreisläufe binden arme Frauen in den Dörfern und Slums des globalen Südens über eine Kredit- und Verschuldungskette in die globalen Finanzmärkte ein. Der Kredit als Instrument für soziale Ziele der Armutsreduktion und des Frauenempowerments verschränkt die soziale Reproduktion der Armen auf der Alltagsebene mit der Reproduktion der globalen Finanzindustrie (Wichterich 2015).

Neue Geschlechterverträge

Nicht nur im Westen sondern auch im globalen Süden sind Genderrollen und -regime seit den 1980er Jahren im Zuge des jüngsten Schubs von Globalisierungen in Bewegung geraten. Doch Marktinklusion und Lohnarbeit von Frauen entwickeln sich nicht eindeutig, linear und global in Richtung auf mehr Gleichheit und Geschlechtergerechtigkeit, sondern in einem Spektrum zwischen emanzipatorischen, neoliberalen und (neo-)konservativen Werten oft in paradoxer und widersprüchlicher Weise. Dabei entstehen auch eigen-ständige, teils gegenläufige Dynamiken vergeschlechtlichter Subjektivitäten, von Geschlechterordnungen und Alltagspraktiken.

Für Frauen eröffnen sich Handlungsräume, in denen sie – innerhalb marktförmiger Herrschaftsbedingungen – Strategien der Aneignung, Existenzsicherung und Reproduktion verfolgen können. Die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Vergesellschaftung zwischen Unterwerfung und Wahlfreiheit schreibt sich in den Alltagsverstand, die arbeits- und lebensweltlichen Praktiken und die Subjektivitäten ein. Erwerbsarbeit bedeutet oft ein Empowerment und eine Aufwertung gegenüber Männern durch Angleichung von Rechten und Chancen, andererseits aber eine Anpassung an die männliche Norm des „homo oeconomicus“, des Produktivismus und Industrialismus. Während sich so Geschlechterpraktiken z.B. des Wettbewerbs und der Karrieren teilweise angleichen, nehmen die Ungleichheiten unter Frauen wie auch unter Männern zu.

Marktfunktional werden sie nun weniger als schwache, sondern als starke neoliberale Subjekte, als Produktivkraft, konzipiert, die aktiv die Armut managen oder reduzieren können, verantwortlich als Unternehmerinnen ihres Selbst auf den Märkten agieren und widerständig gegen Verwundbarkeiten sind (McRobbie 2010). Vermittelt über Mechanismen der Marktinklusion und des neoliberalen Liberalismus vollzieht sich ein ökonomischer Strukturwandel hin zu mehr Kommodifizierung, Industrialisierung und Rationalisierung. Andererseits werden geschlechtsspezifische Subjektivitäten neu geformt und es findet eine Pluralisierung von Lebenspraktiken statt. Dazu gehören vielerorts auch ein Rechtsbewusstsein sowie Potentiale für Widerstand und Kämpfe. Die insgesamt „paradoxe Integration“ von Frauen in Erwerbsmärkte (Wichterich 2009) vervielfältigt nicht nur Identitäten, sondern auch Widersprüche in den ökonomischen und Geschlechterverhältnissen.

Literatur

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Bateman, Milford (2010): Why Doesn´t Microcredit Work? The Destructive Rise of Local Neoliberalism. London.

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Fraser, Nancy (2009): Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. Blätter für deutsche und internationale Politik 8, 43-57.

Hochschild, Arlie (2000): Global Care Chains and Emotional Surplus Value, in: Giddens, Tony/Hutton, Will (Hrsg.): On the Edge. Globalization and the New Millennium, London, 137-179

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Klinger, Cornelia (2013): Krise war immer. Lebenssorge und geschlechtliche Arbeitsteilungen in sozialphilosophischer und kapitalismuskritischer Perspektive, In: Appelt, Erna/ Aulenbacher, Brigitte/ Wetterer Angelika (Hrsg.): Gesellschaft. Feministische Krisendiagnosen. Münster. 82-105

Kutlu, Yalcin (2015). Kampf um Anerkennung. Die Sozial- und Erziehungsdienste im Streik. In: Z – Zeitschrift marxistische Erneuerung 103 (September 2015), 126-140

McRobbie (2010): Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden

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Porter, Doug/Craig, David (2004): The Third way and the Third world: poverty reduction and social inclusion in the rise of inclusive liberalism, in: Review of International Political Economy 11(2): 387-423

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Wichterich, Christa (2009): gleich, gleicher, ungleich, Paradoxien und Perspektiven von Frauenrechten in der Globalisierung, Königstein/Taunus

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Wichterich, Christa (2016): Feministische internationale politische Ökonomie und Sorgeextraktivismus, In: Brand, Ulrich/Schwenken, Helen/Wullweber, Joscha (Hrsg.): Globalisierung analysieren, kritisieren und verändern. Das Projekt Kritische Wissenschaft, Hamburg, 54-72

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