Krieg und Revolution

Die russischen Revolutionen von 1917 bis 1922

von Stefan Bollinger
März 2017

*

Prüfstein Krieg oder Frieden

„Die Revolution erwuchs unmittelbar aus dem Krieg und der Krieg wurde allen Parteien und revolutionären Kräften zum Prüfstein“,[1] so brachte es der Bolschewik Lew Trotzki auf den Punkt. Heer und Land lagen in der Agonie, ein Ausweg war nötig und die Februarrevolution brachte ihn nicht. Im Gegenteil, es entfaltete sich ein erbärmliches Schauspiel. Noch einmal in den Worten Trotzkis: „Die intellektuellen Führer waren ‚gegen den Krieg‘. Viele von ihnen hatten sich unter dem Zarismus für Anhänger des linken Flügels der Internationale gehalten und sich zu Zimmerwald[2] bekannt. Doch änderte sich alles sofort, als sie sich in ‚verantwortlichen‘ Stellungen befanden. In ihrer Lage bedeutete ein Festhalten am revolutionären Sozialismus auch einen Bruch mit der Bourgeoisie ihres eigenen und der alliierten Länder.“[3]

Ein verhängnisvoller Irrtum, gleich dem, der 1914 die staatstragenden Linken auf allen Seiten, bei der Entente wie den Mittelmächten, in das Lager, teilweise in die Regierungen ihrer bisherigen politischen Feinde brachte – unter der Parole: „Das Vaterland ist in Gefahr!“ Verhängnisvoll im Jahre ‚17 auch deshalb, weil die „neuen“ politischen Akteure nicht verstanden, warum es zu den Unruhen kam, in deren Ergebnis eine „Palastrevolution“ der bürgerlichen Duma-Parteien (im Einklang mit den Entente-Verbündeten) möglich wurde, eine Bewegung, die von den Massen mit riesigen demokratischen und Anti-Kriegs-Erwartungen aufgeladen wurde. Wer konnte sich den Erfolg des Umsturzes ans Revers heften? Für Lenin war klar: „Die Arbeiter und Soldaten haben die Revolution gemacht. Aber die Macht hat zunächst, wie das auch in anderen Revolutionen der Fall war, die Bourgeoisie an sich gerissen ... Nicht die Reichsduma – die Duma der Gutsbesitzer und der Reichen –, sondern die aufständischen Arbeiter und Soldaten haben den Zaren gestürzt. Aber die neue, die Provisorische Regierung wurde von der Reichsduma ernannt.“[4]

Das konnte beide Seiten mit Illusionen erfüllen und war die Grundlage für eine Entwicklung, die zwei Machtzentren gleichzeitig in Russland regieren ließ: Die Provisorische Regierung aus meist bürgerlichen, seit Mai auch aus linken, nichtbolschewistischen Politikern einerseits und die spontan, aber schließlich systematisch in allen Teilen der Gesellschaft von der Basis gewählten Räte, die Sowjets der Arbeiter, Soldaten, Matrosen und Bauern mit vorherrschend linker, zunächst aber nur bedingt bolschewistischer Ausrichtung. In dieser Doppelherrschaft formierte sich eine nichtparlamentarische, sehr dynamische Macht von unten her. Mindestens 200.000 Deputierte, gewählte Vertreter, arbeiteten in zunächst über 700, im Herbst fast 1.500 Räten, berieten, fassten Beschlüsse, setzten sie als arbeitende Körperschaften selbst um.

All dies ändert nichts an der Tatsache, dass es konservativ-reaktionäre Kreise waren, die in der Revolution zunächst die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten. Der ihnen sicher nicht abgeneigte, aber trotzdem realistisch denkende britische Kriegspremier David Lloyd George charakterisierte in seinen Memoiren diese Regierung wenig wohlwollend – eine Charakterisierung, die wohl auch von den Bolschewiki hätte stammen können: „Die Männer, die der russischen Revolution anfangs die Richtung gaben, waren nicht die Bolschewiken, sondern missvergnügte Aristokraten und Bourgeois – Fürsten, Kaufleute und Advokaten. Dann folgten die Unruhen der halb verhungerten Arbeiter und die Meutereien der Soldaten und Matrosen. Aber sie hatten jahrelang ohne Murren ihr Elend ertragen. [Michail] Rodsianko, Präsident der Duma, Chef und Aushängeschild der Bewegung, war Kammerherr des Zaren. Er war Aristokrat und ein ziemlich bedeutender Großgrundbesitzer. Er war ferner Offizier bei den Gardekosaken. Fürst [Georgi] Lwow gehörte der gleichen Klasse an. [Pawel] Miljukow war ein konservativer Rechtsanwalt und [Alexander] Gutschkow war Fabrikant. Sie alle gehörten den besitzenden Klassen an. Sie waren der Monarchie treu ergeben, aber sie entstammten jener russischen Intelligenz, die seit den Tagen Alexanders I. für eine konstitutionelle Monarchie an Stelle einer absoluten eingetreten war. In ihrer grundlegenden Haltung gegenüber sozialen und ökonomischen Fragen waren sie konservativer als meine Kollegen im Kriegskabinett, die Führer der ... Tories.“[5]

Entscheidend war: Russland wurde durch eine breite Bewegung der Massen umgewälzt, die im Februar und März an der sozialen Lage verzweifelten und sich spontan gegen Zar, Polizei, Ochrana (d.h. die Geheimpolizei), gegen die etablierten politischen Strukturen erhoben. Ende Februar berichteten Korrespondenten aus Petrograd: „Vor den unzureichend gefüllten Bäckerläden rottete sich der im höchsten Grade aufgebrachte Pöbel zusammen. Aber, daran erinnere ich mich sehr gut, unter diesen Störenfrieden befanden sich Leute, die sich mit einer solchen, aus der keineswegs verzweifelten Lage nicht erklärbaren Heftigkeit aufführten, als ob es ihre Parole sei, sich einen bequemen Vorwand zunutze zu machen. Geschäfte wurden geplündert, Scharen von Menschen, die rote Fahnen schwenkten, waren plötzlich auf der Straße zu sehen. Sie manövrierten überall in gleicher Weise, befolgten überall dieselbe Taktik, die darin bestand, den ihnen entgegengeschickten Hundertschaften der Kosaken zuzujauchzen. Die Kavalleristen, die ganz stolz waren, sich zu rehabilitieren und ihren Ruf als Henker des Volkes zu verlieren, den sie immer gehabt hatten, antworteten lächelnd: ‚Nein, wir werden nicht auf unsere Brüder schießen.‘ Sie bewiesen übrigens eine Woche später die Aufrichtigkeit ihrer Gesinnungsänderung, als sie sich auf die Polizisten und Gendarmen stürzten ... Dann schwoll alles an, als ob ein unsichtbarer Regisseur geschickt die Intensität dieser Unruhen eingerichtet und gesteigert hätte. Am 25. Februar wurde der Generalstreik ausgerufen. Lange, düstere Kolonnen zogen vorbei und schrien: ‚Brot!‘“[6]

Mit der hier unterstellten Organisation war es wohl nicht weit her. Arbeiterfrauen waren diejenigen, die am lautesten nach Brot riefen; sie hätten auch Hunger skandieren können – und meinten doch alle nur eines: „Frieden“! Überhaupt spielten in der russischen revolutionären Bewegung die Frauen, die ihre Männer unterstützten, die im Kriegsverlauf mehr und mehr deren Stellen in den Fabriken einnahmen, aber auch viele Intellektuelle, in Gewerkschaften und linken Parteien Organisierte eine entscheidende Rolle. So war es nicht ganz zufällig, dass die Aktionen zum Internationalen Frauentag in einen Aufruhr, eine Revolution umschlugen. Nicht zu vergessen ist, dass auch diese Revolution ihre hunderte Opfer forderte, zusammengeschossen von noch zarentreuen Einheiten. Aber der Triumph war da, wirkte befreiend.

Diese Massenbewegungen bestimmten das ganze Jahr 1917[7]. Sie radikalisierten sich und konnten mehr und mehr von den Bolschewiki zu aktivem Handeln gegen Regierung, Krieg, kapitalistische Ordnung und für eine Macht der Sowjets mobilisiert werden. Aus dieser Massenbewegung erwuchsen die Bolschewiki als handlungs- und kampffähige Massenpartei, formierten sich die Roten Garden, die im Oktober diese Massenbewegung wohlorganisiert zum Sieg führten.

Warum und wie es begann – eine Vorgeschichte

Vehemente Revolutions- und Sozialismuskritiker suchten seit Jahrzehnten Lenin und seine Genossen, die schließlich erfolgreich die Revolution weitertrieben und für ihre Partei im Namen der Arbeiterklasse die Macht eroberten, zu diskreditieren. „Vabanquespieler“, „deutsche Agenten“, „Putschisten“ sind die gängigen Etiketten. Lenin und seine Genossen waren aber eben keine Vabanquespieler, sondern Revolutionäre. Sie wollten Schluss machen mit dem Krieg, Schluss mit der Ausbeuterordnung und sie wussten mehr oder weniger genau, dass sie in Russland eine Revolution in Richtung Sozialismus beginnen wollten und mussten. Sie wussten um die Stärke und Entschlossenheit der zahlmäßig zwar überschaubaren, aber hochkonzentrierten und kampfentschlossenen russischen Arbeiterklasse; ihnen war bewusst, dass sie die Bauernschaft für sich zu gewinnen hatten. Dabei hatten sie keinen Zweifel daran, dass Russland das schwächste Kettenglied im imperialistischen System war und dass der Krieg die sozialen Widersprüche bis zur Unerträglichkeit zugespitzt hatte. Sie kannten zugleich die Härte und Unerbittlichkeit, mit der bislang der Staat des Zaren jeden Widerstand zu brechen verstand.[8]

Vor allem aber wussten sie um die wirtschaftliche Schwäche Russlands und die Rückständigkeit seiner Gesellschaft, den Inselcharakter seiner Industrie und damit auch der dort Arbeitenden. Ein Bauernland umzukrempeln, das musste schwierig sein, konnte ohne Hilfe von außen nicht erfolgreich werden. Russland war ein zwar starkes, aber im Vergleich zu anderen Großmächten und vor allem in Bezug auf seine geografischen wie demografischen Dimensionen schwaches Land.[9]

Im Wissen um diese komplizierte Lage für jede russische Revolution hatte Lenin sein ganzes politisches Leben und seine wissenschaftlichen Anstrengungen darauf gerichtet, den Charakter einer revolutionären Entwicklung zu prognostizieren. Mit den anderen linken politischen Kräften, auch vielen Marxisten herrschte Übereinstimmung, dass zunächst – so 1905, nun auch im Februar 1917 – eine bürgerlich-demokratische Revolution auf der Tagesordnung stand. Russland musste Republik werden, demokratische Freiheiten einführen, demokratische Mechanismen entwickeln und Unterschiede in Stand (die Duma wurde ähnlich dem preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht nach dem Besitzstand seiner Bürger gewählt.), Ansiedelungsform oder Nationalität beseitigen. Allerdings hatte Lenin keinen Zweifel, dass die Bourgeoise unfähig sein würde, eine solche Umwälzung erfolgreich voranzutreiben. Ohne die Unterstützung der Proletarier, aber auch ohne die unzufriedenen Bauern würde es nicht funktionieren. Genauso war das Selbstbestimmungsrecht der vielen Völker im russischen Vielvölkerstaat zwingend notwendig, eventuell bis hin zum Recht auf Lostrennung.

Hier sah er Chance und Aufgabe für die Arbeiterklasse, nicht nur in dieser ersten Phase zu kämpfen, sondern die Revolution in Permanenz auch schließlich in eine sozialistische weiterzutreiben. Die bürgerlichen Bündnispartner würden nun ebenso zu Gegnern.[10] Vor allem aber sah Lenin im Unterschied zu seinen einstigen marxistisch geschulten linken Verbündeten in der Sozialdemokratie, etwa Georgi Plechanow oder Julius Martow, keine „chinesische Mauer“ zwischen diesen einzelnen Revolutionsetappen.

Noch aus dem Schweizer Exil entwickelte Lenin in den „Briefen aus der Ferne“ seine Instruktionen für die bolschewistische Partei im Ringen um politische Hegemonie der radikalen Linken. Im Unterschied zu manch vereinfachten Vorstellungen war diese Avantgardepartei 1917 keineswegs ein Monolith, der nur Lenins Auffassung gelten lassen wollte. Es wurde gestritten, Parteiführer in Petrograd vor Ort sahen die Aufgaben keineswegs so scharf wie Lenin, hatten größere Zeiträume im Blick, wussten nicht so recht, wie aus dem Kriegsdilemma zu kommen wäre.

Lenin dagegen warf Fragen auf, die er bereit war, mit revolutionärer Aktion seiner Partei zu beantworten: „Welche Verbündeten hat das Proletariat in der gegenwärtigen Revolution? Es hat zwei Verbündete: erstens die breite, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bildende und viele Dutzende Millionen zählende Masse der halbproletarischen und zum Teil kleinbäuerlichen Bevölkerung in Russland. Diese Masse braucht Frieden, Brot, Freiheit und Land. Diese Masse wird sich unvermeidlich unter einem gewissen Einfluss der Bourgeoisie und besonders der Kleinbourgeoisie befinden, der sie ihren Lebensbedingungen nach am nächsten steht, und wird zwischen Bourgeoisie und Proletariat schwanken.“[11]

Dabei war ihm klar, dass dies ein komplizierter Lernprozess sein würde, denn im Unterschied zu den bis heute allseits beliebten Agententheorien wusste Lenin, dass Agitatoren, Flugblätter, Zeitungen – so gut sie auch waren –Menschen in großer Zahl kaum mobilisieren würden. Sie mussten selber aus ihren Lebensumständen lernen, mussten so unzufrieden sein, sich so in ihrer Existenz bedroht fühlen, dass sie bereit waren, auch mit ihrem Leben für eine Sache einzustehen. Je weniger dies nur ein dumpfes Gefühl war, je mehr sie die Schwäche der Herrschenden erkannten, je mehr sie eine politische Perspektive aufgezeigt bekamen, desto eher konnte ein diffuses individuelles oder kollektives Handeln von der Desertion über die Lebensmittelbeschaffung bis zum Sturm auf Gutshöfe sich in organisiertem Handeln wiederfinden.

Wieder sind wir beim Krieg, den Lenin als den ausschlaggebenden Wendepunkt begriff: „Die harten Lehren des Krieges, die um so härter sein werden, je energischer die Gutschkow, Lwow, Miljukow und Co.[12] den Krieg führen, werden diese Masse unweigerlich zum Proletariat drängen und sie zwingen, ihm zu folgen. Wir müssen jetzt bestrebt sein, die relative Freiheit der neuen Ordnung und die Sowjets der Arbeiterdeputierten auszunutzen, um vor allem und am meisten diese Masse aufzuklären und zu organisieren. Sowjets der Bauerndeputierten, Sowjets der Landarbeiter – das ist eine der wichtigsten Aufgaben. Hierbei werden unsere Bestrebungen nicht nur darauf gerichtet sein, dass die Landarbeiter ihre eigenen, besonderen Sowjets schaffen, sondern auch darauf, dass die besitzlosen und armen Bauern sich getrennt von den begüterten Bauern organisieren ...“[13]

Nicht nur für Russland, sondern für alle kriegführenden Länder galt: Der Krieg spitzt alle sozialen und nationalen Widersprüche zu. Der Tod an der Front, die erbärmliche Versorgungslage im Hinterland, die verschärfte Ausbeutung, Zensur und Ausnahmegesetze sorgten für Konfliktpotential, dass – so die Furcht der Herrschenden und die Hoffnung der radikalen Linken – sich revolutionär entladen könnte. Dass dies besonders für jene Länder galt, die einer Niederlage zustrebten, lag nahe.

Angesichts der Rückständigkeit des Landes sah Lenin schon in seinen Überlegungen vom März 1917 die Zwickmühle der russischen Revolutionäre. In Russland, dem „schwächsten Kettenglied“, entwickelte sich eine Konstellation, die es ermöglichen sollte, eine Bresche in das imperialistische Kriegslager und den Kapitalismus zu schlagen. Der Erfolg eines solchen Umbruchs wäre aber kaum aus eigener Kraft zu halten. Deshalb hob er hervor: „Zweitens hat das russische Proletariat einen Verbündeten im Proletariat aller kriegführenden und überhaupt aller Länder. Zwar lastet jetzt auf ihm noch schwer der Druck des Krieges, und allzu häufig sprechen in seinem Namen die Sozialchauvinisten, die in Europa ... zur Bourgeoisie übergelaufen sind. Aber die Befreiung des Proletariats vom Einfluss der Sozialchauvinisten hat mit jedem Monat dieses imperialistischen Krieges Fortschritte gemacht, und die russische Revolution wird diesen Prozess unvermeidlich ganz gewaltig beschleunigen.“[14]

Lenin hatte keine Illusionen über die Aussichten der russischen Revolution in seinem rückständigen Land. Sie konnte und musste Impuls für sozialistische Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern Westeuropas sein, vor allen in Deutschland. Russland mochte danach dann ins zweite Glied zurücktreten. Man war in Russland „Vortrupp der internationalen sozialistischen Revolution ... Der Russe hat begonnen, der Deutsche, der Franzose, der Engländer werden vollenden, und der Sozialismus wird siegen.“[15] (Die Konzeption vom Aufbau des Sozialismus in einem Land folgte unter Lenins Nachfolgern erst, als sich diese Hoffnungen nicht erfüllten.)

Das Friedens-Versprechen vom Februar zerstob fast augenblicklich; auch die neuen Führer wollten das „Vaterland“ weiterverteidigen. Das Friedens-Versprechen des Oktober wurde in Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten manifest, auch wenn „dank“ der Unersättlichkeit der deutsch geführten Allianz und der fatalen Bündnislogik der bisherigen Ententeverbündeten der äußere Frieden noch in weite Ferne rückte. Vor allem aber, weil sich Deutsche wie US-Amerikaner oder Briten mit der russischen Bourgeoisie über alle nationalen Grenzen hinweg in der Erkenntnis einig waren, dass diese Revolution nicht nur Frieden, sondern auch Sozialismus bringen würde. Das aber wollten sie um keinen Preis zulassen. Winston Churchill, damals Kriegsminister, verstand sich als Verteidiger des westlichen Kapitalismus mit glasklaren Zielvorstellungen: „Die Hilfe, die wir diesen russischen Armeen [der weißen Konterrevolution – St.B.] geben können, die jetzt im Kampf gegen die üble Affenherde des Bolschewismus engagiert ist, kann Waffen, Munition, Ausrüstung und die technischen Dienste umfassen.“[16] In Zeiten der Demobilisierung mochte er allerdings nicht mehr an den Einsatz eigener regulärer Truppenverbände denken.

Russland war als militärisch gefürchtete Großmacht in den Krieg gezogen, seine politische Klasse wollte selbst etwas vom Kuchen der Neuordnung der Welt abhaben.[17] Sie träumte vor allem von der Konkursmasse des Osmanischen Reiches und setzte auf die Vormacht in einer slawischen Völkerfamilie. Schon in der Schlacht bei Tannenberg Ende August 1914 zerschlugen sich trotz der Zähigkeit, Duldsamkeit, Tapferkeit der russischen Soldaten solche Hoffnungen. Russland zahlte einen hohen Preis für sein Kriegsengagement, auch im Vergleich zu den anderen großen Kriegsmächten.

Die Stimmung im Lande, zumal im vierten Kriegsjahr, wurde immer schlechter. Es wurde nicht mehr nur gemurrt und still räsoniert. Die Wut des einfachen Mushiks, des russischen Bauern, des Arbeiters, der Soldaten und der Matrosen brach sich Bahn. Trotzkis Beschreibung gibt diese Atmosphäre im Herbst 1917 plastisch wieder: „An der Front wurde die Lage mit jedem Tage unerträglicher. Der kalte, windige, regnerische Herbst war im Anzug. Ein vierter Winterfeldzug kam immer näher. Nahrungsmittel wurden täglich karger. Hinter der Front hatte man die Front vergessen. Hilfs- und Ablösungstruppen ließen auf sich warten; es fehlte auch die notdürftigste Winterkleidung. Desertionen wurden häufiger. Die alten, in der ersten Revolutionsperiode erwählten Heeresausschüsse blieben auf ihrem Posten und unterstützten Kerensky’s Politik. Neuwahlen waren verboten. Ein Abgrund tat sich zwischen den Ausschüssen und den Soldatenmassen auf, der sich erweiterte bis endlich die Soldaten den Ausschüssen nur noch mit Abscheu begegneten. Von den Schützengräben mehrten sich die Absendungen von Vertretern nach Petrograd, die in den Sitzungen des Petrograder Sowjets offen die Frage stellten: ‚Was nun? Wie und durch wen soll der Krieg beendet werden? Warum schweigt der Petrograder Sowjet?‘“[18]

Das war das Problem, vor dem die politischen Kräfte Russlands (und eigentlich die aller kriegführenden Mächte und der in ihnen agierenden Kriegsgegner) standen. Die Bolschewiki um Lenin – bei allen inneren Diskussionen – waren diesbezüglich weit weniger naiv als ihre linken potentiellen Bündnispartner und Konkurrenten, ja Gegner. Typisch ist Lenins Reaktion auf eine Erklärung der Provisorischen Regierung Ende April 1917 über die Weiterführung des Krieges bis zum Siege bei gleichzeitigem Verzicht auf einen Frieden mit Annexionen. „Mit Heiligenbildern gegen Kanonen. Mit Phrasen gegen das Kapital. Die ‚Verlautbarung‘ der Regierung über den Verzicht auf Annexionen war ein zu nichts verpflichtendes diplomatisches Manöver, das zwar unwissende Bauern irreführen konnte, die Führer der kleinbürgerlichen Parteien der Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre ... aber nur dann ‚verwirren‘ konnte, wenn sie betrogen sein wollten.“[19]

Lenin beherrschte die Klaviatur taktischer und strategischer Züge und Wendungen sowohl in der innerparteilichen und innerlinken Auseinandersetzung wie in der erstrebten Veränderung der Gesellschaft. Er spitzte immer wieder zu. Da blieb für das Herumgedruckse um politische Positionen einzelner Gestalten der derzeitigen Regierung kein Platz. Für ihn ging es um den politischen, den Klassencharakter dieser Regierung. D.h., für ihn war wichtig zu zeigen, wessen Interessen diese Regierung jenseits aller wortreichen Erklärungen und deren Auslegung vertrat. Das waren die Interessen des russischen wie des westlichen Entente-Kapitals, die den Krieg für Profit und Geländegewinn brauchten und fortsetzen wollten. Für diejenigen Linken, die das nicht verstanden, hatte er nur Spott und Verachtung übrig: „Bei unwissenden Bauern ist es entschuldbar, wenn sie vom Kapitalisten das ‚Versprechen‘ verlangen, ‚nach Gottes Gebot‘ und nicht als Kapitalist zu leben, kein ‚Verteidiger der Interessen des Kapitals‘ zu sein. Wenn die Führer des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten ... eine solche Politik treiben, so heißt das die schädlichsten, für die Sache der Freiheit, für die Sache der Revolution verhängnisvollsten trügerischen Hoffnungen des Volkes auf die Kapitalisten nähren.“[20]

Unter dieser Prämisse war es für die Bolschewiki unmöglich, mit den anderen politischen Kräften, in diesem Falle den sozialdemokratischen Menschewiki und den Sozialrevolutionären, geschweige denn den bürgerlichen Parteien zusammenzugehen und als einzigen Vorzug der Februarrevolution den Sturz des Zaren und den Übergang zu einer „grenzenlosen Demokratie“ der freien Presse, Versammlungen und Vereinigungen zu preisen. Sie wollten nicht nur die „Türschilder“ auswechseln, sondern die Gesellschaft grundlegend verändern. Mit Reden und Sitzungen waren weder der Krieg zu beenden noch die sozialen Nöte zu beheben.

Der Streit nicht nur um das Jahr 1917

Freudige Erinnerungen an radikale Revolutionierungen von Politik, Kultur und Lebensweise bewegen heute die jüngere Generation der Kapitalismuskritiker. Viele Linke stehen aber immer noch unter dem Schock der extrem ambivalenten Entwicklungen der sieben Jahrzehnte staatlich organisierten Sozialismus –mit seinen sozialen Errungenschaften und Leistungen auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite ebenso mit der Last der im Namen dieser Ordnung begangenen Verbrechen, die zumeist mit dem Namen Stalins verbunden werden. Für den Mainstream ist das Jahr 1917 dagegen nur der Beginn einer glücklicherweise gescheiterten – und historisch gesehen kurzen –Episode, die vorübergehend mit der guten kapitalistischen Ordnung brach.

Für marxistische Linke – bei aller Selbstkritik und auch bei aller Unterschiedlichkeit – ist eine andere Herangehensweise geboten. Sie werden auf jeden Fall feststellen, dass das Jahr 1917 immer wieder neu anzueignen ist und auch vermerken, dass die krisenhaften Brüche in der obsiegenden kapitalistischen Ordnung und das Erstarken rechtskonservativer, nationalistischer, faschistischer Kräfte in neuer Weise die Alternative des Sozialismus und die Frage nach dem Weg zum Sozialismus stellen.

In den heutigen Debatten geht es oft weniger darum, was wirklich damals geschah, was die damaligen Akteure bezweckten, als vielmehr um das, was heute in die Ereignisse vor 100 Jahren hineingelesen wird. Diese Interpretationen sind natürlich kein Zufall. Sie sind Konsequenz der politischen Auseinandersetzungen der folgenden bewegten Jahrzehnte, die keineswegs nur das historische Russland und dessen Nachfolger Sowjetunion, sondern ganz Europa und die ganze Welt erfassten. Hoffnungen und Enttäuschungen, Befreiungen und Verbrechen liegen eng beieinander, sind verwoben, sind eben geschichtlicher Prozess politischer Kämpfe. Karl Marx hatte in seiner Analyse der innerkapitalistischen Widersprüche, die zur Lösung drängen, eine „Epoche sozialer Revolution“[21]vorausgesehen.

Die russische Revolution war allerdings, wie sich bald zeigte, keine Lokomotive auf einer geraden Eisenbahnstrecke, sondern auf Geleisen mit Weichen, Wendeschleifen und Prellböcken. Heute wissen wir, dass diese Lokomotive entgleisen konnte und der Gegenzug zur kapitalistischen Restauration freie Fahrt bekam. Erst recht, weil es im Westen, insbesondere in Deutschland, nicht gelang, Revolutionen oder auch nur linke Ordnungen auf den Weg zu bringen, die sich mit Sowjetrussland verbanden.

Die Russischen Revolutionen von 1917 bis 1922 – die Februarrevolution 1917, die Oktoberrevolution 1917 und die Wende zur Neuen Ökonomischen Politik 1921 und vor allem die Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 –sind heute umstritten wie eh und je. Sie bilden aber einen einheitlichen revolutionären Prozess von bürgerlich-demokratischer, antikapitalistischer, sich sozialistisch-verstehender und schließlich sich stabilisierender staatlich organisierter Revolution. Die russischen Revolutionen werden heute als Teil einer revolutionären Welle im Gefolge des Ersten Weltkrieges gesehen. Die Ereignisse in Russland im Februar wie im Oktober waren Fanal für die im Westen, später auch im Osten einsetzenden Revolutionen, Aufstände, Umstürze gegen den Krieg, gegen die diskreditierten herrschenden Klassen, gegen nationale Unterdrückung.

Zwar sind aus heutiger Erfahrung jene Thesen obsolet, die die russische Revolution von 1917 zu geradezu übermenschlicher Dimension überhöhten und alle Ereignisse der Welt an ihr messen wollten – wie es in der sowjetischen und der ihr nahestehenden Geschichtswissenschaft verbreitet war.

Dennoch war die unmittelbare Wirkung der Revolution enorm. Auch dem Sozialismus sehr fern stehende Zeitgenossen waren von ihr beeindruckt. Der bereits zitierte Lloyd George, wahrlich kein Linker, hielt diese Revolution für „ein so gewaltiges Faktum der Weltgeschichte, dass eine genauere Kenntnis ihrer Ursprünge für jeden Beobachter großer Menschheitsbewegungen stets von Interesse sein muss“.[22] Ohne die russische Revolution hätte es all die weiteren Revolutionen gegen den Krieg und für nationale und soziale Selbstbestimmung insbesondere zwischen 1918 und 1923 nicht gegeben. Ohne den Sowjetstaat als ersten sich sozialistisch verstehenden Staat, ohne das Wirken seiner Kommunisten und die Wechselwirkung mit einer radikalisierten, verzweifelten, kämpferischen radikalen Linken hätte es keine Systemkonfrontation und keinen Wettbewerb der Gesellschaftssysteme gegeben. Gerade der Rückblick nach 1990/91 zeigt, dass auch das viel beschworene „sozialdemokratische Jahrhundert“ (Ralf Dahrendorf) ohne die Systemkonkurrenz wohl nicht das Licht der Welt erblickt hätte, in dem es gelang, die Lage der arbeitenden Menschen deutlich zu verbessern und über mehrere Jahrzehnte den Kapitalismus in mancher Hinsicht zu „zähmen“.

Nach dem Untergang des Realsozialismus und der Sowjetunion können die Wissenschaft wie die Politik die Ereignisse von 1917 mit ihren Folgen weit nüchterner betrachten. Heute kann unbefangener von der Permanenz der russischen Revolutionen gesprochen, können die Tücken einer Revolution in einem rückständigen Land beschrieben, die Leistungen und Grenzen jener politischen Kräfte herausgestellt werden, die gegen den Zarismus kämpften, aber nicht mit den Bolschewiki einverstanden waren.

Die Umbrüche der Jahre 1917 bis 1922 sind Bestandteil eines revolutionären Prozesses und doch in ihren Zielen, Ergebnisse, Erwartungen und Folgen zu unterscheiden. Sie sind Teil eines revolutionären Umbruchprozesses in Russland, der sich in der gescheiterten Revolution von 1905 bis 1907 erstmals manifestierte, der in den Auseinandersetzungen des Jahres 1917 seinen Höhepunkt fand und deren realsozialistische Orientierung mit dem Übergang zu Neuen Ökonomischen Politik als Antwort auf die tiefe Gesellschaftskrise Sowjetrusslands zementiert wurde. Dieser Prozess fand mit der Bildung der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken im Dezember 1922 und der langsamen Beendigungen der letzten Ausläufer des Bürgerkriegs in den östlichen, asiatischen Regionen bis zum Beginn des nächsten Jahrzehntes seinen Abschluss.

Vor allem aber, die Wirkungen des Umbruchs, beginnend in Petrograd im Oktober 1917 alten Kalenders, beschränkten sich nicht nur auf das auch schon damals geografisch größte Land der Welt, ein Sechstel der Erde. „Die Russische oder genauer: die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917 war bereit, der Welt dieses Signal [zur Ablösung des Kapitalismus – St.B.] zu geben“, wie der marxistische Historiker Eric Hobsbawm betont. „Deshalb war sie für dieses Jahrhundert ein ebenso zentrales Ereignis, wie es die Französische Revolution von 1789 für das 19. Jahrhundert gewesen war.“[23]

In der Tat hatten die beiden russischen Revolutionen von 1917 unmittelbare Folgen. Bei den Entente-Verbündeten, insbesondere in Frankreich, wie bei den Mittelmächten waren die Jahre 1917 durch Meutereien, Aufstände, Widerstandsaktionen gegen den Krieg geprägt. Es wurde nunmehr nicht mehr nur gemault, an Küchentischen und in Wirthaushinterstuben diskutiert, es wurden nicht mehr nur Flugblätter verfasst und böse Feldpostbriefe geschrieben. An der Heimatfront regte sich offener Widerstand, Frauen protestierten nicht mehr nur in den Brotschlangen, Munitionsarbeiter streikten, Soldaten der französischen Armee und ihrer in Frankreich kämpfenden russischen Verbündeten meuterten und konnten nur mit Gewalt und Massenexekutionen zur Räson gebracht werden. In der deutschen Hochseeflotte wurde aufbegehrt. Im Januar 1918 erschütterten Berlin und Wien große Streiks gegen den Krieg, im Februar hissten Matrosen der k.u.k.-Marine in Cattaro die roten Fahnen des Aufstandes.[24]

Die mittelbaren Folgen vor allem der Oktoberrevolution waren weit radikaler. Noch einmal Hobsbawm: „Die Oktoberrevolution hatte jedoch ein sehr viel stärkeres und globaleres Echo als ihre Vorgängerin. Zwar ist mittlerweile deutlich geworden, dass die Ideen der Französischen Revolution die des Bolschewismus überlebt haben, aber die faktischen Auswirkungen von 1917 waren bei weitem größer und anhaltender als die von 1789. Die Oktoberrevolution brachte die gewaltigste Revolutionsbewegung der modernen Geschichte hervor. Ihre Ausdehnung über die Welt ist seit dem Siegeszug des Islam in seinem ersten Jahrhundert ohne Parallele geblieben. Bereits dreißig bis vierzig Jahre nach Lenins Ankunft am Finnlandbahnhof von Petrograd befand sich ein Drittel der Menschheit unter der Herrschaft von Regimen, die unmittelbar aus den ‚Zehn Tagen, die die Welt erschütterten‘ (Reed, 1919) und Lenins organisatorischem Modell, der Kommunistischen Partei, hervorgegangen waren. Die meisten dieser Regime traten der Sowjetunion in einer zweiten Revolutionswelle bei, die in der zweiten Phase des langen Weltkriegs von 1914-1945 anschwoll.“[25] Mit den sich sozialistisch orientierenden nationalen Befreiungsrevolutionen in China, Vietnam, Korea und Kuba erreichte der neue Machtblock unter sowjetischer Führung Anfang der 1960er Jahre seine größte globale Ausdehnung. Dazu kamen die nationalen Befreiungsbewegungen und die Nationalstaatsbildungen im Zuge der letztlich auch durch den Roten Oktober entscheidend angestoßenen Entkolonialisierung. Die inneren Schwächen, Konflikte und Spaltungen führten jedoch auch dazu, dass dieser Block seit den späteren 1960er und den 1970er Jahren zu erodieren begann.[26]

Russische und westeuropäische Linke, Marxisten, warnten damals, für eine sozialistische Revolution sei das Riesenreich noch lange nicht reif. Manche ahnten 1917, dass eine sich sozialistisch verstehende Revolution nur unter idealen Bedingungen – den weiteren Revolutionen im Westen – Erfolg haben mochte. Lenin und die Bolschewiki kannten all diese berechtigten Bedenken. Sie wollten entgegen alle Bedenken und aller realen Kriegsverlängerung durch die von nichtbolschewistischen Linken gestützte Provisorische Regierung das Völkermorden durch einen revolutionären Bruch beenden. Ihnen ging es nicht um’s Theoretisieren und Diskutieren über „Reife“ oder „Unreife“. Vielmehr griffen die Bolschewiki die Stimmung eines sozial zerrissenen, vor allem aber kriegsmüden und allseits erschöpften Landes auf und gaben ihr Parolen und Führung. Für die Widersprüche im Lande und für die Beendigung des Krieges sahen sie nur diesen einen Weg – die Revolution, wobei lange das Wie, der konkrete Weg offen blieben. Stimmzettel oder die Straße[27], Überzeugungsarbeit in den gerade wiedererweckten Räten, den Sowjets.

Sie waren ein Ergebnis, eine Errungenschaft der gescheiterten russischen Revolution von 1905/07. Arbeiter, Soldaten, Bauern wählten basisdemokratisch ihre Vertrauensleute, die praktische Politik umsetzen sollten. Sie blieben ihrer jeweiligen Wählerschaft rechenschaftspflichtig und konnten jederzeit abgesetzt werden. Diese basisdemokratischen Strukturen, in ihrer politischen Ausrichtung zunächst noch unentschieden, wenn auch von linken Parteien, aber nicht den Bolschewiki, dominiert, kehrten spontan in der Februarrevolution zurück und bildeten ein Gegengewicht zu den parlamentarischen Gremien, die die bürgerlichen Parteien favorisierten.

Der Kampf gegen den Krieg, geschweige denn für eine sozial gerechte und demokratische Gesellschaft derjenigen die arbeiten, erforderte nicht Moralisieren oder Beten, sondern das Handeln mit allen Konsequenzen. Gerade die Russischen Revolutionen bestätigten: Geschichte vollzieht und versteht sich zuallererst nicht aus irgendwelchen Verschwörungstheorien heraus, sondern aus dem Handeln politischer Subjekte. Politiker und Intellektuelle sind wichtig, aber es braucht handelnde Massen. Die wiederum werden nur längerfristig Erfolg haben, wenn sie in der Gesellschaft, zumindest in deren aktivem Teil, ernsthaft verankert und von diesen getragen werden.

Die Oktoberrevolution war die Konsequenz aus den sozialen Widersprüchen und dem Unvermögen der herrschenden Klasse, trotz ihrer vielfältigen Machtinstrumente ihre Macht zu bewahren. Zuallererst war sie eine Revolution gegen den Krieg. Alleingelassen vom internationalen Proletariat, von Feinden im Innern und von außen wütend bekämpft, mussten die Bolschewiki Antworten auf viele neue Fragen sozialistischer Entwicklung finden. Ihr Vorzug war lange die Fähigkeit, die Interessen der arbeitenden Menschen zu erkennen und in Politik umzusetzen. Dabei konnten sie viel im Interesse dieser Menschen und mit ihnen, vor allem durch sie bewegen. Sie irrten aber ebenso oft, gingen Irrwege und schädigten oft genug das eigene Ideal.

Trotz allem, sie haben es versucht, sie fanden in vielen Linken, aber auch in Menschen, die für Frieden, Demokratie, soziale und nationale Befreiung eintraten, Sympathisanten und Verbündete. Das „kurze 20. Jahrhundert“ (Hobsbawm) war dank der Russen auch ein Jahrhundert sozialer Gerechtigkeit, sozialer und nationaler Emanzipation. Der Rote Oktober war dafür ein Beginn – aus dem mehr hätte werden müssen. Das bleibt heutigen Linken in einem krisenhaften Kapitalismus überlassen.

* Vom Autor erscheint im Frühjahr 2017: „1917 – Revolution gegen den Krieg. Skizzen zu Geschichte und Aktualität der Russischen Revolutionen 1917-1922“ (Arbeitstitel). Eulenspiegel-Verlagsgruppe, Berlin.

[1] Leon Trotzky: Von Oktober bis nach Brest-Litovsk. Die Geschichte der bolschevistischen November-Revolution. Chicago 1919, S. 7/8.

[2] In Zimmerwald tagte 1915 eine internationale Konferenz sozialistischer Kriegsgegner.

[3] Leon Trotzky: Von Oktober bis nach Brest-Litovsk. A.a.O., S. 8.

[4] Wladimir Iljitsch Lenin: An die Kameraden, die in der Kriegsgefangenschaft schmachten. In: ders.: Werke. Bd. 23. Berlin 1966 (im Weiteren: LW), S. 359.

[5] David Lloyd George: Mein Anteil am Weltkrieg. Kriegsmemoiren. Bd. 2. Berlin 1934, S. 303. Lenins Charakteristik findet sich in Wladimir Iljitsch Lenin: An die Kameraden, die in der Kriegsgefangenschaft schmachten. In: LW Bd. 23, S. 359.

[6] Ludovic Naudeau, Korrespondent der französischen „Le Temps“. In: Richard Kohn (Hrsg.): Die Russische Revolution in Augenzeugenberichten. Berlin-Darmstadt-Wien 1967, S. 170/171.

[7] Anschaulich dargestellt bei Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917. Essen 2012; ders.: Die Sowjetmacht. Das Erste Jahr. Essen 2010.

[8] Zu linken Diskussionen u.a.: Wladislaw Hedeler/Horst Schützler/Sonja Striegnitz (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse. Berlin 1997; Ernstgert Kalbe/Wolfgang Geier/Holger Politt (Hrsg.): Aufstieg und Fall des osteuropäischen Staatssozialismus: Ursachen und Wirkungen. Osteuropa in Tradition und Wandel. Leipziger Jahrbücher. Bd. 6. Leipzig 2004; Helmut Bock: Die Russische Revolution 1917-1921. Sieg oder Tragödie? Pankower Vorträge. H. 71. Berlin 2005; Wladislaw Hedeler/Klaus Kinner (Hrsg.): "Die Wache ist müde". Neue Sichten auf die russische Revolution von 1917 und ihre Wirkungen. Berlin 2008.

[9] Nutzbringende Übersichten liefern u.a.: Edward Acton (Ed.): Critical companion to the Russian Revolution, 1914-1921. London 2007; Riccardo Altieri/Frank Jacob (Hg.): Die Geschichte der Russischen Revolutionen. Erhoffte Veränderung, erfahrene Enttäuschung, gewaltsame Anpassung. Bonn 2015; Dietrich Beyrau: Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus. München 2001; Bernd Bonwetsch: Die russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz. Darmstadt 1991; Manfred Hildermeier: Die Russische Revolution 1905-1921. Frankfurt/M. 1989; ders.: Russische Revolution. Frankfurt/M. 2004; ders.: Die Sowjetunion 1917-1991. Berlin-Boston 2016, 3., überarb. u. erw. A.; ders.: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2016, 3. A.; Verena Moritz/Hannes Leidinger: Die russische Revolution. Wien-Köln-Weimar 2011; Richard Pipes: Die Russische Revolution. 3 Bd. Berlin. 1992/1993; Steve A. Smith: Die russische Revolution. Stuttgart. o.J. (2011); Slavoj Zizek: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin. Frankfurt/M. 2002, 1. A.

[10] Dieses Konzept entwickelte Lenin im Sommer 1905, während der ersten russischen Revolution: ders.: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution. In: LW Bd. 9, S. 1-130.

[11] Wladimir Iljitsch Lenin: Briefe aus der Ferne. Brief 1. Die erste Etappe der ersten Revolution. In: LW Bd. 23, S. 321/322.

[12] Also die Minister der ersten Provisorischen Regierung.

[13] Wladimir Iljitsch Lenin: Briefe aus der Ferne. Brief 1., A.a.O., S. 322.

[14] Ebd.

[15] Wladimir Iljitsch Lenin: Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare 11. (24.) Januar. Dritter Gesamtrussischer Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten. 10.–18. (23.–31.) Januar 1918. In: LW Bd. 26, S. 472.

[16] Winston S. Churchill: Demobilisation. 19.02.1919. In: ders.: His Complete Speeches 1897-1963. Ed. Robert Rhodes James. Vol. 3, 1914-1922. New York-London 1974, S. 2670-2671 (Eigene Übersetzung – St.B.).

[17] Siehe Horst Günther Linke: Das Zarische Russland und der Erste Weltkrieg. Diplomatie und Kriegsziele 1914-1917. München 1982; ders.: Rußlands Weg in den Ersten Weltkrieg und seine Kriegsziele 1914-1917. In: Wolfgang Michalka (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse. München-Zürich 1994; Sean McMeekin: Russlands Weg in den Krieg. Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe. Berlin 2014.

[18] Leon Trotzky: Von Oktober bis nach Brest-Litovsk. A.a.O., S. 39.

[19] Wladimir Iljitsch Lenin: Mit Heiligenbildern gegen Kanonen. Mit Phrasen gegen das Kapital. In: LW Bd. 24, S. 184.

[20] Ebd.

[21] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: ders./Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin 1964, S. 9.

[22] David Lloyd George: Mein Anteil am Weltkrieg. A.a.O., S. 299.

[23] Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München-Wien 1995, S. 79.

[24] Siehe z.B. „Helle Panke“ e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin (Hrsg.): Erster Weltkrieg, „Urkatastrophe“ und Widerstand. Materialien einer Konferenz (= Pankower Vorträge. H. 189). Berlin 2014; dies.: Gegen den Krieg! Für den Sozialismus? Arbeiterbewegung und linke Intellektuelle gegen den Ersten Weltkrieg. Materialien einer Konferenz (= Pankower Vorträge. H. 204). Berlin 2016

[25] Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. A.a.O., S. 79/80.

[26] Vgl. ebd., S. 465ff.

[27] Zu Lenins Strategieentwicklung siehe: August H. Nimtz: Lenin’s Electoral Strategy from 1907 to the October Revolution of 1917. The Ballot, the Streets – or Both. New York 2014.

Downloads