Diskussion, Kritik, Zuschriften

Zu Klaus Müller, Historizität und Messbarkeit abstrakter Arbeit, Z 107

(September 2016), S. 146-160

von Helmut Dunkhase
Dezember 2016

Klaus Müllers Ausführungen „zu einigen scheinbar geklärten, erneut diskutierten Fragen“ habe ich mit Genuss gelesen. Meine Einwände/Fragen berühren denn auch in keiner Weise seine Grundposition.

„Die Arbeit, die von allen konkreten Formen und Inhalten abstrahiert, ist Arbeit schlechthin, allgemeine Arbeit. In der Warenproduktion wird sie zur abstrakten Arbeit.“ (148) Die Verknüpfung dieser beiden Aussagen halte ich für inkonsistent, denn sie läuft hinaus auf: Abstrakte Arbeit wird in der Warenproduktion zu abstrakter Arbeit. Es könnte zunächst so aussehen, dass hier zwischen „Arbeit schlechthin, allgemeine Arbeit“ und abstrakter Arbeit unterschieden wird. Aber etwas weiter unten steht noch einmal unmissverständlich: „Ihr abstrakter Charakter (der wertbildenden Arbeit) besteht darin, dass sie von den Besonderheiten der unterschiedlichen konkreten Arten menschlicher Arbeit abstrahiert.“ (149)

Liegt das Spezifische der Warenproduktion darin, dass der Begriff „abstrakte Arbeit“ in ihr kategorial wird? („Die physiologische Gemeinsamkeit der unterschiedlichen menschlichen Arbeiten wird erst zur Kategorie abstrakter Arbeit, wo Menschen Produkte als Waren produzieren.“ [149]) Das wäre schwer einzusehen, denn die Abstraktion von den Besonderheiten menschlicher Arbeiten (und das heißt ja wohl: ihre Reduktion auf Verausgabung von Muskel, Nerv und Gehirn) lässt sich für jegliche Arbeit jeglicher Epoche vollziehen, und eine solche Bestimmung der abstrakten Arbeit würde wohl kaum dem Marxschen Verständnis entsprechen, wenn wir – im „Fetisch-Kapitel“ des Kapital – Marx‘ Ausflüge in verschiedene Produktionsformen Revue passieren lassen. Robinson weiß, dass „verschiedne Betätigungsformen … nur verschiedne Weisen menschlicher Arbeit sind“ und in den Beziehungen zwischen ihm und den Dingen „alle wesentlichen Bestimmungen des Werts enthalten“ sind. In der sich selbst versorgenden Bauernfamilie erscheint „die durch die Zeitdauer gemeßne Verausgabung der individuellen Arbeitskräfte“ in Ackerbau, Viehzucht, Spinnen, Weben, usw. „als gesellschaftliche Bestimmung der Arbeit selbst, weil die individuellen Arbeitskräfte von Haus aus nur als Organe der gemeinsamen Arbeitskraft der Familie wirken“. Schließlich wird im „Verein freier Menschen“ die Arbeitszeit sowohl in der planmäßigen Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit als auch als „Maß des individuellen Anteils der Produzenten an der Gemeinarbeit“ ihre Rolle spielen. Ähnlich auch in dem von Müller selbst gebrachten Zitat aus den Grundrissen (150). Gibt es einen Zweifel, dass in allen Fällen die von den Besonderheiten der verschiedenen Arbeiten abstrahierende Arbeitszeit gemeint ist?

Wenn nur in der Waren produzierenden Gesellschaft abstrakte Arbeit eine ökonomische Kategorie ist, fallen abstrakte Arbeit und Wert bildende Arbeit zusammen. Die inkonsistente Darstellung der abstrakten Arbeit zeigt sich also auch darin, dass eines von beiden, abstrakte Arbeit oder Wert, überflüssig wäre.

Dennoch ist abstrakte Arbeit nicht völlig reduzierbar auf Verausgabung von Muskel, Nerv und Gehirn. Sie ist immer Arbeit in einem gesellschaftlichen/gemein-schaftlichen Zusammenhang. Die Robinsonade dient Marx nur als künstliches Modell: „Alle Bestimmungen von Robinsons Arbeit wiederholen sich“ im „Verein freier Menschen“, hier „nur gesellschaftlich, statt individuell“ (92).

Schlüssiger wäre es, die überhistorische Geltung der abstrakten Arbeit und nur den Wert als spezifische Erscheinungsform der Warenproduktion anzuerkennen. Und zwar deshalb, weil das Maß der abstrakten Arbeit sich in Waren produzierenden Gesellschaften nur über den vergleichenden „Tauschwert“ (Tauschwert ist eine zweistellige Relation) ans Licht bringen lässt, während seine Referenz, „Wert“ genannt, für die Akteure im Dunkeln bleibt.

Müllers Gewissheit, dass er mit seinem Diktum „… wo es keinen Wert gibt, existiert auch keine abstrakte Arbeit“ (149/150) gleich liegt mit Marx und dem „Offizialmarxismus“ (150) mag für das zweite zutreffen, kaum jedoch für den Meister. Marx hebt in der Kritik des Gothaer Programms hervor, dass in der genossenschaftlichen Produktionsweise die Produkte der Arbeit nicht als Wert erscheinen, da die individuellen Arbeiten unmittelbar als Bestandteil der Gesamtarbeit existieren. Wenn es hierbei nicht um abstrakte Arbeit geht, um was dann? Wie lässt sich der Austausch des individuellen Arbeitsquantums gegen den äquivalenten Anteil am gesellschaftlichen Gesamtprodukt – oder: der Austausch von „gleich viel Arbeit in der einen Form gegen gleich viel Arbeit in einer anderen Form“ (MEW 19: 20) – bewerkstelligen ohne abstrakte Arbeit?

Die von Müller erwähnten Autoren Ruben und Wagner[1] sind konsequenter als Müller. Für sie sind abstrakte Arbeit wie Wert überhistorisch. Wenn Müller dagegen nur den einen Einwand hat, dass „abstrakte Arbeit“ und „Wert“ Begriffe sind, „mit denen wir die Warenproduktion charakterisieren“, bewegt er sich in einem Zirkel, denn dies hat er gerade per Definition so festgelegt. Innerhalb dieses Zirkels ist die Aussage „Wert ist stets gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, aber nicht jede gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Wert“ genau so richtig wie Ruben und Wagners immanente Folgerung, nach der jede Ware immer auch Wert, aber nicht jeder Wert Ware sei.

Wenn abstrakte Arbeit Epochen übergreifend, also auch im Sozialismus, Wert bildet, stellt sich die Frage, welche Wertform die wechselseitige Ersetzung der Produktionsbedingungen in der Gemeinschaftsproduktion annimmt. Ruben und Wagner meinen, dass für die einzelnen Teilproduzenten mit dem Austausch des gelieferten Outputs gegen den empfangenen Input Tauschwert realisiert wird. Dann reduziert sich der Unterschied zwischen Waren- und Gemeinschaftsproduktion auf den Sachverhalt, dass in der Warenproduktion ein Tauschwert viele voneinander unabhängige Äquivalente hat, während in der Gemeinschaftsproduktion der Austausch durch den Plan eindeutig festgelegt ist und dadurch unmittelbar gesellschaftlichen Charakter bekommt (Ruben/Wagner: 1225). Die Sache wird aber (für Ruben und Wagner) noch komplizierter. Sie meinen, dass wegen der „vielen Tauschwerte“, die „unterschiedenen Teilarbeitern zugeordnet sind“ (ebd.), an eine Quantifizierung überhaupt nicht zu denken sei (was nicht erst aus heutiger Sicht falsch ist) und die Abstraktion (von den unterschiedenen Teilarbeiten?) deshalb zum Begriff des „sozialistischen Werts“ führe. Was auch immer damit gemeint ist: „Tauschwert“ und „sozialistischer Wert“ sind dann nicht sinnvoll zu unterscheiden. Zudem erkennen Ruben und Wagner selbst, dass der erscheinende Austausch der Teilproduzenten in der Gemeinproduktion kein äquivalenter „Tausch“ sein kann (Ruben/Wagner: 1230). Neben all diesen Schwierigkeiten geht aber auch der entscheidende Unterschied zur Warenproduktion verloren: In der Warenproduktion kann sich der Wert einer Ware, das Quantum der in ihr verausgabten abstrakten Arbeit, nur spontan und relativ im Vergleich zu einer anderen Ware, eben als Tauschwert, darstellen. In der Gemeinschaftsproduktion hingegen lässt sich das Arbeitszeitquantum eines Produkts als Bestandteil der Produktionsbedingungen eines optimalen Plans nicht nur theoretisch, sondern mit der digitalen Revolution auch praktisch absolut bestimmen.

Zurück zu Müller: Zur Aussage „Wert ist stets gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, aber nicht jede gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Wert“ kommt man auch auf konsistentem Weg, nämlich als Folgerung aus der Anerkennung des überhistorischen Charakters der abstrakten Arbeit und des historischen Charakters des Wertes. Doch Differenzen auf dieser Ebene sind vernachlässigbar gegenüber der entscheidenden Scheidelinie, die zu Theoretikern zu ziehen ist, die die Naturbasis der gesellschaftlichen Arbeit leugnen. Und hierzu hat Klaus Müller einen erhellenden Beitrag geleistet.

Eine Nachbemerkung zu Müllers Ausführungen über abstrakte Arbeit und Geld. Müller hat recht gegenüber den Vertretern der „Neuen Marx-Lektüre“, die behaupten, das Geld sei vor Ware und Wert dagewesen. Doch sein Diktum „Menschen erfanden Münze, Banknote und Euro, nicht das Geld“ (158) - was letztlich nichts Anderes heißen kann als dass Geld im „zufälligen Wertausdruck“ bereits angelegt ist – geht an dem durchaus strittigen Problem der Existenz einer Geldware vorbei. So logisch und plausibel die Marxsche Wertformenanalyse ist, historisch ist sie kaum haltbar. Im alten Mesopotamien war Gerste allgemeines Äquivalent, also Wertausdruck für alle möglichen Waren, aber nicht Verdoppelung (natürlich bezüglich des Wertes) in dem Sinn, dass damit der Händewechsel vollzogen wurde. Und Artefakte, mit denen ein solcher vollzogen wurde, hatten in der Regel einen intrinsischen Wert, der wenig mit dem Wert der durch sie repräsentierten Waren zu tun hatte (eine historische Ausnahme war die Zeit der durch Gold gedeckten Währung – in der Marx lebte) und nur durch staatliche Autorität zur Anerkennung gebracht werden konnten. Für die Entwicklung der Tauschbeziehungen spielten wohl Kreditverträge die wesentliche Rolle. Es gibt keine historischen Belege für die Existenz von Gemeinschaften, in denen sich über die Exklusion bestimmter Waren als Tauschmittel eine Geldware entwickelt hätte.

[1] Peter Ruben und Hans Wagner, Sozialistische Wertform und dialektischer Widerspruch, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 10/1980, S.1218-1230.