Die in den USA entstandene Occupy-Wall-Street-Bewegung (OWS) hat rasch internationale Ausstrahlung gewonnen; sie beschließt ein Jahr weltweiter Massenproteste. Im vierten Jahr der Krise des globalen Kapitalismus hat diese eine politische Artikulation gefunden, die auf die kollektiv-solidarische Er-weiterung von Handlungsfähigkeit abzielt. Mit der Wall Street hat OWS nicht nur das geographische und symbolische Zentrum des Finanzmarktkapitalismus zum Ziel seines Angriffs gemacht. Die Wall Street steht auch für die bei-spiellose Geiselnahme der souveränen Staaten durch die „systemrelevanten Banken“ und die damit einhergehende Marktkonformisierung der bürgerlichen Demokratie. Hervorgerufen wurde OWS von der globalen austeritätspo-litischen Wende 2010/2011. Die Politik der Austerität vollzog sich lange Zeit unter dem Radar der Weltöffentlichkeit auf der kommunalen und regiona-len/einzelstaatlichen Ebene, während zugleich die Nationalstaaten Konjunktur-politik im großen Maßstab betrieben. Die aufgelegten Konjunkturprogramme hinkten aber in ihrem Umfang der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hin-terher, nicht zuletzt, weil die Nationalregierungen eine „Beggar-Thy-Neighbor“-Politik befürchteten, bei der sich andere und insbesondere die am stärksten exportorientierten Staaten auf Kosten der eigenen Verschuldung wirtschaftlich erholten. Gleichzeitig wirkte die lokale und regionale Austerität als Gegentendenz zu den Konjunkturprogrammen.
Vom Tea-Party-Rechtspopulismus zu Occupy Wall
Street
Mit dem vorläufigen Scheitern des Green New Deals und dem
Einsetzen des Zeitalters der globalen Austerität fiel die
Weltwirtschaft zurück in die Rezes-sion. Die zwischenzeitliche
Wirtschaftserholung ging weitgehend auf die staatlichen
Konjunkturprogramme zurück. Die Krise wurde durch politisches
Manövrieren lediglich verlagert: Aus der Finanz- und
Wirtschaftskrise wurde eine Staatshaushaltskrise, die eine neue
Finanzkrise heraufbeschwört. Mit der Austerität sollen
„die Märkte“ insbesondere für Staatsanleihen
beruhigt wer-den. Gleichzeitig verschärft die
Austeritätspolitik die Haushaltskrisen in einer
Abwärtsspirale, da die Austerität die Nachfrage
stranguliert. Die hinter der Austeritätspolitik stehenden
Interessen sind insbesondere in den alten fossil-energetischen und
energieintensiven Industrien und der Klasse der
Vermö-gensbesitzer zu suchen, deren aktienverbriefter
Rechtsanspruch auf zukünftige Werte der gesellschaftlichen
Arbeit mit der Rettung der systemrelevanten Banken und der
Verstaatlichung der „toxic assets“ bekräftigt
wurde.
Allerdings ist das Zeitalter der Austerität nicht ohne die
neuen rechtspopulisti-schen Bewegungen zu denken, deren Aufstieg in
den fortgeschrittenen kapita-listischen Ländern die erste
wesentliche politische Artikulation der globalen Krise gewesen ist.
Die austeritätspolitische Wende ist nicht zuletzt ein
Aus-druck ihrer Stärke. Insbesondere in den USA erstarkten sie
in Gestalt der Tea-Party-Bewegung, die mit der Unterstützung
von alten Industrien, Großvermö-genden wie den
Koch-Brüdern von Koch Industries, dem Murdoch-Medienimperium
(Fox News) und unzähliger rechtspopulistischer
Radiomo-deratoren das politische Klima in den USA prägte und
entscheidend dazu bei-trug, dass die USA nach den zaghaften
Versuchen der Obama-Regierung, die Krise für das Lostreten
einer grünkapitalistischen Wende zu nutzen, an füh-render
Stelle mit auf den Austeritätskurs einschwenkten. Dabei
erkannten rechte Parteien alsbald, dass Wahlen insbesondere mit der
Bedienung klassis-tischer und rassistischer Vorurteile gewonnen
werden konnten. Führende In-tellektuelle der Republikaner wie
Ross Douthat diskutierten offen, wie man die Tea Party zur
Erneuerung der Partei nutzen, d.h. für diesen Zweck
instrumen-talisieren, könne (Solty 2010a). In den
Kongresswahlen 2010 erwies sich die Tea Party als der Jungbrunnen,
der die Republikaner nach dem Wundenlecken im Anschluss an acht
Jahre Bush-Administration unverhofft wieder an der politischen
Macht teilhaben ließ. So gelang es den Republikanern, die
Obama-Regierung zu einem faulen Kompromiss zu zwingen, der die
Fortsetzung der Bushschen Steuersenkungen für die Reichen im
Gegenzug zur Zustimmung zur Verlängerung der
Arbeitslosengeldbezugsdauer aushandelte.
Die Tea Party, die sich einen eigenen Caucus im neuen Kongress
schuf, über-schätzte allerdings die US-Zwischenwahlen,
bei denen vier von zehn Wähle-rinnen und Wähler sich als
Sympathisanten der Tea Party ausgaben, als ein Mandat zur
Durchsetzung einer beispiellosen marktradikalen Agenda. Denn im
Grunde sämtliche Umfragen belegten, dass sich die
Mehrheitsverhältnisse in Bezug auf die Austerität zu
Ungunsten der Tea Party verkehrten, je konkreter nach den
staatlichen Leistungen gefragt wurde. Das Bekenntnis der
Bevöl-kerung zur Sparpolitik bleibt also nur ein abstraktes
(vgl. Solty 2010b).
In vielen (neuerdings) republikanisch regierten Staaten des
Mittleren Westens legten es Tea-Party-gestützte Gouverneure
dennoch auf einen Endkampf mit den Gewerkschaften an. Seit dem
Reaganismus war es durch die verschie-densten Gesetze gelungen, die
Privatwirtschaft zu einer weitgehend gewerk-schaftsfreien Zone zu
machen. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad sank hier seit
Mitte der 1970er kontinuierlich und fiel 2010 zum ersten Mal unter
die 7%-Marke. In Staaten wie North Carolina, Arkansas, Georgia und
Louisiana gibt es im privatwirtschaftlichen Sektor im Grunde keine
Gewerkschaften mehr. Im öffentlichen Sektor – von der
Müllabfuhr bis zu den Uni-versitätsbediensteten –
ist die Arbeiterbewegung hingegen noch recht stark. Den 6,9 Prozent
im Privatsektor standen nach offiziellen Angaben des Bureau of
Labor Statistics 2010 noch 36,2 Prozent im öffentlichen Sektor
gegenüber . Bei den Konflikten wurde schnell deutlich, dass es
den republikanischen Gouverneuren mit Scott Walker in Wisconsin an
ihrer Spitze nicht um quanti-tative Zugeständnisse der
öffentlich Beschäftigten ging. Auf die Forderungen nach
Gehaltsverzicht und Kürzungen der Einzahlungen in die privaten
Siche-rungssysteme („benefits“ wie Gesundheit und
Rente) waren die Gewerkschaf-ten bereits weitgehend eingegangen. In
Wirklichkeit ging es um die faktische Aufhebung der kollektiven
Tarifverhandlungsfähigkeit der Gewerkschaften. Denn diese
sollte sich in Wisconsin lediglich auf die Löhne beziehen,
während die wirklichen Pfründe des Arbeitskampfes in den
„benefits“ bestehen.
Die Tea Party und ihre politische Vertretung konnte sich von
Wisconsin bis Ohio trotz des bemerkenswerten Widerstands auf der
Straße und im Parlament weitgehend durchsetzen. Zuletzt
misslang es, aus den erfolgreichen Neuwahl-begehren politisches
Kapital zu schlagen. Erfolg verbirgt sich jedoch manch-mal auch
darin, was der Gegner nicht erreicht hat. So zogen z.B. wie in
Indiana einige republikanische Gouverneure angesichts der Welle des
Protests ähn-liche Gesetzesvorlagen zurück. Gleichzeitig
bildeten die Proteste von Wiscon-sin, die sich ebenfalls
lauffeuerartig über die gesamten Vereinigten Staaten
ausbreiteten, den Auftakt für die Occupy-Bewegung, selbst wenn
ihre soziale Basis nicht unbedingt identisch ist – ein Punkt,
auf den noch einzugehen sein wird (zu Wisconsin vgl. näher
Solty 2011a).
Kurzum, der Rechtspopulismus war von Ungarn über Finnland (die
Wahren Finnen) und Schweden (die Schwedendemokraten) bis in die USA
trotz vieler Ansätze linken Widerstands zweifellos der erste,
unmittelbare politische Aus-druck der Krise. Die Kongresswahlen
2010 brachten die Tea Party an die Macht. Damit erschöpfte
sich aber auch die Verve der Bewegung. Die Repub-likanische Partei
steht seither am Rande einer Krise, weil sich ihre Fraktionen im
Zuge der republikanischen Vorwahlen gegenseitig bekämpfen.
Denn mitt-lerweile verdichten sich die Anzeichen, dass weder die
Tea-Party-nahen Kan-didaten (Michele Bachmann, Hermann Cain, Rick
Perry) noch die eher aus dem Republikaner-Establishment stammenden
Parteiführer (Mitt Romney) geeignet sind, Obama, dessen
Popularitätswerte trotz der Krise wieder angestiegen sind, zu
schlagen.
Mit den Protesten von Wisconsin verschob sich somit die Dynamik der
sozia-len Krisenbewegungen. In Folge der realpolitischen
Maßnahmen der Tea-Party-Republikaner kam es zu einer
Wiederbelebung des sozialen Protests von links. An den
Demonstrationen in Madison, der Hauptstadt des Bundesstaats
Wisconsin, hatten sich Anfang des Jahres zu verschiedenen
Gelegenheiten viele Zehntausend Menschen beteiligt und gegen die
Entmachtung der Ge-werkschaften protestiert. Das Ansehen der
Gewerkschaften stieg in Folge des-sen an. Inspiriert wurden diese
Proteste durch den „Arabischen Frühling“.
Überhaupt ist das Jahr 2011 durch eine bemerkenswerte
Internationalisierung des Protests gekennzeichnet. Die
„Arabellion“ und ihre spezifische Protestform der
friedlichen Besetzung öffentlicher und symbolischer
Plätze beeinflusste die Proteste im Mittleren Westen. Von dort
schwappte der Protest wieder zurück. Die Indignados in Spanien
bezogen ihre Einflüsse sowohl aus den USA als auch aus
Nordafrika. Zudem kam es in Chile zu einem Aufstand der
Studierenden insbesondere gegen Studiengebühren und
verschlechterte Stu-dienbedingungen, während in Israel eine
Massenbewegung von zumeist gut-ausgebildeten jungen Prekären
gegen die hohen Lebensbedingungen (insbe-sondere die Mieten) auf
die Straße ging und sich so aus der langjährigen
Um-klammerung durch Ausnahmezustand, Militarismus, Kolonialismus
und Ras-sismus löste. Schließlich beeinflussten alle
diese Bewegungen wiederum die Mitte September in New York
entstandene Occupy-Wall-Street-Bewegung (OWS), die sich in weniger
als einem Monat nicht nur auf über hundert andere Städte
in den USA, sondern auf Hunderte weitere Städte weltweit
ausbreitete. Dass der Zuchotti Park, in dem die Besetzer campieren,
früher Liberty Plaza Park hieß, ist eine ins Bild
passende Analogie zum Tahrir Square in Kairo, was übersetzt
soviel wie Befreiungs- oder Freiheitsplatz heißt. Mike Davis
ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Genialität von
Occupy Wall Street (…) besteht darin, dass [die Bewegung;
IS] zeitweilig einige der teuersten Immobilien der Welt befreit und
einen privatisierten Platz in einen magne-tischen öffentlichen
Raum und Katalysator des Protests verwandelt hat.“ (Da-vis
2011)
Was charakterisiert die Occupy-Bewegung?
Zwei Fragen drängen sich angesichts dieser Entwicklung auf:
(1.) Warum kommt es gerade bzw. erst jetzt zu diesen Protesten von
links? (2.) Wer sind die Protestierenden? Auf die erste Frage wurde
bereits an anderer Stelle aus-führlicher eingegangen (Solty
2011b). Darum beschränken sich die folgenden Ausführungen
auf die zweite Frage.
Die soziale Basis der Bewegung leitet sich weitgehend von den
sozialen Ma-nifestationen der Krise her. Die Krise hat aus der
Generation Praktikum die Generation Krise werden lassen. Mit der
Ausnahme der BRIC-Schwellenländer sowie relativ
krisenverschonter Ökonomien wie Deutschland und Kanada ist die
Krise sowohl in den fortgeschrittenen kapitalistischen und den
Peripherieländern in Form von Massen- und insbesondere
Jugendarbeits-losigkeit, Privatinsolvenzen, Zwangsversteigerungen
sowie Sozialabbau durchgeschlagen.
Gelegentlich wurde zwischen 2011 und der Situation im Vormärz
ein Vergleich gezogen. Dieser scheint durchaus berechtigt. Die
frühe Arbeiterbewegung entstand aus der Gesellenbewegung. Die
Grundlage der Empörung gegen die neuen
marktabhängig-prekären Verhältnisse war nicht Hunger
und absolutes Elend. Die Empörung gegen die neuen
kapitalistischen Sozialverhältnisse speiste sich aus dem
Gefühl, dass alte tradierte Rechte und Ansprüche aus dem
feudalistischen Zunftwesen gebrochen worden waren. Der neue
Ka-pitalismus war nicht vereinbar mit den Vorstellungen von einer
„moralischen Ökonomie“ (Thompson 1980).
Die Demonstranten an der Wall Street, in Boston, Philadelphia,
Seattle, San Francisco/Oakland und Washington D.C. – um nur
die zentralen der insgesamt über 100 Schauplätze der
Bewegung in den USA zu nennen – treibt eine ähnliche
Empörung auf die Straße. Auf die meisten von ihnen
trifft die Be-schreibung spontan bzw. spontaneistisch zu. Rund die
Hälfte von ihnen ver-fügt über keine politischen und
Demonstrationserfahrungen. Die Demonstran-ten eint, dass sie zur
Generation Krise gehören, die sich um ihre ökonomische
Zukunft gebracht sieht. Viele könnte man als blockierte Eliten
im weiteren Sinne beschreiben. Hunderttausende Hochschulabsolventen
haben einen gi-gantischen Schuldenberg aufgehäuft, um sich
„fit für den Markt“ zu machen, und beobachten nun,
dass dieser Markt keine Verwendung für sie hat bzw. nur unter
den Bedingungen einer großen Diskrepanz von Qualifizierung
und wirk-lichem Tätigkeitsbereich. Sie taten, was man von
ihnen erwartet, doch ihre lu-penreinen Lebensläufe mit
Auslandsaufenthalten, Prestige-Praktika und Best-noten landen
häufig doch nur in der Ablage. So ist selbst nach den
ge-schönten offiziellen Arbeitslosenstatistiken in den USA
mehr als jeder fünfte Jugendliche arbeitslos. In
Großbritannien ist es ebenfalls jeder Fünfte, in
Griechenland und in Spanien, dessen Indignados-Proteste OWS sehr
beeinflussten, ist es fast jeder Zweite. In den USA kommen dazu
Hunderttausende Unterbeschäftigte. Die International Labor
Organization hat deshalb bereits vor einer globalen Aufstandswelle
(Elliott 2011), Frank Rich vor jahrelangen Klassenkämpfen,
gerade aufgrund der US-Klassenlosigkeitsideologie (Rich
2011).
Die jungen Prekarier beobachten, dass die Regierung, die die
überwältigende Mehrzahl von ihnen mit teilweise sehr
hohen Erwartungshaltungen gewählt hat, anstatt an der sich
immer noch auf Rekordniveau bewegenden Zwangs-versteigerung von
Privathäusern und der Massenarbeitslosigkeit etwas zu
än-dern oder die Re-Regulierung des Finanzsektors
voranzutreiben, mit staatli-chen Steuergeldern ein System zu
stabilisieren sucht, das nach dem dominan-ten Muster der
Krisenanalyse diese verursacht hat. Während die Banken-Boni
und Vorstandsgehälter wieder den Stand von vor der Krise oder
sogar Re-kordniveaus erreicht haben, ist parallel die
Ausbeutungsrate deutlich gestie-gen. So sanken nach offiziellen
Angaben des Bureau of Labor Statistics bspw. in den USA im Zeitraum
von August 2010 bis August 2011 die Reallöhne um 1,7 Prozent,
während gleichzeitig die Produktivität um 0,7 Prozent
anstieg. So verschärft sich mit jeder Person, die die maximale
Arbeitslosengeldbezugs-dauer ausgeschöpft hat, mit jeder
Bibliothek und jedem Schwimmbad, das aufgrund der Klammheit der
Kommunen geschlossen wird, mit jeder neuen Woche abgelehnter
Bewerbungen und mit jedem neuen zwangsversteigerten Haus –
betroffen ist in etwa jedes fünfzigste – die Krise der
Gesellschaft und die Wut über die eigene soziale Lage. Denn
bis weit in die aus den Business Schools entlassene neoliberale
Subjektivität, die sich u.a. in Gestalt der An-hänger des
marktradikalen Rechtspopulisten Ron Paul stellenweise an den
Protesten beteiligt, hinein hat man es mit einem verletzten
Gerechtigkeitsgefühl zu tun. Das Gefüge von Lustaufschub,
Anpassung, Leistung und Bezahlung ist auseinandergefallen und
verdichtet sich in der empörten Frage „Where is my
bailout?“
Bei den Demonstrierenden handelt es sich mithin um den (noch)
integrierten, (noch) nicht exkludierten, nicht entkoppelten Teil
des Prekariats. Tatsächlich tut sich bislang noch ein Graben
auf zwischen der Zone der Prekarität und der Zone der
Entkoppelung (vgl. Dörre/Fuchs 2005). Denn während sich
in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die Wut der
Entkoppelten bislang in weitgehend unpolitischen Plünderungen
wie in London, Manchester und Birmingham manifestierte, sind sie in
den Occupy-Bewegungen kaum reprä-sentiert. Gerade deshalb
forderten die OWS-Demonstranten die Häme rechter
Intellektueller heraus, die die Bewegung mit Verweis auf ihre
elektronischen „Gimmicks“ moralisch zu diskreditieren
suchten. Dabei ist dieser Unterschied zu den Inspirationsbewegungen
in Nordafrika bedeutsam, weil er auf die Existenz von
Spaltungslinien, politischer Milieugrenzen mit den ent-sprechenden
Vorurteilen etc. hinweist. In Nordafrika waren die Bewegungen nicht
zufällig in erdölimportierenden Peripherieländern
mit entsprechend klei-nen Mittelschichten und unter der massiven
Beteiligung des abgehängten Pre-kariats bei gleichzeitiger
neuer Militanz der Gewerkschaftsbewegung (insbe-sondere in
Ägypten) erfolgreich.
Mit dem Status des Blockiertseins geht gleichzeitig ein Ende der
Toleranz in Bezug auf die wachsenden Vermögensunterschiede
einher und der Illegitimität des gerafften Wohlstands der
staatlich geretteten „Couponschneider“. So-lange
berechtigte Hoffnungen bestanden, durch Anpassung an die
Zwänge des „disziplinierenden Neoliberalismus“
(Gill 2008) den Lebensstandard der eigenen Eltern auch unter den
erschwerten Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus halten zu
können, ließ sich dieses dulden. Das neoliberale Mantra
„a rising tide lifts all boats“ konnte wenigstens bei
den gutausgebildeten, lohnabhängigen Mittelschichten auf
passiven oder aktiven Konsens stoßen. Mit der Krise ist dies
vorbei. Ein entscheidendes Merkmal der Bewegung ist die
Infragestellung nicht nur des
Arbeit/Gratifikations-Verhältnisses (wiedergespiegelt in der
Betonung von „Korruption“, „Gier“,
„Betrug“ etc. an der Wall Street, vgl. exemplarisch
Taibbi 2011), sondern auch der sozialen Ungleichheit, die bis 2008
auf den Höchststand der späten 1920er Jahre
zurückgeklettert ist, als solche.
Dies spricht nicht nur aus der Kritik der Macht des Geldes in der
Politik in Form von Lobbyismus (auf das die Bankenrettung
staatstheoretisch im Regelfall zu-rückgeführt wird). Es
spricht insbesondere aus dem zentralen Slogan der Bewe-gung
„We are the 99%“. Interessant ist dabei, dass dieser
Slogan zweierlei Interpretationen in Bezug auf die Legitimität
von sozialer Ungleichheit zulässt. Denn diese lässt sich
sowohl auf die Einkommensstatistik als auch die
Vermö-gensverteilung beziehen. Denn der große
Unterschied zwischen Vermögens- und Einkommensverteilung
ergibt sich erst bei Betrachtung des obersten Zehntels. Der Anteil
der obersten 1 Prozent der Haushalte an den Einkommen (350.000
US-Dollar Jahreseinkommen und mehr) und am
Gesellschaftsvermö-gen beträgt in beiden Fällen je
nach Berechnungsgrundlage zwischen 20 und 25 Prozent (der Anteil
der obersten 1 Prozent an den Einkommen verdoppelte sich dabei von
unter 10 Prozent in den 1970er Jahren bis heute).
Oft wurde in Analysen die Global-Justice-Movement zum Vergleich
hergezo-gen. Die übliche Betrachtungsweise ist, daß 9/11
dieser das Genick brach. Vielen erscheint es, als ob man wieder an
der Battle of Seattle anknüpft, die vom War on Terror auf
halber Strecke aufgehalten wurde. Diese Einschätzung stimmt
aber, wenn überhaupt, nur zum Teil. Oberflächlich
betrachtet springen die Parallelen ins Auge: Eine junge,
dezentralisiert, netzwerkartig und weltweit operierende Linke gegen
die geballte Kapitalmacht. Trotzdem: Heute bezieht sich das
verletzte Gerechtigkeitsgefühl nicht primär nur auf die
Unter-privilegierten, sondern zunehmend auf die eigenen
ökonomischen und sozialen Interessen.
Zudem ist das Organisationsmodell ein anderes. Die
globalisierungskritische Bewegung war abhängig von
(jährlichen) Zusammenkünften der Eliten der neoliberalen
Weltordnung. Sowohl diese Proteste als auch die Sozialforen bo-ten
einen räumlich und zeitlich begrenzten Raum für die
Etablierung dauer-hafter Verbindungen, die mittelfristig in
strategisch angelegte Organisationen hätten münden
können. Dies ist im Falle der Occupy-Bewegung anders. Die
Bewegung hat das Potenzial nicht nur nicht zum mehrtägigen
Spektakel zu verkommen, sondern tagein tagaus durch die Interaktion
und die gemeinsame Bewegungserfahrung neue politische Subjekte
hervorzubringen. Zudem ist das Besetzungsmodell auch auf
Langfristigkeit angelegt; ein Endpunkt ist nicht festgelegt. Ferner
geht die Gewalt allein vom Staat aus. Dies steht im Gegensatz zu
Anti-WTO/G8-etc.-Protesten, deren Botschaften immer durch medial
quotenwirksamere Straßenschlachten überschattet
wurden.
Schließlich lässt sich im Vergleich zwischen 1848 und
2011 auch eine Parallele in Bezug auf die Kommunikation ziehen.
Falsch ist ein technologischer Determinismus, der sich hinter
Formulierungen wie „Facebook-Revolte“ ver-birgt.
Technologien schaffen keinen Widerstand, Menschen tun das.
Trotz-dem: Im Vormärz verbreitete das Wanderverhalten der
Gesellen frühsozialis-tische Ideen durch ganz Zentraleuropa
und waberte die Welle der Revolutio-nen und Aufstände von 1848
in der Geschwindigkeit der Briefkuriere durch Europa. Heute
vernetzen Facebook und Twitter die Unzufriedenen in einem nie
dagewesenen Maße. Dieses wird auch von den Herrschenden
erkannt, wie z.B. die Überlegungen des britischen
Premierministers David Cameron belegen, die sozialen Netzwerke als
Mittel der Aufstandsbekämpfung nach dem Vorbild der
nordafrikanischen Regierungen staatlich abzuschalten.
Probleme der Organisierung
Viel wurde über die Hintergründe der dynamischen
Entwicklung der Bewegung spekuliert. Dabei wurde vielfach auf das
Missverhältnis zwischen den weitreichenden Sympathien für
die Bewegung und „ihre Ziele“ auf der einen Seite und
die Unterdrückung durch die Polizei hingewiesen. In der Tat
gingen millionenfach verbreitete Videos von Zivilpolizisten (in
weißen Hemden), die wehrlose und friedliche Demonstrantinnen
aus dem Hinterhalt mit Pfefferspray angriffen, um die Welt. Auch
die Paradoxie, dass anfänglich die Bewegung kleingeredet wurde
und plötzlich siebenhundert Personen auf der Brooklyn Bridge
mehr oder weniger grundlos festgenommen wurden, verlieh der
Bewegung, die die Sympathien von mehr als der Hälfte der
Bevölkerung ge-nießt, einen moralischen Überschuss.
Schließlich kann auf die breite Unters-tützung durch
öffentliche Intellektuelle aus den unterschiedlichsten Feldern
der Politik, Kultur und Wissenschaft als Aspekt der
Mobilisierungsfähigkeit verwiesen werden. Die Liste der
Unterstützer reicht von den üblichen Ver-dächtigen
wie Keith Olbermann, Michael Moore, Tom Morello und Susan Sa-randon
zu bedeutenden globalen kritischen Intellektuellen wie Cornel West,
Rick Wolff, Slavoj Zizek, Judith Butler, Chris Hedges, Joseph
Stiglitz, Paul Krugman, Noam Chomsky, Naomi Klein, Margaret Atwood,
Salman Rushdie, Alice Walker und Stephane Hessel. Hinzu kamen
zahlreiche alte und neue Künstler wie Pete Seeger, Arlo
Guthrie, Jeff Mangum, Radiohead, Immortal Technique und sogar Kanye
West, unübliche Verdächtige wie Lech Walesa sowie eine
kleine Gruppe von Mitgliedern der kapitalistischen Klasse, die sich
aktiv für eine Erhöhung ihrer Steuern aussprachen. Selbst
Regierungspersonal wie Nancy Pelosi und Barack Obama hat sich zu
dem eigenartig schizophrenen Verhalten hinreißen lassen, die
Proteste, die sich zum großen Teil aus Unzufriedenheit
über und Widerstand gegen die eigene Politik richten, zu
be-grüßen. Gleichzeitig haben die wenigen offenen Gegner
wie der afroamerika-nische Shooting Star und Tea-Party-Favorit
unter den republikanischen Präsi-dentschaftskandidaten, Herman
Cain, der republikanische Mehrheitsführer im
Repräsentantenhaus, Eric Cantor, ähnlich wie Joachim
Gauck in Deutschland den Gegnern der Bewegung einen
Bärendienst erwiesen, als sie die sich of-fensichtlich aus der
Mitte der Gesellschaft rekrutierende Bewegung als
„lä-cherlich“, „Mob“ oder
„antiamerikanisch“ bezeichneten (vgl. auch die
treffende Kritik von Krugman 2011).
All diese Gründe erklären den Aufstieg der Bewegung
jedoch nicht oder nur zum Teil. Entscheidend ist, dass die Bewegung
Ausdruck eines „Krisen-Interregnums“ ist, in dem die
alten Institutionen des hegemonialen Neolibera-lismus in eine tiefe
Vertrauenskrise geraten sind, aber gleichzeitig dieses Misstrauen
sich auf alle organisierten Interessen einschließlich der
Gewerk-schaftsbewegung und neuer Linksparteien wie Nouveau Partie
Anticapitaliste (NPA) in Frankreich oder Die LINKE bezieht (vgl.
hierzu näher Solty 2011b). Gleichsam hängt der Erfolg der
Bewegung davon ab, inwieweit es ihr gelingt, ihre Bestrebungen im
Verbund mit den ökonomischen und politischen
Interes-senvertretungen der Lohnabhängigen zu suchen –
eine Tatsache, auf die Bill Fletcher Jr. (2011) und Samir Sonti
(2011) zu Recht hingewiesen haben. Schon in Nordafrika offenbarte
sich die Schwäche des Spontaneismus in den Schwierigkeiten,
eine politische in eine soziale Revolution auszudehnen, die in der
Lage gewesen wäre, die Not der (exkludierten) Prekären zu
lindern. Auf die Probleme des Prinzips der Führerlosigkeit hat
Roula Khalaf schon am Beispiel der ägyptischen Revolution
hingewiesen, als sie schrieb: „Die Stimmung in Kairo ist von
der Euphorie in Enttäuschung umgeschlagen. Die Erinnerungen an
diesen ruhmreichen Moment im Februar (…) sind verblichen,
als sich die Menschen wieder in den Mühlen des Alltags
wiederfanden und erlebten, dass sich wenig geändert hatte
(…). Die Jugendbewegungen, die den arabischen Raum durch
ihre fabelhafte Führungsrolle in der Revolution verzaubert
haben, sind zerfallen, weil es ihnen nicht gelang, eine gemeinsame
politische Organisation zu gründen, die Zukunft schaffen
kann.“ (Khalaf 2011)
Für die Occupy-Bewegung stellt sich die Frage, welche neuen
Organisations-formen an die Stelle des Prinzips der
Führerlosigkeit treten können. Vehikel eines solchen
Prozesses lassen sich in den Aktionsformen der Bewegungen selbst
finden. Dazu gehören u.a. die Generalversammlung und
innovative Medienformate. Zu Letzteren zählt „We Are the
99%“, eine populäre Video-reihe, in der Aktivistinnen
und Sympathisanten der Bewegung ihre soziale Lage schildern und die
Beweggründe ihrer Beteiligung oder auch ihre politi-schen
Forderungen sprechen. Dieses Format dient als Grundlage für
eine Ver-ständigung über die soziale Natur der eigenen
Prekarität. Überhaupt ist das Besetzungsformat
herkömmlichen Massenaufmärschen in der Hinsicht
über-legen, dass es nicht schon weltanschaulich orientierte
und nach bewussten Interessen organisierte Masseninstitutionen zur
Politik im öffentlichen Raum bewegt. Der öffentliche Raum
funktioniert in gewisser Weise als vorpolitischer Raum spontaner
Versammlung von „Empörten“, der sich politisch
durch Lernprozesse über die kollektiv-soziale Natur der
eigenen Lage angeeignet wird. Dahinter verbirgt sich das
Versprechen, dass die offenkundige He-terogenität der Bewegung
in Bezug auf politische Milieus, Politik- und Bewe-gungserfahrung
und politische Überzeugungen in diesem Schmelztiegel zu
interessengeleiteten kohärenten Projekten wird. Denn aus den
„99%“ gegen die „1%“ muss ein neues,
bewusstes, politisches Kollektivsubjekt mit einem gemeinsamen
Willen und Projekt – nennen wir es einmal Prekariat –
erst noch entstehen.
Trotz der drohenden Gefahr der Kooptation insbesondere durch die
Demokra-tische Partei und die Obama-Administration sind
Charakterisierungen der spontanen Bewegung als
„sozialdemokratisch“, weil sich zunehmend die
„Robin-Hood-Steuer“ genannte Tobin-Tax als
Kulminationspunkt der Forde-rungen ergibt, nicht hilfreich. Das
Entscheidende an der Bewegung ist zu-nächst nicht – wie
auch Slavoj Zizek (2011) zu Recht betont – ihre Forderun-gen,
sondern ihr Charakter als Bewegung als solcher. Dazu gehört
u.a. die durch Umfragen bestätigte universelle
Befürwortung von Formen des zivilen Ungehorsams als Mittel der
Politik. Denn dahinter verbirgt sich ein Bewuss-twerdungsprozess in
Bezug auf die Grenzen der liberal-parlamentarischen
Verfahrensweisen, weshalb sich mit der Occupy-Bewegung auch die
Hoffnung auf eine Re-Demokratisierung des im Zuge der neoliberalen
Konterrevolution entdemokratisierten Liberalismus verbindet. Diese
Hoffnung muss aber Illusion bleiben, solange die Organisationsfrage
ungelöst bleibt.
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