Buchbesprechungen

19. und 21. Jahrhundert / Alle Buchbesprechungen

von Georg Fülberth zu Elmar Altvater
September 2016

19. und 21. Jahrhundert

Elmar Altvater, Marx neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie. 2. Aufl. Hamburg 2015, VSA, 9,00 Euro

Elmar Altvater, Engels neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die „Dialektik der Natur“ und die Kritik von Akkumulation und Wachstum. Hamburg 2015. VSA, 12,00 Euro

In zwei schmalen, aber inhalts- und gedankenreichen Bänden versucht Elmar Altvater die besondere Aktualität einiger theoretischer Aussagen von Karl Marx und Friedrich Engels herauszuarbeiten. Unter diesem Aspekt seien diese neu zu entdecken.

Bei Marx ist für ihn der „Bezug zwischen Wert- und Geldbeziehungen einerseits und den stofflich-energe-tischen Prozessen andererseits“ (Marx neu entdecken, 32) für die Gegenwart besonders hervorhebenswert. Anknüpfungspunkte findet er u. a. im fünften Kapitel des dritten „Kapital“-Bandes („Ökonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals“, MEW 25, 87-114). „Marx war also keineswegs der ‚Fetischist der Produktivkräfte‘, als der er häufig hingestellt wird, auch von ökologischen Ökonomen (die nicht immer einen Blick ins Marxsche Werk geworfen haben.“ (Engels neu entdecken, 57)

Wohltuend ist, dass der Autor die Texte, auf die er sich bezieht, nicht presst: nicht alles, was gegenwärtig an historisch-materialistischer Erkenntnis zu haben ist, findet sich schon bei den Begründern des von diesen als wissenschaftlich verstandenen Sozialismus. Zugang zum Verständnis des gegenwärtigen Treibens an den Finanzmärkten kann man zwar über Marx‘ Ausführungen zum fiktiven Kapital (MEW 25, 481-492) gewinnen, spätestens aber in Altvaters Behandlung der Geschlechterfrage (Marx neu entdecken, 75-82) wird deutlich, dass Einsichten, die im 20. Jahrhundert gewonnen wurden, einerseits nicht in den Marxismus des 19. projiziert werden und doch andererseits als dessen Fortführung verstanden werden können. Ähnliches gilt auch für „Gesellschaftstheorien im Anschluss an die Theorien gesellschaftlicher Hegemonie von Antonio Gramsci, die daher zu einer verständigen Lektüre von Marx‘ Schriften unbedingt dazugehören.“ (Ebenda, 126) Es handelt sich also um Weiterentwicklung, nicht in erster Linie um Exegese.

Ebenso verfährt Altvater in dem zweiten Bändchen: „Engels neu entdecken“.

Auf den ersten Blick mag die große Bedeutung überraschen, die der Autor der Schrift „Dialektik der Natur“ zumisst. Er entwickelt folgende Argumentation: Lässt sich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als dialektischer Prozess verstehen, dann gehört dazu auch das Verhältnis des Menschen zur Natur. In dem Maße, in dem Erster Letztere zu beherrschen versucht und vermag, ist auch sie dieser Dialektik unterworfen. Mit dem inzwischen kurrent gewordenen Begriff des „Anthropozän“ (Engels neu entdecken, 47) kann derjenige der Dialektik verbunden werden, vollends nachdem sich dieses zum „Kapitalozän“ weiterentwickelte. (Ebd., 65)

Auch hier gilt: Engels‘ Text ist Ausgangspunkt für Überlegungen, die in ihm noch nicht entfaltet sein können. Eine ausschließlich philologisch-historische Betrachtungsweise wird diese dort nicht finden. Liest man die von Altvater herangezogene nachgelassene Schrift von Engels zur Gänze, stößt man denn doch auf lange Kapitel, in denen eine Ontologisierung der Dialektik nahe liegt. Hierzu gehören die Ausführung zu Chemie, Elektrizität und Mathematik. Nicht sie sind die naturwissenschaftlichen Leitdisziplinen von Engels gewesen, sondern die Evolutionslehre, also ein Zweig der damals zeitgenössischen Biologie. Deren Ansatz wird auch noch fruchtbar in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“. Ein Anspruch, ihn auf die gesamte belebte und unbelebte Natur auszudehnen und ihn gar zum methodischen Leitfaden aller Naturwissenschaften zu machen, ist bei Engels weder zu übersehen noch weiterführend.

In der „Dialektik der Natur“ wird ein erster Kampf gegen den Positivismus geführt. Altvater druckt aus diesem Buch den Abschnitt „Die Naturforschung in der Geisterwelt“ nach. Hier wird erzählt, wie hervorragende Empiriker außerhalb ihres Fachs durch ausschließliche Orientierung an unmittelbar scheinbar Beweisbarem auf spiritistische Bluffs hereinfallen. Unter der Theorie, deren Abwesenheit anfällig für Humbug mache, wird hier einzig die dialektische verstanden. Der Kritische Rationalismus des 20. Jahrhunderts erklärte gerade diese zur Geisterseherei.

Altvater nimmt auch den Text „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ in seinen Band auf. Hier bewegt sich Engels auf sichererem Gebiet als in seinen Ausführungen zu Mathematik, Physik und Chemie, nämlich auf dem der prähistorischen Anthropologie in der Nachfolge von Lewis H. Morgan. Wie sehr dessen Werk inzwischen auch überholt sein mag, so bleibt die Orientierung an der Evolutionstheorie doch fruchtbar. Dagegen lässt sich die These aus der „Deutschen Ideologie“, es gebe „nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte“ (MEW 3, 18), von Engels – und auch von Altvater? – beibehalten, für einen Teil der Naturwissenschaften offenbar doch nicht verifizieren. Der Fortgang des Zitats hätte warnen können: „Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig. Die Geschichte der Natur, die sogenannte Naturwissenschaft, geht uns hier nicht an; auf die Geschichte der Menschen werden wir indes einzugehen haben, da fast die ganze Ideologie sich entweder auf eine verdrehte Auffassung dieser Geschichte oder auf eine gänzliche Abstraktion von ihr reduziert.“ Wie sich „Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen“ gegenseitig bedingen: das Interesse daran leitet Altvaters Arbeiten seit Jahrzehnten und hier auch seinen Rückgriff auf Engels. In der „Deutschen Ideologie“ ging diesen „die sogenannte Naturwissenschaft“ vorläufig „nicht an“, wohl aus pragmatischen Gründen: Konzentration auf Ideologiekritik. Die spätere isolierte Behandlung von Teilgebieten unter dem Aspekt der „Dialektik der Natur“ führte nicht weiter und hat wohl deshalb dazu geführt, dass dieser Versuch nicht abgeschlossen wurde, nur Fragmente entstanden und zunächst ebenso in Engels‘ Nachlass verschwanden wie große Teile des „Kapital“ in dem von Marx.

Elmar Altvaters beide Entdeckungs-Bände blicken vom einundzwanzigsten Jahrhundert ins neunzehnte. Hierbei blieben die Aspekte des Werks von Marx und Engels unbeachtet, die für die Gegenwart nicht relevant erscheinen. Dazu gehört die These vom Proletariat als revolutionärem Subjekt, immerhin das Kernstück wenn nicht des Historischen Materialismus, so doch dessen, was als Marxismus bezeichnet wird. In Marx‘ Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von 1844 wird sie ebenso festgeschrieben wie im „Manifest der Kommunistischen Partei“. Sie bleibt im „Kapital“ präsent, ist dort aber weniger zentral als in den politischen Schriften und in den Briefen von Engels. Selbst dessen militärwissenschaftliche Studien haben einen Zusammenhang mit ihr. Er betrieb sie nicht nur zur Analyse internationaler, sondern auch innenpolitischer Kräfteverhältnisse. Noch in seinem so genannten politischen Testament, der Einleitung zu Marx‘ „Klassenkämpfen in Frankreich“ (1895), sind im Kriegshandwerk ausgebildete klassenbewusste Proletarier, sobald sie die Mehrheit der Wehrpflichtigen bilden, eine Voraussetzung für das Gelingen der letzten Auseinandersetzung.

Sinnvollerweise fehlt dies alles in den beiden Bänden von Elmar Altvater, denn es ist gegenwärtig unerheblich. Zur Lebendigkeit des Werks von Karl Marx und Friedrich Engels gehört, dass je nach Zeitlage immer wieder neue Teile Anknüpfungen bieten, während andere momentan oder auch für immer steril wirken. In diesem sich (hoffentlich) stets erneuernden Rezeptionsprozess stellen Altvaters Angebote Durchgangsstationen dar.

Georg Fülberth

Formwandel des Kapitalismus

Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss. Kritische Neuausgabe mit Essays von Dietmar Dath und Christoph Türcke, herausgegeben und kommentiert von Wladislaw Hedeler und Volker Külow, Verlag 8. Mai, Berlin 2016, 356 S, 24 Euro

Lenins vor 100 Jahren erschienene Broschüre gehört zu den politisch wirkungsmächtigsten Texten des 20. Jahrhunderts. Das Verdienst der vorliegenden Neuausgabe besteht darin, den vielfach kanonisierten Text wieder in seinen konkreten historischen Zusammenhang gestellt zu haben. Dass dies notwendig ist zeigt ein Blick in die entsprechende Sekundärliteratur, in der in aller Naivität der Titel oft mit „höchstes“ oder „letztes“ Stadium des Kapitalismus angegeben wird.1 Tatsächlich trug Lenins Broschüre bis 1931 – seither heißt es einheitlich „höchstes Stadium“ (284) – mehrere Titel, wie im vorliegenden Werk dokumentiert: „jüngste Etappe“ (276) oder auch „neueste Etappe“ (Abbildung Tafel XX), niemals aber „letzte Stufe“. Das ist, wie u.a. eine kleine Debatte in der DKP gezeigt hat2, insofern von Bedeutung, als die Gleichsetzung von „höchstes“ und „letztes“ Stadium unterstellt, Lenin sei der Meinung gewesen, mit der von ihm beschriebenen Entwicklungsstufe sei der „Formwandel des Kapitalismus“ (35) zu einem Ende gekommen.

Die Gleichsetzung des Ausdrucks „höchstes“ und „letztes“ Stadium findet sich sowohl in populären sozialistischen Handbüchern wie in antikommunistischen Machwerken. Tatsächlich aber ging es Lenin nicht um irgendwelche geschichtsphilosophischen Überlegungen über die allgemeine Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus, sondern um die Analyse einer konkreten historischen Situation, wie er schon im 1915 verfassten Vorwort zu Bucharins Buch „Weltwirtschaft und Imperialismus“ geschrieben hatte: „Das Problem des Imperialismus ist nicht nur eines der wesentlichsten, sondern, man kann sagen, das wesentlichste Problem auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften, das den Formwandel des Kapitalismus in jüngster Zeit zum Gegenstand hat.“ (35) Lenin zu unterstellen, dass es keinen weiteren Formwandel des Kapitalismus geben könne, dass der von ihm empirisch beschriebene Monopolkapitalismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts als Grundlage des Imperialismus keinen weiteren Veränderungen unterliegen könne, erscheint vor dem Hintergrund seiner empirischen Methode geradezu grotesk.

Indem die Herausgeber Lenins Arbeit in den Kontext der ökonomischen Debatten am Beginn des 20. Jahrhunderts stellen und neben dem Text der Broschüre auch einige weitere einschlägige Veröffentlichungen (Lenins Vorwort zu Bucharins „Weltwirtschaft und Imperialismus“, den Text zur „Spaltung des Sozialismus“ und das Manifest des Basler Sozialistenkongresses von 1912) einschließen, heben sie die wirkliche historische Bedeutung und originäre Leistung Lenins hervor: Diese besteht in erster Linie nicht in der Analyse des ökonomischen Formwandels hin zum Monopolkapitalismus – das haben auch andere, nicht zuletzt Bucharin und Luxemburg, getan –, sondern in der Verbindung von ökonomischer und politischer Analyse. Insbesondere die enge Zusammenarbeit mit Bucharin – wobei es durchaus zeitweilig Konflikte zwischen Lenin und Bucharin gegeben hat – ist, wie Hedeler/Külow zeigen, eine wichtige Grundlage für die Entstehung von Lenins Schrift gewesen (216/217). Lenins Arbeit zeigt exemplarisch, wie politische Orientierungen auf der nüchternen Analyse einer konkreten ökonomischen und politischen Situation begründet werden müssen, was sich sowohl von einer simplen ‚ökonomischen‘ Ableitungslogik unterscheidet als auch von der isolierten Betrachtung politischer Prozesse. Die Herausgeber zitieren zustimmend das Urteil Georg Lukàcs von 1924, der hervorhebt, dass Lenins Imperialismusauffassung einerseits „wenig wirklich Neues“ enthält, andererseits aber gleichzeitig eine „bedeutende theoretische Leistung“ darstelle: „Lenins Überlegenheit besteht darin – und dies ist eine theoretische Großtat ohnegleichen –, daß es ihm gelungen ist, die ökonomische Theorie des Imperialismus restlos mit allen politischen Fragen der Gegenwart konkret zu verknüpfen (Hervorhebung im Original); die Ökonomik der neuen Phase zu einer Richtschnur für sämtliche konkreten Handlungen in der so entscheidenden Umwelt zu machen.“ (233). Lenin hat keineswegs eine Art ökonomischer Zusammenbruchstheorie entwickelt – die von ihm in einer konkreten historischen Situation konstatierten Fäulnistendenzen des Kapitalismus ergeben sich nur aus der zusammenfassenden Analyse von ökonomischen und politischen Verhältnissen. Wenn Lenin sich heftig und polemisch gegen Kautskys Vorstellungen eines „friedlichen Kapitalismus“ bzw. „friedlichen Ultraimperialismus“ wendet (38), denn geht es immer auch um Kritik an der Verabsolutierung ökonomischer Tendenzen, an der Trennung von Ökonomie und Politik in den politischen Auseinandersetzungen. Der isolierte Bezug auf Lenins Epochenbeschreibung als quasi zeitlos gültig, dessen Übernahme, auch nachdem sich spätestens mit der Konsolidierung des Kapitalismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die politische Situation grundlegend geändert hatte, übersieht die eigentlich innovative Leistung Lenins.

Der untrennbare Zusammenhang zwischen ökonomischer und politischer Betrachtung wird implizit auch durch die beiden am Anfang des Buches stehenden Essays deutlich, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Dietmar Dath, der sich positiv auf Lenin bezieht, diskutiert das Verhältnis von Theorie und Praxis und wendet sich dagegen, Lenin zum „Professor für Globalökonomie“ zu verklären (17) – was nichts anderes heiße, als eine Seite von Lenins Broschüre, nämlich die Erfassung bestimmter ökonomischer Merkmale des zeitgenössischen Kapitalismus, von der politischen Analyse einer bestimmten historischen Situation zu trennen. Dath verweist darauf, dass dies auch bestimmte Züge der aktuellen Marx-Renaissance prägt: Die Analyse des Kapitalismus in einen Gegensatz zur Politik seiner Überwindung zu setzen. Genau dies tut der Essay von Christoph Türcke, der zwischen Lenins ökonomischer Analyse (zutreffend) und politischen Schlussfolgerungen (katastrophal) unterscheidet: „Lenin bietet einen verblüffend prägnanten Begriff jenes Imperialismus, dessen globale Deregulierung wir erleben. Nur die Einspannung dieses Begriffs in eine starre Konzeption unaufhaltsamen historischen Fortschritts war fatal. Dabei hatte Lenin diese Konzeption eigentlich selbst schon untergraben, als er als „höchstes Stadium des Kapitalismus“ ausgerechnet dessen imperialistische „Stagnation und Fäulnis“ erachtete. Fäulnis und stete Höherentwicklung reimen sich schlecht. Aber Lenin war der Vieldeutigkeit seines eigenen Fäulnisbegriffs nicht gewachsen. Er nahm ihn einzig als Indiz für den bevorstehenden Sozialismus wahr – und las daraus die Berechtigung, alles zu tun, um diesem zum Sieg zu verhelfen.“ (30) Genau nicht, möchte man Türcke entgegenhalten: Stagnation und Fäulnis ist kein Begriff allein der „ökonomischen Höherentwicklung“ – es ist ja gerade diese abstrakte Auffassung von ökonomischen Prozessen, die Lenin bei Kautsky und anderen als unmarxistisch kritisiert. Der Sozialismus stand Lenin zufolge nicht aus allein ökonomischen Gründen auf der Tagesordnung, sondern aus dem Zusammenhang ökonomischer und politischer Widersprüche, deren Ausdruck der Erste Weltkrieg war. Die Verabsolutierung seiner Epochenbeschreibung, deren Einordnung in eine Konzeption des unaufhaltsamen Fortschritts zum Sozialismus, erfolgte viel später, als man den Text aus seinem historischen Kontext löste. Lenin war gerade nicht Opfer einer Vorstellung „des unaufhaltsamen historischen Fortschritts“ (31), wie Türcke behauptet; wäre er das gewesen, dann hätte er ja nach dem Muster der II. Internationale geruhsam Kautskys Ultraimperialismus abwarten können. Ob mit Lenin „die Schreckensherrschaft“ ihren Anfang nahm, wie Türcke behauptet, steht auf einem ganz anderen Blatt, ist jedenfalls keine Folge von Lenins Analyse.

Der Text der Broschüre selbst folgt dem Band 22 von Lenins Werken des Dietz-Verlags, wobei der Fußnotenapparat ergänzt wurde und an einigen Stellen auf Übersetzungsprobleme aufmerksam gemacht wird (297).

Abgerundet wird das Buch durch die Darstellung der Entstehungsgeschichte, in der Hedeler und Külow detailliert (manchmal etwas detailverliebt) sowohl politische Hintergründe als auch veröffentlichungstechnische Zusammenhänge schildern. Lenin als Person erscheint dabei nicht immer sympathisch – so wird ihm von zeitgenössischen Beobachtern vorgeworfen, dass er politische Gegner persönlich verunglimpfte und politische Fehleinschätzungen sehr schnell mit Verrat und Ehrlosigkeit gleichsetzte. (214) Hedeler/Külow untersuchen allerdings nicht, ob dies Lenins spezieller Stil war oder Ausdruck einer vorherrschenden Diskussions(un)kultur. Abgesehen davon ist der Kommentar vor allem deshalb wertvoll, weil er den politischen Kontext herstellt, in dem die Arbeit entstanden ist und damit zeigt, wie falsch es ist, sie als überhistorische Analyse des modernen Kapitalismus zu kanonisieren. Kernpunkt ist die Analyse des Ersten Weltkriegs als imperialistische Auseinandersetzung, d.h. als Ausdruck von letzten Endes ökonomisch bedingten Prozessen, bei denen es keine schuldigen oder unschuldigen Länder gibt, bei der sich Parteinahme für die eine oder andere Seite, also „Sozialchauvinismus“, verbietet. Eine solche nüchterne Analyse wäre auch in der heutigen Weltlage angebracht – statt des auch unter Linken vorzufindenden ‚Moralchauvinismus‘.

Besondere Aufmerksamkeit widmen die Herausgeber Lenins Exzerpten in den „Heften zum Imperialismus“. Diese ansonsten wenig zur Kenntnis genommenen Vor- und Nacharbeiten (Lenin führte die Hefte zwischen Herbst 1914 bis Frühjahr 1917) zeigen nicht nur, welche Fülle von Material Lenin verarbeitet hat. Wichtiger noch sind Textexzerpte, die sich mit der Zukunft des Kapitalismus befassen: So kommentiert Lenin Passagen aus Hobsons Werk, die sich mit der Zukunft Chinas auseinandersetzen, mit der Bemerkung „China kann erwachen“. Hobson beschreibt hier die heute Realität gewordene Möglichkeit, „daß China … den Spieß gegen die westlichen Industrieländer umkehren – und deren Kapital und Organisatoren übernehmend, oder, was wahrscheinlicher ist, sie durch eigene ersetzend (! JG) – die Märkte der westlichen Länder mit seinen billigen Erzeugnissen überschwemmen könnte ...“ (Hervorhebung im Original) (255). Dass der Kapitalismus ganz neue Formen annehmen könnte, war Lenin also durchaus bewusst und diskussionswürdig.

Auch wenn man nicht jede Einschätzung der Herausgeber teilen muss – sie haben Lenins wichtigen Text wieder in jenen Kontext gestellt, in der er jenseits von dogmatischen Versteinerungen und legitimatorischer Indienstnahme wieder genutzt werden kann zur Analyse einer konkreten historischen Situation, einer Situation allerdings, die sich von Lenins Zeit grundlegend unterscheidet.

Jörg Goldberg

Duncker-Briefe

Käte und Hermann Duncker. Ein Tagebuch in Briefen (1894-1953). Hrsg. v. Heinz Deutschland u. Mitarb. v. Ruth Deutschland. Inklusive USB-Card mit dem vollständigen Briefwechsel (= Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus Bd. XX, hrsg. v. Klaus Kinner), Karl Dietz Verlag, Berlin 2016, 605 S., 49,90 Euro ISBN 978-3-320-02314-0.

Es ist kaum vorstellbar – Käte und Hermann Duncker haben in der Zeit von Juli 1894 bis September 1941 eine gegenseitige Korrespondenz geführt, die 3606 überlieferte Briefe und Postkarten umfasst. 213 von ihnen wurden für den vorliegenden Band ausgewählt. Die überwiegende Mehrheit (2152 Texte) sowie 630 Briefe an die Kinder und Freunde sowie weitere Dokumente wurden auf einer der Publikation beigefügten USB-Card gespeichert. Ein halbes Jahrhundert ersteht plastisch vor unseren Augen, widergespiegelt im Gedankenaustauch zweier engagierter, der Arbeiterbewegung eng verbundener Zeitgenossen. Den Informationsreichtum dieser Edition in einer Rezension vorzustellen, ist eine Aufgabe, an der jeder Autor scheitern muss. Hier lassen sich nur Zeichen setzen und Neugier wecken.

Die Vorstellung der beiden Briefeschreiber erfolgt nicht durch biografische Skizzen des Herausgebers, sondern anhand selbstgeschriebener Lebensläufe Käte Dunckers und eines von ihr verfassten Lebenslaufes ihres Mannes, also auch mit Dokumenten von hoher Authentizität. Was ansonsten zum Verständnis des Lebensweges der beiden Dunckers und der in ihren Briefen erwähnten Ereignisse und Personen vonnöten ist, wird in einer Fülle von Fußnoten dargeboten. Mit eingestreuten Exkursen werden wesentliche Zusammenhänge hergestellt, anhand anderer Quellen Zeiten überbrückt, in denen die Korrespondenz spärlicher fließt, und wichtige Wegbegleiter der Dunckers vorgestellt. Erst am Ende des Bandes hat der Herausgeber – längere Zeit Assistent Hermann Dunckers an der Gewerkschaftshochschule in Bernau – persönliche Erinnerungen eingespeist.

Am Anfang stehen die ersten Botschaften, die Herr Hermann Duncker und Fräulein Käte Doell austauschten, die jedoch bald zum vertrauensvollen Du übergingen. Da sind zwei junge Menschen bei der Selbstfindung, auf der Suche zueinander und beim Ergründen ihres Platzes in der Gesellschaft. Weil selbst nach der 1898 erfolgten Verheiratung beide Partner durch Studium, Beruf, Krieg und Verfolgung häufiger entfernt von einander als zusammen wohnen und leben, überbrücken sie die Trennung durch ihre intensive Korrespondenz, bei der Persönliches und Gesellschaftliches einander durchdringen. Immer wieder versichern sie sich ihre große Zuneigung und enge Verbundenheit, die auch nicht zerbricht, als Hermann seiner Frau beichtet, ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt zu haben. Beide Ehepartner informieren sich regelmäßig über ihre Aktivitäten in der sozialistischen Bewegung, stets mit kritischem Blick auf ihre Umgebung, nicht selten mit despektierlichen, mitunter wohl auch etwas vorschnellen Äußerungen über ihre Parteigenossen, nicht zuletzt die oberen Funktionäre. Sie tauschen ihre Gedanken über Literatur, Musik, bildende Kunst, Schule und Pädagogik aus. Kätes Engagement für die Rechte der Frauen und Hermanns Erfahrungen als Wanderlehrer und marxistischer Aufklärer ziehen sich durch den gesamten Briefwechsel. Unmöglich – dies über die Jahrzehnte hinweg im Einzelnen aufzulisten. Natürlich sind die Freude am Gedeihen der Kinder wie auch die Sorgen, die sie den Eltern mitunter bereiteten Dauerthema. Und immer wieder das leidige Geld, das allzu oft knapp ist.

Je mehr sich beide in der deutschen Sozialdemokratie engagieren und an den politischen und gewerkschaftlichen Kämpfen teilnehmen, desto stärker treten die realen Geschehnisse des Klassenkampfes in den Vordergrund. Der Hamburger Hafenarbeiterstreik zur Jahreswende 1896/1897 ist das erste gravierende Ereignis, das von Käte anschaulich und mit emotionaler Anteilnahme beschrieben wird. Der Tod Wilhelm Liebknechts ist für Hermann Anlass für eine Würdigung seiner Persönlichkeit und seiner Rolle in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, während uns Käte anschaulich die unter enormer Anteilnahme der Arbeiterbevölkerung erfolgte Beisetzung beschreibt. Die offiziellen Berichte über die Zweite Internationale Konferenz Sozialistischer Frauen in Kopenhagen (1910) findet in Kätes Schilderungen ihre anschauliche Ergänzung. Ähnliches gilt für den Jenaer Parteitag der SPD, auf dem Käte auftritt. Dies mag beispielhaft für den Aussagewert des gesamten Briefwechsels stehen. Wer nur die Printauswahl zur Kenntnis nimmt, könnte meinen, wichtige Ereignisse wie die Revolution in Russland von 1905-1907 habe sie nicht bewegt. Eine Navigation mit der USB-Card belehrt eines Besseren.

Einen hohen Aussagewert besitzt die zwischen den Dunckers geführte Korrespondenz während des Ersten Weltkrieges – er trotz fortgeschrittenen Alters und schlimmer Sehbehinderung als Landsturmmann an der Front, sie in den Nöten des Krieges für den Lebenserhalt der Familie aufopfernd sorgend und sich zugleich mit aller Kraft dem Antikriegskampf widmend. Es gibt nicht allzu viele Zeugnisse, die den barbarischen Charakter des Krieges so ungeschminkt und eindringlich bloßlegen, wie diese Briefe Hermanns an seine Frau Käte. Und die Geschichte der deutschen Linken lässt sich fürderhin nicht erklären, ohne die Briefe einzubeziehen, die Käte an ihren Mann richtete – als Genossin die nach der Verhaftung Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs, Ernst Meyers und anderer Mitstreiter die organisatorischen und politischen Verbindungen unter den Spartakusleuten aufrechterhielt. Die ergiebigsten Teile dieser Korrespondenz wurden bereits vor einem Jahrzehnt veröffentlicht.1

Dass während des Höhepunktes der Novemberrevolution kein Briefwechsel stattfindet, kann nicht überraschen, denn da stehen beide mitten im Geschehen. Der Herausgeber hat in einem Exkurs anhand anderer Quellen ihre Rolle in dieser Revolution reflektiert. Dafür bietet die Korrespondenz der Folgezeit manch bedenkenswertes Replik auf das revolutionäre Geschehen, seine Ergebnisse, deren Ursachen und Folgen. Die Dunckers, bemüht, die kommunistischen Überzeugungen von Luxemburg und Liebknecht hochzuhalten und das Erbe von Marx und Engels weiterzutragen, haben unter den Querelen und Richtungskämpfen innerhalb der KPD regelrecht gelitten.

Einen aufschlussreichen Komplex bilden die während des ersten Aufenthalts der Dunckers in der Sowjetunion an die Kinder versandten Briefe, in denen sie ihre Eindrücke, vor allem aber ihre Begegnungen mit Sowjetbürgern beschreiben. Umso größer ist die Empörung über den Abschluss des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes. Hermann Duncker ist entsetzt und vergleicht die Befürworter dieses Paktes innerhalb der KPD mit den Burgfriedenspolitikern vom August 1914. Hat er im Gegensatz zu seiner Frau, die Stalin als den „wahnsinnigen ‚Alten‘“ bezeichnet, zunächst noch den offiziellen Berichten über die Moskauer Schauprozesse vertraut, so sieht er sich nun einem Ereignis gegenübergestellt, für das ihm jegliches Verständnis fehlt. Die für die Dunckers selbstverständliche, bis in ihre frühen Jahre zurückreichende enge Verbundenheit mit den russischen Revolutionären und dann mit dem Sowjetstaat wird auf eine harte Probe gestellt, da ihr Sohn Wolfgang – trotz intensiver Bemühungen besonders seiner Mutter – im Gefolge des Stalinschen Terrors ums Leben kommt. Und als ob dies des Unglücks nicht genug wäre, begeht ihr Sohn Karl in den USA Selbstmord.

Etwas erstaunlich, dass im Briefwechsel die faschistische Gefahr zwar im Jahre 1923 auftaucht, aber die Auseinandersetzung mit Wesen und Erscheinungsformen des Hitlerfaschismus erste relativ spät massiv thematisiert wird. Das findet seine Erklärung darin, dass Hermann fast das ganze Jahr 1933 inhaftiert ist, nach seiner Freilassung beide Dunckers einige Jahre zusammenwohnen und erst als beide getrennte Wege ins Exil gefunden haben, ein freier schriftlicher Gedankenaustausch wieder möglich wird. Dann jedoch begegnen wir schärfsten Verurteilungen der nazistischen Aggressions- und Vernichtungspolitik und selbst in den trübsten Stunden Überlegungen zu Deutschlands Zukunft. Der Briefwechsel endet im Wesentlichen mit dem Jahre 1941, weil von da an die Dunckers ihre meiste Zeit gemeinsam verbringen und unter einem Dache wohnen. Was für die Nachkriegszeit Wichtiges überliefert ist, findet sich in Briefen an Verwandte und Bekannte und in einem ausklingenden Exkurs des Herausgebers über die letzten Lebensjahre der Dunckers.

Nur mit größtem Respekt lässt sich die herausragende akribische wissenschaftliche Leistung würdigen, die für die Verwirklichung eines solchen editorischen Großprojekts notwendig ist. Heinz Deutschland hat als Herausgeber – unterstützt von seiner Frau und das Wissen vieler Kollegen nutzend – über Jahrzehnte hinweg ein enormes Arbeitspensum bewältigt. Aber ist nicht auch ein wenig zu beneiden, wer sich solch einer Aufgabe widmen darf?

Günter Benser

Revolution und Evolution

Ernst Engelberg. Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Wie bewegt sich, was uns bewegt? Essen: Neue Impulse Verlag, 2015, 255 S., 14,75 Euro.

Es ist ein Glücksfall, dass der Sohn des Historikers Ernst Engelberg (1909-2010), Achim Engelberg, selbst Historiker ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Nachlass seines Vaters aufzuarbeiten. Noch zu Lebzeiten Ernst Engelbergs erschien zu dessen 100. Geburtstag die von Achim Engelberg herausgegebene Aufsatzsammlung „Die Deutschen. Woher wir kommen“, 2012 die vom Sohn fertig gestellte Familienbiographie „Die Bismarcks“. Bereits ein Jahr später erschien im Franz-Steiner-Verlag unter dem Titel „Wie bewegt sich, was uns bewegt? – Evolution und Revolution in der Weltgeschichte“ eine von Achim Engelbert herausgegebene und in die vorliegen Textform gebrachte Kompilation aus veröffentlichten und unveröffentlichten theoretischen und methodologischen Schriften des Vaters, die nun – ergänzt um ein Geleitwort Robert Steigerwalds, drei Beiträge für die Marxistischen Blätter und die Trauerrede, die Ernst Engelberg 1992 auf der Beerdigung Jupp Schleifsteins gehalten hatte – in einer Lizenzausgabe des „Neue Impulse Verlags“ vorliegt1.

Geschichtswissenschaft erscheint bei Engelberg zuvörderst als die Wissenschaft von Revolutionen und sozialer Evolution: „Im weiteren Sinne ist die Evolution Synonym für die Gesamtentwicklung der Menschheit. Im Unterschied zur Revolution, die die Gesellschaft in relativ kurzer Zeit zu etwas qualitativ neuem führt, handelt es sich bei der Evolution im engeren Sinne um quantitative, sich allmählich vollziehende gesellschaftliche Prozesse.“ (30) Charakteristisch für Engelbergs Denken ist dabei, dass er beide Begriffe nicht schlechthin als Gegensatz begreift. Zwar sei der Evolutionsbegriff „mit der Großen Französischen Revolution“ aufgekommen, „um eine Alternative zur bewussten, gewollten und meistens gewaltsamen Revolution zu kennzeichnen“, gleichwohl sei eine „starre“ Entgegensetzung beider Begriffe verfehlt: „Die Evolution mit ihren Widersprüchen ökonomischer, sozialer und ideologischer Art bereitet die Revolution in Inhalt und Form vor, wie diese wiederum die ihr folgende Evolution bestimmt.“ (30) In diesem Wechselspiel evolutionärer Entwicklungen und revolutionärer Umbrüche sieht Ernst Engelberg nicht nur ein Instrument, die Übergänge zwischen großen historischen Gesellschaftsformationen zu erklären, sondern zugleich Kategorien zur Analyse der inneren Dynamiken sozialer Wandlungsprozesse innerhalb einer Gesellschaftsformation.

Engelbergs Lesart des Historischen Materialismus geht einerseits von einem komplexen Begriff der historischen Formation aus, den er im Rekurs auf Marxens berühmte Metapher von der politischen Ökonomie als Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft präzisiert: „Wenn schon die Ökonomie als die Anatomie einer Gesellschaft angesehen wird, so hat man, im Bilde bleibend, daran erinnert, dass sie allein den lebendigen Körper nicht ausmacht, dieser jedoch ohne anatomisches Gerüst nicht existenzfähig ist, ebenso wie die Anatomie allein keine Medizin ausmacht, aber ohne sie die Wissenschaft von der Medizin unfruchtbar bliebe.“ (27) Andererseits – hier steht die gleichfalls den Anatomiebegriff bemühende Formulierung Marxens Pate, der zufolge die Anatomie des Menschen diejenige des Affen begründe – reflektiert Engelberg, dass die historiographischen Instrumente materialistischer Geschichtsschreibung ihren historischen Ort in jener Periode haben, in der sich die bürgerliche Gesellschaft etablierte: „Begriffe wie Revolution und Evolution, die Kämpfe und Erfahrungen der neueren Geschichte, insbesondere seit der Großen Französischen Revolution, erweisen sich als geeignet, Strukturen und Entwicklungen früherer Gesellschaftsformationen im Vergleich in ihren charakteristischen Unterschieden wie in ihrer Gleichheit zu erkennen.“ (33)

Nicht zuletzt aufgrund seines eigenen Forschungsschwerpunkts, der Geschichte der Entstehung und Etablierung des deutschen Kaiserreichs mit besonderem Akzent auf das Wirken Bismarcks, steht im Mittelpunkt von Engelbergs revolutionstheoretischem Denken die Kategorie einer „Revolution von oben“. Weil Engelberg diesen Begriff ernst nimmt und nicht als bloße Metapher für beliebige Formen einer Modernisierungsdiktatur begreift, bereichern seine diesbezüglichen Überlegungen das Verständnis sozialer Transformationsdynamiken auch über den konkreten Fall der Vor- und Frühphase des deutschen Kaiserreichs hinaus. Zentral für Engelbergs Verständnis des Begriffs ist hierbei sein Festhalten am – jede nationalgeschichtliche Verengung transzendierenden – Periodisierungsbegriff einer Revolutionsepoche, die von z. T. höchst unterschiedliche Typen von Revolution (ökonomischen, sozialen, politischen, totalen und sektoralen) ebenso gekennzeichnet sei wie von Ungleichzeitigkeiten in der Abfolge revolutionärer und restaurativer Phasen. Engelberg hebt hervor, dass der Begriff der Epoche nur dann sinnhaft sei, „wenn er sich nicht auf ein Land beschränkt, sondern sich auf kontinentale, gar weltweite Ausmaße erstreckt“ (64). Im Kontext des bürgerlichen Revolutionszyklus, dessen Anfänge freilich bereits in den frühbürgerlichen Erhebungen – Engelberg verweist hier insbesondere auf die Bedeutung der Reformation – lagen, habe sich die Französische Revolution als „Leitrevolution mit Kettenreaktion“ erwiesen (62). Erst in diesem größeren Gesamtkontext werde die Bedeutung der Bismarckschen Gründung des Norddeutschen Bundes 1866 und der mit ihm verbundenen Verletzung tradierten Rechts als „Revolution von oben“ begreiflich: „Verkürzt könnte man sagen: Die Große Französische Revolution war die klassische Revolution von unten, die preußisch-deutsche Umwälzung der Jahre 1866-1871 die klassische Revolution von oben, die den Industriekapitalismus mit all seinen sozialen Implikationen ungemein beschleunigte.“ (76) Von dieser Feststellung ausgehend formuliert Engelberg einen ausführlichen Definitionsversuch: „Die Revolution von oben ist wie jede andere Revolution bestrebt, die Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Basis und Überbau, zu lösen. In der Revolution von oben sind die Führungskräfte zumindest ein Teil der bisher herrschenden Klasse oder die aus diesen hervorgegangenen Diktatoren oder autoritäre Führer. Die Führungskräfte handeln in Anpassung an die neu sich herausbildenden Verhältnisse und unter dem ökonomischen und politischen Druck des fortgeschrittenen Auslands, aber auch einer drohenden Revolution von unten. Die Revolution von oben, die einen mehr oder weniger gewaltsamen Bruch mit den bisherigen politischen Institutionen, oft in Form eines Bürger- oder Verteidigungskrieges, vollzieht, ist die für die Massen ungünstigste Form der revolutionären Ablösung einer Gesellschaftsformation durch eine andere. Der Grad der Freiheitsrechte hängt vom Grad der selbständigen Organisation und Aktion aller fortschrittlichen Klassen in der Vorbereitung, Durchführung und Vollendung der Revolution von oben ab.“ (97f.) Gerade diese Mechanismen verdeutlichen das dynamische und komplexe Bild, das Engelberg von gesellschaftlicher Entwicklung zeichnet – ein Bild freilich, in dem die großen Entwicklungszüge der Geschichte ebenso plastisch geschildert werden, wie die Mikroperspektive der einzelnen historischen Biographie, in der soziale Umbrüche sich personal verdichten. Nicht zufällig wurde Engelberg zu Recht berühmt durch seine große zweibändige Bismarck-Biographie2. Auch dies gilt es festzuhalten: Engelberg fragt auch nach den ästhetischen Maximen von Historiographie. Ohne dabei – wie mancher Modeautor – historische Objektivität in ein Sammelsurium beliebiger „Geschichten“ aufzulösen, weiß Engelberg doch, dass Geschichte erzählt werden muss.

Wie Achim Engelberg in seinem Nachwort festhält erlebte sein Vater „ein sechs mal politisch verschieden strukturiertes Deutschland […]: da war das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die Nazi-Diktatur, die DDR, die BRD und das neuvereinte Deutschland. Dazu kamen die Exilländer: die Schweiz und die Türkei. Natürlich wirkte sich das auf seine Publikationen aus.“ (205) Tatsächlich gehört Engelberg zu jenen Historikern, die aus dem Vollen eigener Erfahrung schöpfen können. Historische Prozesse erscheinen bei ihm nicht als Abstraktionen, sondern als lebendige Prozesse. Ein Verdienst des Bandes ist es auch einen Teil jener raren Texte zugänglich zu machen, in denen Engelberg den Niedergangsprozess der DDR zu verarbeiten sucht. Wenn Engelberg in einem erstmals veröffentlichen Text aus den 80er Jahren vorschlägt, einen großen „Internationalen Kongress für Sozialreform und Friedenssicherung“ in Hannover zu organisieren, der parallel zur Hannovermesse tagen und „ihr werktätiges Spiegelbild sein solle“, so drückt sich hier eine große Hoffnung zu Mobilisierung demokratischer Energien in Ost- und West aus: „Die Beratungsgegenstände könnten und müssten sehr weitgespannt sein: Fragen der Mitbestimmung, der Marktbeherrschung und nicht zuletzt der Kapitallenkung, womit man schon beim Problem der menschheitsbedrohenden Aufrüstung angelangt wäre. […] Damit wären auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Kongress der Auftakt einer ganzen Bewegung werden könnte. Sie selbst schlösse durch ihre bloße Existenz zwei Extreme aus: einerseits den ultraliberalen Glauben an die selbstheilenden Kräfte der Marktwirtschaft, andererseits das Dogma bürokratischer Wirtschaftsplanung Stalinscher Oberservanz.“ (151) Gerade in der andauernden Krisenperiode der Gegenwart scheint dieser dreißig Jahre alte Kongressvorschlag von neuerlicher Aktualität. Vielleicht gibt es ja eine Chance, ihn (verspätet) doch noch zu veranstalten.

David Salomon

Linke Erinnerungskultur

Rainer Holze, Marga Voigt (Hrsg.), 1945 – Eine „Stunde Null“ in den Köpfen? Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus, edition bodoni, Neuruppin 2016, 269 S., Abb., 18,00 Euro

In Z 103 (September 2015, S. 179 f.) wurde ein Bericht über das am 30. April 2015 in Berlin vom Berlin-Brandenburgischen Bildungswerk e. V. und dem Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V. durchgeführte wissenschaftliche Kolloquium zum Thema „Der 8. Mai 1945 – eine ‚Stunde Null‘ in den Köpfen? Zur geistigen Situation nach der Befreiung vom Faschismus 1945“ veröffentlicht. Über dessen Erträge und angereichert mit weiteren Aufsätzen und Beiträgen erschien bei edition bodoni im Rahmen der von Marga Voigt und Reiner Zilkenat herausgegebenen Gesamtreihe „Zwischen Revolution und Kapitulation. Forum Perspektiven der Geschichte“ der obige bemerkenswerte Sammelband. Die Texte der ausgewiesenen Autoren – vorrangig Historiker – setzen sich fundiert mit der Metapher der „Stunde Null“ auseinander und zeigen recht überzeugend, dass es „eine Stunde Null“ in den Köpfen aller Deutschen – als einer Schicksalsgemeinschaft – nicht gegeben hat. Vielmehr wird recht deutlich, dass die Zeit nach der verheerenden Niederlage des Hitlerfaschismus im Zweiten Weltkrieg und der Befreiung vom Faschismus im Mai 1945 eine tiefgehende Zäsur darstellt, die in der deutschen Erinnerungskultur noch nicht den gebührenden Platz einnimmt, wie vor allem Günter Benser in seinem ersten, grundlegenden Beitrag prononciert zum Ausdruck bringt. Der Autor stellt die Befreiung vom Faschismus in ihren welthistorischen Kontext und belegt die sich 1945 in Ost- und Westeuropa zeigende Linksentwicklung, den „allgemeinen sozialistischen Zug der Zeit“. Rainer Holze und Reiner Zilkenat beleuchten in ihrem einleitenden Aufsatz die politische und geistige Situation nach dem 8. Mai 1945. Sie konstatierten: „Neben vielen unbelehrbaren Nazis, die in den Westzonen und in den Westsektoren Berlins sukzessive wieder an die Schalthebel der Macht gelangten, neben vielen Zeitgenossen in Ost und West, die angesichts ihrer Erfahrungen im NS-Staat ,nicht mehr mit Politik zu tun haben‘ wollten, existierte parallel hierzu eine Aufbruchstimmung bei Mitgliedern der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften, die entweder Widerstand geleistet oder sich in den zwölf Jahren der braunen Diktatur ‚unauffällig‘ verhalten hatten.“ Dass es nach der Befreiung vom Faschismus ebenfalls bei Intellektuellen ein ernst gemeintes, wenn auch widerspruchsvolles Neu- und Umdenken gab, belegt Siegfried Prokop in seinem Aufsatz. Diese beginnenden Wandlungen seien in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen – der Entnazifizierung, der Schul-, Boden- und Justizreform und der Nazi- und Kriegsverbrecher – zu sehen. Jürgen Hofmann erörtert in seinem Aufsatz, wie sich die KPD 1945/46 mit der ideologischen Hinterlassenschaft des deutschen Faschismus auseinandergesetzt hat, was zunächst erforderte, die eigene Strategie und Taktik kritisch zu überdenken und Korrekturen vorzunehmen. Peter Brandt und Jörg Wollenberg fördern in ihren beiden Studien völlig zu Unrecht in Vergessenheit geratene konzeptionelle Vorstellungen und Überlegungen deutscher Sozialisten zum demokratischen Neuaufbau Nachkriegsdeutschlands und zur europäischen Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zutage und gehen auch den Ursachen des Scheiterns der Nachkriegspolitik demokratischer Sozialisten nach. Sehr aufschlussreich sind die von Wollenberg vorgestellten, von Willy Brandt 1944/45 im schwedischen Exil geäußerten, wenig bekannten – da kaum in den einschlägigen Publikationen zitierten – Überlegungen über eine sozialistische Transformation in Deutschland nach 1945 und über enge politische Beziehungen zum Sowjetstaat. Dies betrifft auch die von beiden Wissenschaftlern offerierten, kaum noch bekannten Vorstellungen von anderen Sozialdemokraten, wie zum Beispiel des prominenten Buchenwald-Häftlings Hermann Louis Brill und des marxistische Wirtschaftsfachmannes und -theoretikers Viktor Agartz. Sie und andere Sozialdemokraten plädierten für ein politisches System, das parlamentarische mit basis-, räte- und wirtschaftsdemokratische Elementen in sich vereinen sollte, für eine „sozialistische Planwirtschaft“ in einem „demokratischen Rechtsstaat“ bis hin zu einer „sozialistischen deutschen Republik“.

Da geschlechtsspezifische Aspekte in den Arbeiten über die Nachkriegsgeschichte, die bekanntermaßen weitgehend von Frauen geprägt war, sehr stiefmütterlich behandelt wurden, ist es begrüßenswert, dass Gisela Notz an die überparteilichen Frauenausschüsse nach dem Zweiten Weltkrieg und das Engagement sozialdemokratischer Frauen unmittelbar nach 1945 erinnert und dabei auch zeigt, welche nicht geringen Hindernisse – aufgebaut von den männerdominierten Führungsgremien – sie überwinden mussten. Ein zweiter Beitrag von Günter Benser und ein Beitrag von Kurt Schneider sind der Antifa-Bewegung 1945 gewidmet, ersterer dem Wirken der Bremer Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus und letzterer der Tätigkeit der antifaschistischen Organisation Nationalkomitee Freies Deutschland in Leipzig für einen demokratischen Neuaufbau. Beachtenswert die Aufnahme einer biografische Skizze: Andreas Diers befasst sich mit den antifaschistischen politischen Schulungen des Linkssozialisten Wolfgang Abendroth in den Jahren 1945/46, in der sogenannten Wüstenuniversität in Ägypten und dann im Kriegsgefangenlager „Wilton Park“ bei London. Gestützt auf zeitgenössische Zeitungsartikel macht Harald Wachowitz deutlich, auf welche unterschiedliche Art und Weise die Würdigung der Jahrestage des 8. Mai 1945 in der BRD und in der DDR – geprägt vom Kalten Krieg und seinen ideologischen Auseinandersetzungen – erfolgte. Der Historiker Rainer Holze und die Slawistin und wissenschaftliche Bibliothekarin Marga Voigt waren als Herausgeber gut beraten, auch drei Zeitzeugenberichte – von Heinz Sommer, Roger Reinsch und Günter Wehner – in den lesenswerten Band aufzunehmen.

Arnold Breuer

Historiker West und Ost

Matthias Dohmen, Geraubte Träume, verlorene Illusionen – Westliche und östliche Historiker im deutschen Geschichtskrieg, NordPark Verlag, Wuppertal 2015, 456 S., 18,50 Euro

Nach 1945 wurde in beiden deutschen Staaten selbstverständlich Geschichtspolitik betrieben. Die Formeln „Bonn ist nicht Weimar“ (West) bzw. „Kein zurück zu Weimar“ (Ost) machen die Zielrichtung dieses Unternehmens deutlich. Besonders in den fünfziger und sechziger Jahren hatten Historiker daher eine überaus enge Beziehung zur „großen Politik“: „Sie lieferte Stichworte für die Auseinandersetzung, munitionierten quasi die Politik und fochten – auf ihrem eigenen Terrain – den ‚kalten Geschichtskrieg‘ aus, wie es der Finne Seppo Hentilä genannt hat.“ (25) Diese 40 Jahre währende Auseinandersetzung untersucht Domen in seiner gut lesbaren materialreichen Studie. Im Zentrum seiner Analyse steht die Historiographie des Jahres 1923. Inflation, Ruhrbesetzung, die Reichsexekution gegen die Arbeiterregierungen von SPD und KPD in Sachsen und Thüringen sowie der Hamburger Aufstand waren die Ereignisse, die es für die Arbeiterbewegung und die Weimarer Republik zum Scharnierjahr gemacht haben. 1923 existierte, wie der austromarxistische Historiker Braunthal schrieb, „tatsächlich eine echte revolutionäre Situation“ (34). Sie endete – so der linkskommunistische Historiker Rosenberg – als „dritte große Niederlage“ der Arbeiterbewegung nach dem November 1918 und dem Ausgang des Kapp-Putsches. Der Kampf um den sozialen Charakter des Staates war damit entschieden und die folgende Periode der relativen Stabilisierung konsolidierte die bürgerliche (Eigentums)Ordnung.

„Während für die Historiographie der DDR das Jahr 1923 als konstitutiv für den sozialistischen deutschen Staat empfunden wurde und von daher auf ein breites Forscherinteresse hoffen konnte, blieb es im Westen eher unbeachtet, zumal das Interesse an Arbeitergeschichte eher gering war.“ (61) Der Streit um „die Lehren“ aus der Geschichte wurde vor allem ein Streit um die aus der in Sachsen und Thüringen erfolgten Annäherung von SPD und KPD zu ziehenden Schlussfolgerungen. Für die Arbeiten der Historiker bedeutete dies jedoch, „dass sie entweder in ein antisozialistisches Prokrustesbett gezwängt wurden oder dass sie der Beweihräucherung der SED zu dienen hatten“. (171) Was gleich erscheint – die politische Funktionalisierung der Geschichtswissenschaft – ist selbstverständlich nicht gleich. „Im Zentrum der Geschichtsschreibung der DDR über die Ereignisse des Jahres 1923 standen der Sturz der Regierung Cuno, der auch in der ‚bürgerlichen‘ Historiographie nicht selten als zumindest mittelbares Ergebnis des Massenstreiks jener Augusttage gebracht wird, die Einheitsfrontpolitik der KPD und deren Einsatz für Landesarbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen, in denen die SED eine Frühform ihrer eigenen Herrschaft sah“ (179). Im Westen hingegen gab es keine größeren Einzelprojekte zu diesem Schlüsseljahr.

Gemeinsame Traditionen, wie sie vom Verband der Historiker Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren gepflegt wurden, fielen den beiderseitigen Abgrenzungsversuchen zum Opfer. In der BRD war die personelle Kontinuität zur Zeit vor 1945 erdrückend und das prägte die Art und Weise wie die Geschichtswissenschaft betrieben wurde. D.h. sie fand nur mühevoll Anschluss an die internationale Diskussion. Durch ihre antikommunistische Beschränktheit und Kontinuität griff sie marxistische Analyseansätze schwerer und zögernder auf als das gleichzeitig in Frankreich oder England der Fall war. Andererseits: „Während in der DDR oppositionelle Meinungen in der Gegenwartshistoriographie kaum eine Chance hatten, sich Gehör zu verschaffen, wenn man von den ersten Monaten, aber auch wieder von den letzten Tagen absieht, existierte in der alten Bundesrepublik zwar ein Mainstream (und existiert im vereinigten Deutschland sogar mehr denn je), aber Oppositionelle hatten immer die Chance, promoviert zu werden, zu habilitieren und zu veröffentlichen.“ (328)

Wie Dohmen bemerkt kommt es „weniger darauf an, was geschieht, als mehr, wie es wahrgenommen wird oder wie man es wahrnehmen lässt“ (316). Er zitiert Kurt Biedenkopf der Anfang der siebziger Jahre warnte, „dass die DDR, wenn man weiterhin arglos zuschaue, die gesamte deutsche Geschichte, auch die konservative, die eigentlich nationale, mit ihren Begriffen besetzen werde“. In den Jahren der Entspannungspolitik veränderte sich das Klima: „Was den einen (der Politik) die Diskussion über ein Grundlagenpapier, war den anderen (den Historikern) die Debatte über das deutsch-deutsche Erbe. Über die jeweilige Beschäftigung mit Preußen fand eine Wiederannäherung historischer Wissenschaft statt.“ (332) Die konnte – Kalter Krieg hin, Entspannungspolitik her – im Grunde nur konfrontativ sein, ging es doch um die Frage wem die deutsche Geschichte gehört. Und diese Frage ist – die unterschiedlichen Theorie- und Analyseansätze in Rechnung gestellt – naturgemäß schwieriger zu beantworten als wer das siebentorige Theben baute.

Karl Unger

Wirtschaftswachstum

Jürgen Leibiger, Wirtschaftswachstum, Mechanismen, Widersprüche und Grenzen, PapyRossa Verlag, Köln 2016, 138 S., 9,90 Euro

Wirtschaftswachstum wird nicht nur innerhalb der Ökonomie als Kategorie von hoher Aussagekraft angesehen. Anhand von Wachstumsvergleichen werden Urteile über Länder, ja über Gesellschaftssysteme gefällt. Dafür ein typisches Beispiel: Der Hausgeber der „Zeit“ Josef Joffe resümierte im Editorial der Ausgabe des Wochenblattes vom 13. November 2014 anlässlich des 25. Jahrestages der „Herbstrevolution“ in Ostdeutschland: „Das Gegenmodell DDR ist total gescheitert“. Die DDR habe sich im Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik eindeutig unterlegen erwiesen. Beweis: Die Planwirtschaft im Osten Deutschlands sei zu einem Zeitpunkt (nach Kriegsende) eingeführt worden, als hinsichtlich der Wirtschaftsleistung zwischen der Ostzone und den Westzonen annähernd Parität herrschte. Bereits 1950, nur ein halbes Jahrzehnt später, habe das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der DDR verglichen mit dem der Bundesrepublik nur noch die Hälfte betragen. Am Ende habe die DDR nur noch ein Drittel des ökonomischen Leistungsniveaus der BRD vorweisen können.

Dem nachdenklichen Leser von in der Seriosität ihrer Aussage durchaus zweifelhaften Argumentationen drängt sich die Frage auf: Ist wirtschaftliches Wachstum wirklich so aussagefähig über den Zustand einer Gesellschaft? In welcher Beziehung steht es zum Wohlstand und dessen Aufteilung innerhalb der Gesellschaft? Kann man Wirtschaftswachstum wirklich umfassend und exakt messen? Welche Kennziffern wurden dafür entwickelt? Welche werden vorrangig angewandt? Wie aussagekräftig sind sie? Auf diese Fragen und auf viele mehr – so zu den dem Wirtschaftswachstum offensichtlich innewohnenden Diskontinuitäten, den zyklischen und den azyklischen Krisen, den ökologischen und anderen Grenzen des Wachstums – finden sich bei Leibiger Antworten. Seine Argumentation ist konkret, wird anschaulich besonders durch die Vielzahl der Graphiken, die Wachstumstrends und -zusammenhänge – oft auch über längere Zeiträume – darstellen.

Eines der sieben Kapitel von Leibigers Buch ist dem keineswegs unkomplizierten Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Akkumulation des Kapitals gewidmet. Leibigers abschließendes Urteil: „Das Wirtschaftswachstum ist also ein der Kapitalverwertung nachgeordneter Prozess. Es sind die Profitsteigerung und die Kapitalakkumulation, die zum Selbstzweck geworden sind, und das Wachstum ist eines der wichtigsten Mittel dafür“. (32) Im Abschnitt über Triebkräfte des Wachstums im Kapitalismus wird nicht nur auf Markt und Konkurrenz, sondern auch auf die Strukturen des ökonomischen Wachstums beeinflussende staatliche Wirtschaftspolitik eingegangen.

Ein entsprechendes Kapitel über Tempo und Triebkräfte des Wirtschaftswachstums im Realsozialismus vermisst man dagegen bei Leibiger. Auf anderthalb Seiten wird etwas über Theorien „zur erweiterten Reproduktion in der Politischen Ökonomie des Sozialismus“ gesagt. Diese Theorien, schreibt Leibiger, hätten „viele prinzipielle Fragen des Wachstums im Sozialismus nicht thematisiert“. (123) Ein Überblick über die in den realsozialistischen Ländern 50 bzw. 70 Jahre lang verfolgten Wirtschaftspolitiken und -praxen – man denke nur an die Reformen der 1960er Jahre – fehlt. Angebracht wäre das m. E. gewesen angesichts der Bedeutung, die die Führungen der kommunistischen Parteien in Osteuropa dem Wirtschaftswachstum beigemessen haben. Lenin hat bekanntlich den Sieg des Sozialismus über dem Kapitalismus an das – überlegene – Wachstum der Arbeitsproduktivität in den Staaten mit Arbeiter- und Bauernmacht geknüpft. Und Ulbricht wollte mit „Einholen und überholen“ bzw. mit „Überholen ohne einzuholen“ beweisen, dass die sozialistische DDR derjenige von beiden deutschen Staaten ist, dem die Zukunft gehört.

Im abschließenden Kapitel stellt Leibiger, von antiken Vorstellungen ausgehend, die Wachstumstheorien der klassisch bürgerlichen Ökonomie sowie die des Neokeynesianismus und Neoliberalismus vor und schließt seinen Überblick über Wachstumstheorien mit der des Nullwachstums ab. Auch „Marx und Marxismen“ sind in diesem Zusammenhang einige Absätze gewidmet. Leibigers bündige Feststellung, dass „diese Theorien viele prinzipielle Fragen des Wachstums im Sozialismus nicht thematisierten und eng mit seinem Scheitern verbunden sind“, versetzt den Leser allerdings nicht in die Lage, gängigen Argumentationen wie der zitierten des Zeit-Herausgebers zu begegnen, in denen geringeres Wirtschaftswachstum unter sozialistischen Vorzeichen in der Vergangenheit als Beweis für die Alternativlosigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung überhaupt und damit für die Sinnlosigkeit jeglicher Transformationsstrategien, die auf eine alternative Gesellschaftsordnung zielen, genommen wird.

Jörg Roesler

Sozialismus und Gegenwartskapitalismus

Mimmo Porcaro. Tendenzen des Sozialismus im 21. Jahrhundert. Beiträge zur kritischen Transformationsforschung Bd. 4, VSA, Hamburg 2015, 109 S., 9,80 Euro.

Um dies vorauszuschicken: Unter den neueren Entwürfen zu einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ erscheint Mimmo Porcaros programmatische Schrift vielleicht gerade deshalb als der ambitionierteste, weil er nicht versucht, übermäßig originell zu sein. Anders als Heinz Dieterich vor etwas mehr als zehn Jahren trumpft Porcaro nicht mit einer „Äquivalenzökonomie“ auf1. Anders als Michael Hardt und Antonio Negri verabschiedet er keineswegs den Nationalstaat, samt aller tradierten Vorstellungen von Staats- und Volkssouveränität2. Schließlich: Anders als Axel Honneth beharrt Porcaro darauf, dass ein zeitgemäßes Sozialismusverständnis sein Fundament in den ökonomischen Reproduktionsbedingungen kapitalistischer Gesellschaft haben müsse3. Sein Ausgangspunkt bleiben grundlegende „Widersprüche“ zwischen gesellschaftlicher Form der Produktion und privater Form der Aneignung, bzw. zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Im Kern ist Porcaros Band insgesamt ein Versuch, die heutigen Formen dieser„ambivalenten Formen gesellschaftlicher Organisation“ (17) zumindest skizzenhaft zu analysieren und dabei Ansatzpunkte für sozialistische Eingriffe nachzuzeichnen.

So sehr Porcaro die sozialistische Frage im Ökonomischen verortet, so sehr weist er dabei solche Positionen zurück, die – sei es marktradikal oder gegen jede Form von Markt polemisierend – ein ökonomisches Organisationsprinzip dogmatisch zum alleinseligmachenden Gerüst gesellschaftlicher Ordnung erklären: „Kommunismus ist in meinem Verständnis eine politische Bewegung, die darauf abzielt, die kooperative Zusammenarbeit soweit wie möglich auszudehnen. Sozialismus ist ein gesellschaftliches System, das diese Kooperationen in jenen Formen realisiert, die historisch konkret möglich sind.“ (22) Sozialismus wird als durchaus prinzipielle Alternative zum Kapitalismus eingeführt, die jedoch nur in Auseinandersetzung mit dem konkreten Kapitalismus der jeweiligen Gegenwart politisch wirksam werden kann.

Das Wachstum des Kapitals „einzelner Oligopole“ bei gleichzeitiger Zunahme der Konkurrenz fasst Porcaro als „Konzentration ohne Zentralisation“ (23ff.). Anstelle der direkten organisatorischen Unterordnung der gesamten Wertschöpfungskette unter eine Zentrale organisierten Großunternehmen ihr Verhältnis zu kleinen Unternehmen zunehmend mittels der „Mechanismen des Marktes und des Netzes“ (24) – eine Strategie, die keineswegs als Verlust, sondern als „Formwandel“ oligopolistischer Macht gedeutet werden müsse. Ihm entsprechen drei „vornehmliche Antworten“ auf den „Rückgang der industriellen Profite seit den 1970er Jahren“ (25/25): Finanzialisierung, Fragmentierung des Produktionsprozesses und Globalisierung. Von diesen Prozessen ausgehend betont Porcaro zudem die Tendenz einer „Kommodifizierung ohne Markt“ (31), d.h. eines Versagens (neo)klassischer Marktmodelle bei der Erklärung der Konkurrenz- und Preisbildungsmechanismen im Gegenwartskapitalismus. Für den Sozialismus genüge es schon deshalb keineswegs, „die Märkte“ zu kritisieren – sei es in der „linksliberalen“ Variante der Diagnose eines bloßen Marktversagens (36) oder in der an Polanyi anschließenden, dualistischen Entgegensetzung von Entbettung und Einbettung des Marktgeschehens (38): Vielmehr gelte es – mit Marx – den Markt als „Metamorphose des Kapitals“ zu betrachten und so den kapitalistischen Produktionsprozess und die ihn tragenden sozialen Verhältnisse erneut ins Zentrum der Kritik zu rücken.„Es reicht nicht aus, die Märkte zurück unter die Kontrolle der Gesellschaft zu bringen, wenn die Gesellschaft weiter auf kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen und vor allem auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und auf Lohnarbeit basiert.“ (41 f.) Eine sozialistische Strategie habe „die Produktion und die Nutzung der wichtigsten Ressourcen zu planen, […] den harten verborgenen politischen Konflikt zwischen den Oligopolen in ein transparentes politisch-ökonomisches Verhältnis [zu] verwandeln, ihn zum Gegenstand öffentlicher Diskussion machen und dann die Formen traditioneller Märkte nur in jenen Sektoren zu restaurieren, wo es die funktionalen Aufgaben notwendig machen, ohne dass es zu einer Restauration des Kapitalismus kommt.“ (43)

Zog sich bereits durch diese zeitdiagnostische Bestandsaufnahme zumindest implizit die starke Betonung der Rolle des Politischen, betont Porcaro im späteren Argumentationsverlauf, es sei irreführend von einer „Rückkehr des Staates“ (52) in der Krise zu sprechen. Zwar könne es in Zeiten prosperierender Ökonomie vorkommen, dass die repressive Funktion des Staates hinter scheinbar vorpolitischen Austauschbeziehungen zurücktrete4, dennoch gelte nicht nur in Krisenzeiten, dass „die öffentliche, territoriale und mit dem Gewaltmonopol verbundene Dimension des Staates“ gebraucht werde, „um a) den Klassenkampf zu unterdrücken oder zu neutralisieren, b) den gesellschaftlichen Reichtum (verkörpert durch Steuern) so zu verwenden, dass er funktional für die Kapitalakkumulation ist, c) in konkreten Räumen Infrastruktur und öffentliche Güter (vor allem Wissenschaft) bereitzustellen, die für die Entwicklung des Kapitals notwendig sind, d) das öffentliche Geldsystem zu managen und das private Geld zu garantieren, und e) innerhalb von geopolitischen Konflikten zu agieren, um jene Konzerne zu schützen, deren Entscheidungszentren innerhalb des Staatsgebiets liegen.“ (53) Allerdings habe die neoliberale Periode eine weitgehende Privatisierung klassischer Staatsfunktionen (einschließlich privater Geldschöpfung) vollzogen. Insbesondere die „teilweise Transformation von Regierung (government) hin zu Governance“ (59), und hiermit verbunden der Ersetzung „bindender Gesetze“ Verträge und weiche Normen spiele im Kontext von Privatisierungsstrategien klassischer Staatsfunktionen eine zentrale Rolle. Gleichwohl – so Porcaro – könnten diese Verwaltungsstrukturen der Selbstorganisation in einem sozialistischen Kontext zu „wertvollen Quellen der Information über die Bedürfnisse der Gesellschaft und damit zu einer entscheidenden Ressource für zukünftige Planung werden.“ (61)

Eine sicher provokative These Porcaros besteht darin, dass er die „Globalisierung“ keineswegs für unumkehrbar hält: „Sie ist möglich und ‚nützlich‘, wenn die Kosten des Warentransports und der Dezentralisierung der Produktion schneller sinken als die Kosten der Produktion. Wenn aber andere räumliche Lösungen, wie zum Beispiel die Schaffung von großen kontinentalen Produktionsräumen analoge wirtschaftliche Vorteile bieten und gleichzeitig die Unsicherheit einer globalisierten Produktion reduzieren, dann kann Globalisierung rückgängig gemacht werden – und dies sogar ohne die Effekte einer allgemeinen Krise zu betrachten.“ (62f.) Das, was gemeinhin „Globalisierung“ genannt werde, sei weder „wirklich global“ – „Das Wachstum der ausländischen Direktinvestitionen, der wichtigste Indikator des Agierens von Großkonzernen jenseits ihrer nationalen Räume, hat sich vor allem auf Nordamerika, Europa und Japan bezogen“ (63) – noch habe es zu einer Überwindung von Nationalstaatlichkeit geführt, sondern vielmehr „eine Auslese unter ihnen innerhalb einer neuen Hierarchie zwischen Staaten befördert“ (64). Porcaro zeichnet ein durchaus düsteres Bild zunehmender zwischenimperialer Konkurrenz, in der „[d]ie Zukunft […] Staaten mit kontinentaler Dimension (wie den USA, China, Indien) oder Föderationen von Staaten und supranationalen Staaten“ gehöre (69), und in der sich zunehmend eine Konfliktlinie zwischen den „kapitalistischen Staaten“ des „Westens“ und einem neuen Typus des Staatskapitalismus abzeichne (69f.). Irritierend ist an dieser Stelle, dass er zwar den Unterschied zwischen Sozialismus und Staatskapitalismus benennt und dennoch eine taktische Zusammenarbeit der sozialistischen Bewegung mit ihm für wahrscheinlich hält.

Ein – wenn auch keineswegs zwingender – Grund hierfür mag darin liegen, dass Porcaro für eine heutige sozialistische Strategie Aktivitäten, die sich unmittelbar auf die politische Sphäre beziehen, für bedeutender hält als zuvörderst im ökonomischen Kontext artikulierte Klassenauseinandersetzungen. Die auf den ersten Blick vielleicht irritierende Fokussierung auf das Handeln von Bürgerinnen und Bürgern im Kontext eines „popularen Bündnisses“, erweist sich bei genauerer Betrachtung als keineswegs identisch mit jener den Klassenbegriff verabschiedenden Adressierung „der Bürger“, die sich etwa im Sozialismuskonzept Axel Honneths nachzeichnen ließe: „Der dominante Prozess einer Gesellschaft ist immer die Produktion. Aber der Raum, in dem es heute möglich ist, eine Passage in Richtung Sozialismus zu öffnen, ist nicht die Produktion, sondern die Sphäre des Öffentlichen und des Staates. Wenn die sozialistische Bewegung in vorhergehenden Perioden ihre Kraft auf dem industriellen Terrain gesammelt hat, um es dann auf dem politischen anzuwenden, so könnte heute das Umgekehrte passieren.“ (91) Dass Einzelne „als Bürgerinnen und Bürger agieren“ bedeute daher keineswegs, dass sie deshalb „dem Klassenkampf“ entsagen (91). Auf dieser Linie läge dementsprechend etwa nicht die Verabschiedung von Gewerkschaften als bedeutenden Akteuren, sondern vielmehr die Erneuerung der Forderungen nach ihrem allgemeinpolitischen Mandat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Porcaro penetrant an jenem marxistischen Grundprinzip festhält, dass eine sozialistische Perspektive an jenen Konflikten anzusetzen hat, die sich aus dem gegenwärtigen Kapitalismus ergeben und zugleich vermeiden muss, in die Falle zu tappen vor lauter Kapitalismen den Kapitalismus nicht mehr zu sehen. Es ist diese Penetranz – verbunden mit der spürbaren politischen Wirkungsabsicht jenseits großspuriger Feuilletondebatten – die Porcaros Arbeit unter den oben genannten zur vielleicht am stärksten ernstzunehmenden macht.

David Salomon

Jenseits des Kapitalismus

Sahra Wagenknecht, Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2016, 292 S., 19,95 Euro

Die Auffassung, aus der heraus dieses Buch geschrieben wurde, ist rasch erkennbar: Der marktförmige Kapitalismus, wie wir ihn im 21. Jahrhundert erleben, allein Rendite orientiert und in der Gier seiner Akteure nach Reichtum grenzenlos zerstörerisch, gehört abgeschafft. Davon will Sahra Wagenknecht alle, die nicht Nutznießer sondern Geschädigte des zurzeit weltweit vorherrschenden wirtschaftlichen und politischen Systems sind, überzeugen.

Sie ist sich dessen bewusst, dass das keine einfache Aufgabe ist, denn die Argumentation der Apologeten des Kapitals, der Kapitalismus habe in der Vergangenheit bewiesen, dass er enormen Reichtum geschaffen habe, von dem letztlich alle Schichten profitiert hätten, und er werde das auch in Zukunft tun, wird von vielen akzeptiert. „Es ist verblüffend, in welchem Grade die herrschende Marktgläubigkeit uns davon abhält, bestimmte Fragen überhaupt nur zu stellen“, schreibt Sahra Wagenknecht. „Viele von uns haben es aufgegeben, über die Sinnhaftigkeit unserer gesellschaftlichen Institutionen nachzudenken. Was der Markt hervorbringt ist effizient, sonst würde es sich ja nicht durchsetzen.“ (141)

Die Auffassung, dass der gegenwärtige Kapitalismus letztlich jedem Vorteile bringt, ist – wie Sahra Wagenknecht, gestützt auf statistisches Material der Weltwirtschaftsinstitutionen und die Aussagen prominenter Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler überzeugend nachweist – falsch: „Das Aufstiegsversprechen, dem der Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Teil seiner Popularität verdankt, ist hohl und unglaubwürdig geworden: Weit mehr als Talent und eigene Anstrengung entscheidet inzwischen wieder die Herkunft darüber, ob der Einzelne einen der begehrten Logenplätze an der Spitze der gesellschaftlichen Einkommens- und Vermögenspyramide einnehmen kann“. (12) Wagenknecht charakterisiert diese Verhältnisse, deren Analyse sie den größten Teil ihres Buches widmet als „Wirtschaftsfeudalismus“.

Der präge sich immer mehr aus. Immer dringender stelle sich die Frage: „Brauchen wir den Kapitalismus heute noch, um in Zukunft besser zu leben? Oder ist es genau diese Form des Wirtschaftens, die uns daran hindert? Brauchen wir den Anreiz des Profitmotivs, um unsere Technologien so zu verbessern, dass unserer Produktion nicht mehr unseren Planeten und damit unsere Lebensgrundlage zerstört, oder ist es grade die renditeorientierte Wachstumslogik, die uns die Hände bindet?“ (19) Die Fragen so zu stellen, heißt sie mit „Nein“ zu beantworten. Der Kapitalismus ist, schreibt Sahra Wagenknecht, für technologischen Fortschritt und soziales Wohlbefinden keineswegs notwendig. Er gehört abgeschafft.

Notwendig sei vielmehr eine Transformation aus dem gegenwärtigen Kapitalismus in eine zukunftsträchtige Gesellschaft, die allen nützt. Die Gründe, die diese Transformation im Interesse der Menschen notwendig machen, hat die Autorin mit bemerkenswerter Klarheit und Bestimmtheit analysiert. Dabei ist es Sahra Wagenknecht sehr wichtig, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet. Das kapitalistische Eigentum müsse abgeschafft werden, marktwirtschaftliche Strukturen dagegen sollten erhalten bleiben. Denn der Markt sei „eine Technik, die eine effiziente Verteilung bewirkt, wenn viele Nachfragen um kappe Ressourcen konkurrieren und viele Anbieter Produkte bereitstellen.“ (108) Er sei gewissermaßen systemunspezifisch.

Welches aber, fragt die Autorin sind solche Eigentumsformen, die auf der Grundlage des Marktes zu einer dynamischen innovativen Wirtschaft führen, die gleichzeitig den Wohlstand aller heben und den Erhalt der Umwelt sichern? Diesen alternativen Eigentumsformen, die Sahra Wagenknecht als innovativ, sozial und individuell charakterisiert ist das letzte, ein Zehntel dieses Bandes umfassenden Kapitel gewidmet. Vorgestellt werden in diesem Zusammenhang „vier Grundtypen von Unternehmen“: Personengesellschaft, Mitarbeitergesellschaft, öffentliche Gesellschaft und Gemeinwohlgesellschaft. Diese Unternehmens- bzw. Eigentumsformen müsse man nicht neu erfinden. Sie hätten ihre fortschrittliche Wirkung unter kapitalistischen Bedingungen allerdings nicht oder nur teilweise realisieren können. Interessant sind in diesem Zusammenhang Sahra Wagenknechts Ausführungen zu Ernst Abbés Zeiss-Stiftung.

Die von der Autorin vorgestellten alternativen Unternehmen würden der Mitbestimmung unterliegen. In die Unternehmenspolitik könne sich jeder Mitarbeiter mit seinen Ideen und Vorstellungen einbringen. Ihre demokratischen Strukturen ermöglichten die Ausschöpfung der kreativen Potentiale einer Gesellschaft beim Aufspüren von Marktlücken, beim Verbessern bestehender Produkte und dem Ausprobieren neuer Ideen und beim Feilen an besseren, arbeitssparenden Technologien. Zu derartigen Leistungen, schreibt Sahra Wagenknecht, „motiviert kein anderer Mechanismus so gut wie der freie Wettbewerb vieler Anbieter und die ständige Offenheit von Märkten für Neueinsteiger“. Der so organisierte freie Markt ist das von ihr angestrebte „Feld für private Initiative und kommerzielle Engagement“ (161), das den Bedürfnissen aller gerecht werden kann.

Wie die alternative Wirtschaft nach Sahra Wagenknecht aussehen soll, steht damit fest: Die Produktionseinheiten sind kleinteilig, regional bzw. national, auf keinen Fall global agierend, für die am Unternehmen Mitwirkenden überschau- und regulierbar und in den marktwirtschaftlichen Wettbewerb eingebettet. Das Unternehmen der Zukunft ist ihrer Auffassung nach nicht das global agierende Oligopolunternehmen, aber auch nicht der einer zentralstaatlich diktierten Wirtschaftspolitik unterworfene Staatsbetrieb. Sahra Wagenknechts Auffassung vom Ziel der Transformation vom gegenwärtigen Kapitalismus in die zukünftige Gesellschaftsordnung ist damit umrissen. Man könnte vielleicht von einem marktsozialen Ansatz sprechen.

Welche Erkenntnisse enthält Sahra Wagenknechts Buch aber über den anzustrebenden Transformationsprozess von der kapitalistischen zur postkapitalistischen Wirtschaft, seinen Verlauf, seine Phasen? Diesbezügliche Aussagen im Buch dazu sind nicht sehr konkret. Sie laufen auf den Auskauf der bisherigen Eigentümer durch die Belegschaften hinaus und die Umwandlung dieser Unternehmen in Mitarbeitergesellschaften – eventuell mit Unterstützung durch staatliche Fonds, die aus einer Gewinnabgabe aller Unternehmen finanziert werden. Beispiele aus jüngster Zeit werden allerdings nicht vorgestellt, Probleme derartiger Gemeinschaftsunternehmen nicht untersucht. Funktioniert haben derartige Überführungen in selbstverwaltete Unternehmen m. E. bisher jeweils nur für kleine Segmente der Wirtschaft, wenn in Krisenzeiten, z.B. im Gefolge der Wirtschaftskrise 2008/09 die bisherigen Betriebsbesitzer unter den gegebenen widrigen Verwertungsumständen keinen Weg mehr sahen, weiterhin Profit aus ihren Unternehmen zu schlagen. Im größeren Maßstab haben sich auf diesem Wege jüngst selbst verwaltende Betriebe nach der schweren Wirtschaftskrise von 2008/09 in Argentinien herausgebildet. Diese spontan entstandenen „empresas recuperadas“, die von den beiden linksperonistischen Präsidenten Kirchner unterstützt wurden, haben allerdings der Ende 2015 in Argentinien eingeleitete neoliberale Wende des neuen Präsidenten Macri substantiell nichts entgegensetzen können. Ob sich der von Sahra Wagenknecht beschriebene Transformationsweg in die neue Eigentumsordnung so wie sie ihn skizziert realisieren lässt, bleibt m. E. offen.

Eine Auseinandersetzung mit den realsozialistischen Betriebsformen des 20. Jahrhunderts erfolgt im Buch nicht. Nur an einer Stelle äußert sich Sahra Wagenknecht diesbezüglich explizit, wenn sie feststellt, dass „der Schlüssel für eine innovativere, produktivere und zugleich gerechtere Ökonomie“ nicht in der „Überführung kommerzieller Unternehmen in Staatseigentum liegt“. (271) Diese Haltung ist angesichts des historischen Versagens der realsozialistischen Wirtschaften gegenüber den kapitalistischen nachvollziehbar. Die weitgehende Ignorierung des Staates im von ihr angestrebten Transformationsprozess erstaunt aber insofern, als die Autorin in ihrem Buch durchaus positiv über die Rolle des Staates in den vergangenen 150 Jahren kapitalistischer Entwicklung, speziell bei „entscheidenden technologischen Durchbrüchen“ (158), schreibt. Gilt das prinzipiell nicht für den sozialistischen Staat? Eine Auseinandersetzung z. B. mit den in der zweiten Hälfte der 60er Jahre unter Walter Ulbricht im Rahmen des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) entwickelten und in Ansätzen auch erprobten marktsozialistischen Vorstellungen und deren Beitrag zur Bewältigung der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ hätte man sich in diesem Zusammenhang gewünscht.

Für die gegenwärtige Transformationsforschung ist Sahra Wagenknechts sorgfältig recherchiertes, keineswegs nur an Fachwissenschaftler adressiertes sondern ein breiteres Publikum ansprechendes Buch insofern von großer Bedeutung, als es überzeugend wie nur wenige andere Publikationen vorher die Unzulänglichkeiten und Ungereimtheiten des Oligopolkapitalismus beschreibt und damit eine wichtigen Beitrag zum Verständnis der Notwendigkeit einer antikapitalistischen Alternative leistet. Man kann sich nur wünschen, dass viele, die mit dem gegenwärtigen Kapitalismus ihre Probleme haben, dieses Buch lesen.

Jörg Roesler

Kapitalistische Restauration Russlands

Felix Jaitner, Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gor-batschow zu Putin, VSA Verlag Hamburg 2014, 174 Seiten, 16,80 Euro.

Sind wir wieder in den Kalten Krieg 1947-1989 zurück gefallen, der zur militärischen Eskalation auf dem europäischen Kontinent führen kann? Stand damals die Sowjetunion als gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus und als Bezugspunkt zur weltweiten Arbeiter- und nationalen Befreiungsbewegung im Mittelpunkt der globalen Auseinandersetzung mit der Supermacht USA, so entstanden mit der Auflösung der UdSSR 1991 die Voraussetzung für eine neoliberal-radikale Transformation des Staatssozialismus zum oligarchischen Kapitalismus. Dieses komplexe weltgeschichtliche Ereignis analysierte das Buch von Felix Jaitner, Mitglied der Forschungsgruppe Osteuropastudien an der Universität Wien. Es ist nicht vereinfacht oder übertrieben, davon zu sprechen, dass der Gesellschaftswandel auf einem Sechstel der Erde den Kapitalismus auf das Format des beginnenden 20. Jahrhunderts zurück geführt, „restauriert“ hat, einschließlich der daraus entstandenen „zwischenimperialistische Widersprüche“. Diese werden erneut – wenn auch in völlig andersartiger Dimension – vor unseren Augen ausgetragen, europaweit und global, friedlich oder kriegerisch.

Im Mittelpunkt von Jaitners Analyse stehen die von oben staatlich kontrollierte und abgesicherte Einführung des Kapitalismus und die damit verbundene Herausbildung neuer Herrschaftsverhältnisse. Voraussetzung dafür war die Entmachtung Gorbatschows und die Auflösung der UdSSR. Diese beiden Prozesse sind trotz zahlreicher Publikationen zu den mehr als zwei Dezennien zurückliegenden Ereignissen wenig bekannt. Das derzeitige Gesellschaftssystem wurde von der aus der sowjetischen Nomenklatura hervorgegangenen alt-neuen Funktionselite geschaffen, initiiert, gedrängt und wohlwollend unterstützt von den Zentren des neoliberalen Kapitalismus der USA und Westeuropas. Die neue herrschende Klasse, die der Ex-Kommunist Boris Jelzin ein Jahrzehnt repräsentierte, ist nicht mehr Hüterin des Marxismus-Leninismus, der sozialen Gerechtigkeit oder der von Gorbatschow erstmals begonnenen Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft. Die regierenden Parteipolitiker, Staatsbürokraten und Oligarchen mit einem autoritären Präsidenten an der Spitze bei Zulassung eines „demokratisch gewählten Parlaments“ – das wurde die herrschende Klasse, die diese Macht auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit zur gigantischsten Vermögensbildung seit einem Vierteljahrhundert nutzt. Deren Ziel war, unter dem Deckmantel von „Reformen, Freiheit und Demokratie“ eine kapitalistische Marktwirtschaft durch Privatisierung (1992-1997) von oben einzuführen bei gleichzeitigem Rückzug des Staats aus der Wirtschaft. Neben der „Jelzin-Familie“ ist Regierungschef Tschernomyrdin (1992-1999) ein weiteres markantes Beispiel für die Verschmelzung von politischer Macht und Kapital. Das war verbunden mit der Abschaffung des sowjetischen Sozialmodells mit den in der Sowjetperiode nicht gekannten sozialen Klüften und Massenverarmung. Sie wiederum bildete die Voraussetzung für die Zerstörung des mühsam entstandenen und nicht ausreichend gefestigten sowjetischen Multikulturalismus, für die Eskalation von miteinander verknüpften sozialen und national-ethnischen Konflikten, das Aufkommen rassistischer, faschistischer wie radikal-islamistischer Bewegungen. Dieser Formationswechsel verstärkte vor allem das, was die versuchte sozialistische Erneuerung 1985-1990 eigentlich überwinden wollte – das ressourcenextraktivistische Produktionsmodell, das Russland nur peripher in den Weltmarkt integriert und abhängig macht, sowie den staatlichen Autoritarismus. Letzteren gab es auch schon unter dem „Demokraten“ Jelzin. Als das erste demokratische Parlament dem Kurs Jelzins 1993 widersprach, wurde es im wahrsten Sinne des Wortes zerschossen. Nachdem die wieder zu Einfluss gekommene Kommunistische Partei das neoliberal-autoritäre Regime in Frage stellte, sicherten nicht nur die russischen Oligarchen, sondern auch die Herrschenden der USA und der BRD 1996 die Wiederwahl des „Demokraten“ und „Freiheitskämpfer“ Jelzin. Clinton und Kohl lobten ihn als Fortsetzer des „demokratischen und marktwirtschaftlichen Prozesses“.

Jaitner geht erst im letzten Kapitel seines Buches auf die kardinalen Veränderungen in Russland nach der Wirtschaftskrise 1998 ein, die mit der Wahl Putins zum Staatspräsidenten zu einem neuen Verhältnis von Staat und Kapital (staatlich regulierter Korporatismus), zu einem neuen Gesellschaftsvertrag sowie zu partieller Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik zugunsten einer dem Ausland gegenüber unabhängigen Politik und staatlichen Regulierung.

Diese Schrift ist keine nostalgische Betrachtung über die untergegangene sozialistische Großmacht, sondern eine differenzierte Untersuchung über der Transformation im postsowjetischen Raum, die zahlreiche aktuelle Geschehnisse überhaupt erst erklärt, u. a. auch die ein Jahrzehnt nach dem Jugoslawien-Krieg gefährlichste europäische Krise in der Ukraine.

Karl-Heinz Gräfe

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Redaktionsschluss: 31.07.2016

1 Dies tut auch Elmar Altvater in einer ansonsten gelungenen Besprechung des vorliegenden Buchs (jW, 2/3. 4. 2016), in der es heißt: „Das Jahrhundertwerk von Lenin über den Imperialismus als „höchste“ oder – je nach Übersetzung – „letzte“ Stufe des Kapitalismus ist herausragend“. Die Gleichsetzung der Worte „höchste“ und „letzte“ hat aber nichts mit Übersetzungsproblemen zu tun, sondern ist Ausdruck einer politischen Instrumentalisierung von Lenins Broschüre, um die Epoche seit der Oktoberrevolution als Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus bestimmen zu können. Das hat sich bekanntlich spätestens seit 1989/91 als Irrtum herausgestellt.

2 www.kommunisten.de (Lenin und der Imperialismus), 30. 6. 2016.

1 „Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten“. Briefwechsel zwischen Käte und Hermann Duncker 1915-1917, hrsg. v. Heinz Deutschland, Bonn 2005.

1 2015 erschien zudem der gleichfalls von Achim Engelberg herausgegebene Briefwechsel zwischen dem Verleger Wolf Jobst Siedler und Ernst Engelberg.

2 Gerade auch zum Darstellungsproblem historischer Biographien enthält der Band zwei äußerst gewinnbringende Aufsätze, die in der vorliegenden Rezension nicht berücksichtigt werden können.

1 Heinz Dieterich, Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus. Berlin 2006.

2 Antonio Negri; Michael Hardt, Empire - Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main, New York 2002.

3 Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015; vgl. auch die Kritik von Harald Werner in Z 105 (März 2016), S. 158ff.

4 In Wahrheit bedarf freilich jedes Eigentum und jeder Vertrag einer politisch-rechtlichen Grundlage.