Krise, Empörung, Opposition

Die Occupy-Bewegung in den USA

Dezember 2011

Die in den USA entstandene Occupy-Wall-Street-Bewegung (OWS) hat rasch internationale Ausstrahlung gewonnen; sie beschließt ein Jahr weltweiter Massenproteste. Im vierten Jahr der Krise des globalen Kapitalismus hat diese eine politische Artikulation gefunden, die auf die kollektiv-solidarische Er-weiterung von Handlungsfähigkeit abzielt. Mit der Wall Street hat OWS nicht nur das geographische und symbolische Zentrum des Finanzmarktkapitalismus zum Ziel seines Angriffs gemacht. Die Wall Street steht auch für die bei-spiellose Geiselnahme der souveränen Staaten durch die „systemrelevanten Banken“ und die damit einhergehende Marktkonformisierung der bürgerlichen Demokratie. Hervorgerufen wurde OWS von der globalen austeritätspo-litischen Wende 2010/2011. Die Politik der Austerität vollzog sich lange Zeit unter dem Radar der Weltöffentlichkeit auf der kommunalen und regiona-len/einzelstaatlichen Ebene, während zugleich die Nationalstaaten Konjunktur-politik im großen Maßstab betrieben. Die aufgelegten Konjunkturprogramme hinkten aber in ihrem Umfang der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hin-terher, nicht zuletzt, weil die Nationalregierungen eine „Beggar-Thy-Neighbor“-Politik befürchteten, bei der sich andere und insbesondere die am stärksten exportorientierten Staaten auf Kosten der eigenen Verschuldung wirtschaftlich erholten. Gleichzeitig wirkte die lokale und regionale Austerität als Gegentendenz zu den Konjunkturprogrammen.

Vom Tea-Party-Rechtspopulismus zu Occupy Wall Street
Mit dem vorläufigen Scheitern des Green New Deals und dem Einsetzen des Zeitalters der globalen Austerität fiel die Weltwirtschaft zurück in die Rezes-sion. Die zwischenzeitliche Wirtschaftserholung ging weitgehend auf die staatlichen Konjunkturprogramme zurück. Die Krise wurde durch politisches Manövrieren lediglich verlagert: Aus der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde eine Staatshaushaltskrise, die eine neue Finanzkrise heraufbeschwört. Mit der Austerität sollen „die Märkte“ insbesondere für Staatsanleihen beruhigt wer-den. Gleichzeitig verschärft die Austeritätspolitik die Haushaltskrisen in einer Abwärtsspirale, da die Austerität die Nachfrage stranguliert. Die hinter der Austeritätspolitik stehenden Interessen sind insbesondere in den alten fossil-energetischen und energieintensiven Industrien und der Klasse der Vermö-gensbesitzer zu suchen, deren aktienverbriefter Rechtsanspruch auf zukünftige Werte der gesellschaftlichen Arbeit mit der Rettung der systemrelevanten Banken und der Verstaatlichung der „toxic assets“ bekräftigt wurde.
Allerdings ist das Zeitalter der Austerität nicht ohne die neuen rechtspopulisti-schen Bewegungen zu denken, deren Aufstieg in den fortgeschrittenen kapita-listischen Ländern die erste wesentliche politische Artikulation der globalen Krise gewesen ist. Die austeritätspolitische Wende ist nicht zuletzt ein Aus-druck ihrer Stärke. Insbesondere in den USA erstarkten sie in Gestalt der Tea-Party-Bewegung, die mit der Unterstützung von alten Industrien, Großvermö-genden wie den Koch-Brüdern von Koch Industries, dem Murdoch-Medienimperium (Fox News) und unzähliger rechtspopulistischer Radiomo-deratoren das politische Klima in den USA prägte und entscheidend dazu bei-trug, dass die USA nach den zaghaften Versuchen der Obama-Regierung, die Krise für das Lostreten einer grünkapitalistischen Wende zu nutzen, an füh-render Stelle mit auf den Austeritätskurs einschwenkten. Dabei erkannten rechte Parteien alsbald, dass Wahlen insbesondere mit der Bedienung klassis-tischer und rassistischer Vorurteile gewonnen werden konnten. Führende In-tellektuelle der Republikaner wie Ross Douthat diskutierten offen, wie man die Tea Party zur Erneuerung der Partei nutzen, d.h. für diesen Zweck instrumen-talisieren, könne (Solty 2010a). In den Kongresswahlen 2010 erwies sich die Tea Party als der Jungbrunnen, der die Republikaner nach dem Wundenlecken im Anschluss an acht Jahre Bush-Administration unverhofft wieder an der politischen Macht teilhaben ließ. So gelang es den Republikanern, die Obama-Regierung zu einem faulen Kompromiss zu zwingen, der die Fortsetzung der Bushschen Steuersenkungen für die Reichen im Gegenzug zur Zustimmung zur Verlängerung der Arbeitslosengeldbezugsdauer aushandelte.
Die Tea Party, die sich einen eigenen Caucus im neuen Kongress schuf, über-schätzte allerdings die US-Zwischenwahlen, bei denen vier von zehn Wähle-rinnen und Wähler sich als Sympathisanten der Tea Party ausgaben, als ein Mandat zur Durchsetzung einer beispiellosen marktradikalen Agenda. Denn im Grunde sämtliche Umfragen belegten, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in Bezug auf die Austerität zu Ungunsten der Tea Party verkehrten, je konkreter nach den staatlichen Leistungen gefragt wurde. Das Bekenntnis der Bevöl-kerung zur Sparpolitik bleibt also nur ein abstraktes (vgl. Solty 2010b).
In vielen (neuerdings) republikanisch regierten Staaten des Mittleren Westens legten es Tea-Party-gestützte Gouverneure dennoch auf einen Endkampf mit den Gewerkschaften an. Seit dem Reaganismus war es durch die verschie-densten Gesetze gelungen, die Privatwirtschaft zu einer weitgehend gewerk-schaftsfreien Zone zu machen. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad sank hier seit Mitte der 1970er kontinuierlich und fiel 2010 zum ersten Mal unter die 7%-Marke. In Staaten wie North Carolina, Arkansas, Georgia und Louisiana gibt es im privatwirtschaftlichen Sektor im Grunde keine Gewerkschaften mehr. Im öffentlichen Sektor – von der Müllabfuhr bis zu den Uni-versitätsbediensteten – ist die Arbeiterbewegung hingegen noch recht stark. Den 6,9 Prozent im Privatsektor standen nach offiziellen Angaben des Bureau of Labor Statistics 2010 noch 36,2 Prozent im öffentlichen Sektor gegenüber . Bei den Konflikten wurde schnell deutlich, dass es den republikanischen Gouverneuren mit Scott Walker in Wisconsin an ihrer Spitze nicht um quanti-tative Zugeständnisse der öffentlich Beschäftigten ging. Auf die Forderungen nach Gehaltsverzicht und Kürzungen der Einzahlungen in die privaten Siche-rungssysteme („benefits“ wie Gesundheit und Rente) waren die Gewerkschaf-ten bereits weitgehend eingegangen. In Wirklichkeit ging es um die faktische Aufhebung der kollektiven Tarifverhandlungsfähigkeit der Gewerkschaften. Denn diese sollte sich in Wisconsin lediglich auf die Löhne beziehen, während die wirklichen Pfründe des Arbeitskampfes in den „benefits“ bestehen.
Die Tea Party und ihre politische Vertretung konnte sich von Wisconsin bis Ohio trotz des bemerkenswerten Widerstands auf der Straße und im Parlament weitgehend durchsetzen. Zuletzt misslang es, aus den erfolgreichen Neuwahl-begehren politisches Kapital zu schlagen. Erfolg verbirgt sich jedoch manch-mal auch darin, was der Gegner nicht erreicht hat. So zogen z.B. wie in Indiana einige republikanische Gouverneure angesichts der Welle des Protests ähn-liche Gesetzesvorlagen zurück. Gleichzeitig bildeten die Proteste von Wiscon-sin, die sich ebenfalls lauffeuerartig über die gesamten Vereinigten Staaten ausbreiteten, den Auftakt für die Occupy-Bewegung, selbst wenn ihre soziale Basis nicht unbedingt identisch ist – ein Punkt, auf den noch einzugehen sein wird (zu Wisconsin vgl. näher Solty 2011a).
Kurzum, der Rechtspopulismus war von Ungarn über Finnland (die Wahren Finnen) und Schweden (die Schwedendemokraten) bis in die USA trotz vieler Ansätze linken Widerstands zweifellos der erste, unmittelbare politische Aus-druck der Krise. Die Kongresswahlen 2010 brachten die Tea Party an die Macht. Damit erschöpfte sich aber auch die Verve der Bewegung. Die Repub-likanische Partei steht seither am Rande einer Krise, weil sich ihre Fraktionen im Zuge der republikanischen Vorwahlen gegenseitig bekämpfen. Denn mitt-lerweile verdichten sich die Anzeichen, dass weder die Tea-Party-nahen Kan-didaten (Michele Bachmann, Hermann Cain, Rick Perry) noch die eher aus dem Republikaner-Establishment stammenden Parteiführer (Mitt Romney) geeignet sind, Obama, dessen Popularitätswerte trotz der Krise wieder angestiegen sind, zu schlagen.
Mit den Protesten von Wisconsin verschob sich somit die Dynamik der sozia-len Krisenbewegungen. In Folge der realpolitischen Maßnahmen der Tea-Party-Republikaner kam es zu einer Wiederbelebung des sozialen Protests von links. An den Demonstrationen in Madison, der Hauptstadt des Bundesstaats Wisconsin, hatten sich Anfang des Jahres zu verschiedenen Gelegenheiten viele Zehntausend Menschen beteiligt und gegen die Entmachtung der Ge-werkschaften protestiert. Das Ansehen der Gewerkschaften stieg in Folge des-sen an. Inspiriert wurden diese Proteste durch den „Arabischen Frühling“. Überhaupt ist das Jahr 2011 durch eine bemerkenswerte Internationalisierung des Protests gekennzeichnet. Die „Arabellion“ und ihre spezifische Protestform der friedlichen Besetzung öffentlicher und symbolischer Plätze beeinflusste die Proteste im Mittleren Westen. Von dort schwappte der Protest wieder zurück. Die Indignados in Spanien bezogen ihre Einflüsse sowohl aus den USA als auch aus Nordafrika. Zudem kam es in Chile zu einem Aufstand der Studierenden insbesondere gegen Studiengebühren und verschlechterte Stu-dienbedingungen, während in Israel eine Massenbewegung von zumeist gut-ausgebildeten jungen Prekären gegen die hohen Lebensbedingungen (insbe-sondere die Mieten) auf die Straße ging und sich so aus der langjährigen Um-klammerung durch Ausnahmezustand, Militarismus, Kolonialismus und Ras-sismus löste. Schließlich beeinflussten alle diese Bewegungen wiederum die Mitte September in New York entstandene Occupy-Wall-Street-Bewegung (OWS), die sich in weniger als einem Monat nicht nur auf über hundert andere Städte in den USA, sondern auf Hunderte weitere Städte weltweit ausbreitete. Dass der Zuchotti Park, in dem die Besetzer campieren, früher Liberty Plaza Park hieß, ist eine ins Bild passende Analogie zum Tahrir Square in Kairo, was übersetzt soviel wie Befreiungs- oder Freiheitsplatz heißt. Mike Davis ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Genialität von Occupy Wall Street (…) besteht darin, dass [die Bewegung; IS] zeitweilig einige der teuersten Immobilien der Welt befreit und einen privatisierten Platz in einen magne-tischen öffentlichen Raum und Katalysator des Protests verwandelt hat.“ (Da-vis 2011)

Was charakterisiert die Occupy-Bewegung?
Zwei Fragen drängen sich angesichts dieser Entwicklung auf: (1.) Warum kommt es gerade bzw. erst jetzt zu diesen Protesten von links? (2.) Wer sind die Protestierenden? Auf die erste Frage wurde bereits an anderer Stelle aus-führlicher eingegangen (Solty 2011b). Darum beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die zweite Frage.
Die soziale Basis der Bewegung leitet sich weitgehend von den sozialen Ma-nifestationen der Krise her. Die Krise hat aus der Generation Praktikum die Generation Krise werden lassen. Mit der Ausnahme der BRIC-Schwellenländer sowie relativ krisenverschonter Ökonomien wie Deutschland und Kanada ist die Krise sowohl in den fortgeschrittenen kapitalistischen und den Peripherieländern in Form von Massen- und insbesondere Jugendarbeits-losigkeit, Privatinsolvenzen, Zwangsversteigerungen sowie Sozialabbau durchgeschlagen.
Gelegentlich wurde zwischen 2011 und der Situation im Vormärz ein Vergleich gezogen. Dieser scheint durchaus berechtigt. Die frühe Arbeiterbewegung entstand aus der Gesellenbewegung. Die Grundlage der Empörung gegen die neuen marktabhängig-prekären Verhältnisse war nicht Hunger und absolutes Elend. Die Empörung gegen die neuen kapitalistischen Sozialverhältnisse speiste sich aus dem Gefühl, dass alte tradierte Rechte und Ansprüche aus dem feudalistischen Zunftwesen gebrochen worden waren. Der neue Ka-pitalismus war nicht vereinbar mit den Vorstellungen von einer „moralischen Ökonomie“ (Thompson 1980).
Die Demonstranten an der Wall Street, in Boston, Philadelphia, Seattle, San Francisco/Oakland und Washington D.C. – um nur die zentralen der insgesamt über 100 Schauplätze der Bewegung in den USA zu nennen – treibt eine ähnliche Empörung auf die Straße. Auf die meisten von ihnen trifft die Be-schreibung spontan bzw. spontaneistisch zu. Rund die Hälfte von ihnen ver-fügt über keine politischen und Demonstrationserfahrungen. Die Demonstran-ten eint, dass sie zur Generation Krise gehören, die sich um ihre ökonomische Zukunft gebracht sieht. Viele könnte man als blockierte Eliten im weiteren Sinne beschreiben. Hunderttausende Hochschulabsolventen haben einen gi-gantischen Schuldenberg aufgehäuft, um sich „fit für den Markt“ zu machen, und beobachten nun, dass dieser Markt keine Verwendung für sie hat bzw. nur unter den Bedingungen einer großen Diskrepanz von Qualifizierung und wirk-lichem Tätigkeitsbereich. Sie taten, was man von ihnen erwartet, doch ihre lu-penreinen Lebensläufe mit Auslandsaufenthalten, Prestige-Praktika und Best-noten landen häufig doch nur in der Ablage. So ist selbst nach den ge-schönten offiziellen Arbeitslosenstatistiken in den USA mehr als jeder fünfte Jugendliche arbeitslos. In Großbritannien ist es ebenfalls jeder Fünfte, in Griechenland und in Spanien, dessen Indignados-Proteste OWS sehr beeinflussten, ist es fast jeder Zweite. In den USA kommen dazu Hunderttausende Unterbeschäftigte. Die International Labor Organization hat deshalb bereits vor einer globalen Aufstandswelle (Elliott 2011), Frank Rich vor jahrelangen Klassenkämpfen, gerade aufgrund der US-Klassenlosigkeitsideologie (Rich 2011).
Die jungen Prekarier beobachten, dass die Regierung, die die überwältigende Mehrzahl von ihnen mit teilweise sehr hohen Erwartungshaltungen gewählt hat, anstatt an der sich immer noch auf Rekordniveau bewegenden Zwangs-versteigerung von Privathäusern und der Massenarbeitslosigkeit etwas zu än-dern oder die Re-Regulierung des Finanzsektors voranzutreiben, mit staatli-chen Steuergeldern ein System zu stabilisieren sucht, das nach dem dominan-ten Muster der Krisenanalyse diese verursacht hat. Während die Banken-Boni und Vorstandsgehälter wieder den Stand von vor der Krise oder sogar Re-kordniveaus erreicht haben, ist parallel die Ausbeutungsrate deutlich gestie-gen. So sanken nach offiziellen Angaben des Bureau of Labor Statistics bspw. in den USA im Zeitraum von August 2010 bis August 2011 die Reallöhne um 1,7 Prozent, während gleichzeitig die Produktivität um 0,7 Prozent anstieg. So verschärft sich mit jeder Person, die die maximale Arbeitslosengeldbezugs-dauer ausgeschöpft hat, mit jeder Bibliothek und jedem Schwimmbad, das aufgrund der Klammheit der Kommunen geschlossen wird, mit jeder neuen Woche abgelehnter Bewerbungen und mit jedem neuen zwangsversteigerten Haus – betroffen ist in etwa jedes fünfzigste – die Krise der Gesellschaft und die Wut über die eigene soziale Lage. Denn bis weit in die aus den Business Schools entlassene neoliberale Subjektivität, die sich u.a. in Gestalt der An-hänger des marktradikalen Rechtspopulisten Ron Paul stellenweise an den Protesten beteiligt, hinein hat man es mit einem verletzten Gerechtigkeitsgefühl zu tun. Das Gefüge von Lustaufschub, Anpassung, Leistung und Bezahlung ist auseinandergefallen und verdichtet sich in der empörten Frage „Where is my bailout?“
Bei den Demonstrierenden handelt es sich mithin um den (noch) integrierten, (noch) nicht exkludierten, nicht entkoppelten Teil des Prekariats. Tatsächlich tut sich bislang noch ein Graben auf zwischen der Zone der Prekarität und der Zone der Entkoppelung (vgl. Dörre/Fuchs 2005). Denn während sich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die Wut der Entkoppelten bislang in weitgehend unpolitischen Plünderungen wie in London, Manchester und Birmingham manifestierte, sind sie in den Occupy-Bewegungen kaum reprä-sentiert. Gerade deshalb forderten die OWS-Demonstranten die Häme rechter Intellektueller heraus, die die Bewegung mit Verweis auf ihre elektronischen „Gimmicks“ moralisch zu diskreditieren suchten. Dabei ist dieser Unterschied zu den Inspirationsbewegungen in Nordafrika bedeutsam, weil er auf die Existenz von Spaltungslinien, politischer Milieugrenzen mit den ent-sprechenden Vorurteilen etc. hinweist. In Nordafrika waren die Bewegungen nicht zufällig in erdölimportierenden Peripherieländern mit entsprechend klei-nen Mittelschichten und unter der massiven Beteiligung des abgehängten Pre-kariats bei gleichzeitiger neuer Militanz der Gewerkschaftsbewegung (insbe-sondere in Ägypten) erfolgreich.
Mit dem Status des Blockiertseins geht gleichzeitig ein Ende der Toleranz in Bezug auf die wachsenden Vermögensunterschiede einher und der Illegitimität des gerafften Wohlstands der staatlich geretteten „Couponschneider“. So-lange berechtigte Hoffnungen bestanden, durch Anpassung an die Zwänge des „disziplinierenden Neoliberalismus“ (Gill 2008) den Lebensstandard der eigenen Eltern auch unter den erschwerten Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus halten zu können, ließ sich dieses dulden. Das neoliberale Mantra „a rising tide lifts all boats“ konnte wenigstens bei den gutausgebildeten, lohnabhängigen Mittelschichten auf passiven oder aktiven Konsens stoßen. Mit der Krise ist dies vorbei. Ein entscheidendes Merkmal der Bewegung ist die Infragestellung nicht nur des Arbeit/Gratifikations-Verhältnisses (wiedergespiegelt in der Betonung von „Korruption“, „Gier“, „Betrug“ etc. an der Wall Street, vgl. exemplarisch Taibbi 2011), sondern auch der sozialen Ungleichheit, die bis 2008 auf den Höchststand der späten 1920er Jahre zurückgeklettert ist, als solche.
Dies spricht nicht nur aus der Kritik der Macht des Geldes in der Politik in Form von Lobbyismus (auf das die Bankenrettung staatstheoretisch im Regelfall zu-rückgeführt wird). Es spricht insbesondere aus dem zentralen Slogan der Bewe-gung „We are the 99%“. Interessant ist dabei, dass dieser Slogan zweierlei Interpretationen in Bezug auf die Legitimität von sozialer Ungleichheit zulässt. Denn diese lässt sich sowohl auf die Einkommensstatistik als auch die Vermö-gensverteilung beziehen. Denn der große Unterschied zwischen Vermögens- und Einkommensverteilung ergibt sich erst bei Betrachtung des obersten Zehntels. Der Anteil der obersten 1 Prozent der Haushalte an den Einkommen (350.000 US-Dollar Jahreseinkommen und mehr) und am Gesellschaftsvermö-gen beträgt in beiden Fällen je nach Berechnungsgrundlage zwischen 20 und 25 Prozent (der Anteil der obersten 1 Prozent an den Einkommen verdoppelte sich dabei von unter 10 Prozent in den 1970er Jahren bis heute).
Oft wurde in Analysen die Global-Justice-Movement zum Vergleich hergezo-gen. Die übliche Betrachtungsweise ist, daß 9/11 dieser das Genick brach. Vielen erscheint es, als ob man wieder an der Battle of Seattle anknüpft, die vom War on Terror auf halber Strecke aufgehalten wurde. Diese Einschätzung stimmt aber, wenn überhaupt, nur zum Teil. Oberflächlich betrachtet springen die Parallelen ins Auge: Eine junge, dezentralisiert, netzwerkartig und weltweit operierende Linke gegen die geballte Kapitalmacht. Trotzdem: Heute bezieht sich das verletzte Gerechtigkeitsgefühl nicht primär nur auf die Unter-privilegierten, sondern zunehmend auf die eigenen ökonomischen und sozialen Interessen.
Zudem ist das Organisationsmodell ein anderes. Die globalisierungskritische Bewegung war abhängig von (jährlichen) Zusammenkünften der Eliten der neoliberalen Weltordnung. Sowohl diese Proteste als auch die Sozialforen bo-ten einen räumlich und zeitlich begrenzten Raum für die Etablierung dauer-hafter Verbindungen, die mittelfristig in strategisch angelegte Organisationen hätten münden können. Dies ist im Falle der Occupy-Bewegung anders. Die Bewegung hat das Potenzial nicht nur nicht zum mehrtägigen Spektakel zu verkommen, sondern tagein tagaus durch die Interaktion und die gemeinsame Bewegungserfahrung neue politische Subjekte hervorzubringen. Zudem ist das Besetzungsmodell auch auf Langfristigkeit angelegt; ein Endpunkt ist nicht festgelegt. Ferner geht die Gewalt allein vom Staat aus. Dies steht im Gegensatz zu Anti-WTO/G8-etc.-Protesten, deren Botschaften immer durch medial quotenwirksamere Straßenschlachten überschattet wurden.
Schließlich lässt sich im Vergleich zwischen 1848 und 2011 auch eine Parallele in Bezug auf die Kommunikation ziehen. Falsch ist ein technologischer Determinismus, der sich hinter Formulierungen wie „Facebook-Revolte“ ver-birgt. Technologien schaffen keinen Widerstand, Menschen tun das. Trotz-dem: Im Vormärz verbreitete das Wanderverhalten der Gesellen frühsozialis-tische Ideen durch ganz Zentraleuropa und waberte die Welle der Revolutio-nen und Aufstände von 1848 in der Geschwindigkeit der Briefkuriere durch Europa. Heute vernetzen Facebook und Twitter die Unzufriedenen in einem nie dagewesenen Maße. Dieses wird auch von den Herrschenden erkannt, wie z.B. die Überlegungen des britischen Premierministers David Cameron belegen, die sozialen Netzwerke als Mittel der Aufstandsbekämpfung nach dem Vorbild der nordafrikanischen Regierungen staatlich abzuschalten.

Probleme der Organisierung
Viel wurde über die Hintergründe der dynamischen Entwicklung der Bewegung spekuliert. Dabei wurde vielfach auf das Missverhältnis zwischen den weitreichenden Sympathien für die Bewegung und „ihre Ziele“ auf der einen Seite und die Unterdrückung durch die Polizei hingewiesen. In der Tat gingen millionenfach verbreitete Videos von Zivilpolizisten (in weißen Hemden), die wehrlose und friedliche Demonstrantinnen aus dem Hinterhalt mit Pfefferspray angriffen, um die Welt. Auch die Paradoxie, dass anfänglich die Bewegung kleingeredet wurde und plötzlich siebenhundert Personen auf der Brooklyn Bridge mehr oder weniger grundlos festgenommen wurden, verlieh der Bewegung, die die Sympathien von mehr als der Hälfte der Bevölkerung ge-nießt, einen moralischen Überschuss. Schließlich kann auf die breite Unters-tützung durch öffentliche Intellektuelle aus den unterschiedlichsten Feldern der Politik, Kultur und Wissenschaft als Aspekt der Mobilisierungsfähigkeit verwiesen werden. Die Liste der Unterstützer reicht von den üblichen Ver-dächtigen wie Keith Olbermann, Michael Moore, Tom Morello und Susan Sa-randon zu bedeutenden globalen kritischen Intellektuellen wie Cornel West, Rick Wolff, Slavoj Zizek, Judith Butler, Chris Hedges, Joseph Stiglitz, Paul Krugman, Noam Chomsky, Naomi Klein, Margaret Atwood, Salman Rushdie, Alice Walker und Stephane Hessel. Hinzu kamen zahlreiche alte und neue Künstler wie Pete Seeger, Arlo Guthrie, Jeff Mangum, Radiohead, Immortal Technique und sogar Kanye West, unübliche Verdächtige wie Lech Walesa sowie eine kleine Gruppe von Mitgliedern der kapitalistischen Klasse, die sich aktiv für eine Erhöhung ihrer Steuern aussprachen. Selbst Regierungspersonal wie Nancy Pelosi und Barack Obama hat sich zu dem eigenartig schizophrenen Verhalten hinreißen lassen, die Proteste, die sich zum großen Teil aus Unzufriedenheit über und Widerstand gegen die eigene Politik richten, zu be-grüßen. Gleichzeitig haben die wenigen offenen Gegner wie der afroamerika-nische Shooting Star und Tea-Party-Favorit unter den republikanischen Präsi-dentschaftskandidaten, Herman Cain, der republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, Eric Cantor, ähnlich wie Joachim Gauck in Deutschland den Gegnern der Bewegung einen Bärendienst erwiesen, als sie die sich of-fensichtlich aus der Mitte der Gesellschaft rekrutierende Bewegung als „lä-cherlich“, „Mob“ oder „antiamerikanisch“ bezeichneten (vgl. auch die treffende Kritik von Krugman 2011).
All diese Gründe erklären den Aufstieg der Bewegung jedoch nicht oder nur zum Teil. Entscheidend ist, dass die Bewegung Ausdruck eines „Krisen-Interregnums“ ist, in dem die alten Institutionen des hegemonialen Neolibera-lismus in eine tiefe Vertrauenskrise geraten sind, aber gleichzeitig dieses Misstrauen sich auf alle organisierten Interessen einschließlich der Gewerk-schaftsbewegung und neuer Linksparteien wie Nouveau Partie Anticapitaliste (NPA) in Frankreich oder Die LINKE bezieht (vgl. hierzu näher Solty 2011b). Gleichsam hängt der Erfolg der Bewegung davon ab, inwieweit es ihr gelingt, ihre Bestrebungen im Verbund mit den ökonomischen und politischen Interes-senvertretungen der Lohnabhängigen zu suchen – eine Tatsache, auf die Bill Fletcher Jr. (2011) und Samir Sonti (2011) zu Recht hingewiesen haben. Schon in Nordafrika offenbarte sich die Schwäche des Spontaneismus in den Schwierigkeiten, eine politische in eine soziale Revolution auszudehnen, die in der Lage gewesen wäre, die Not der (exkludierten) Prekären zu lindern. Auf die Probleme des Prinzips der Führerlosigkeit hat Roula Khalaf schon am Beispiel der ägyptischen Revolution hingewiesen, als sie schrieb: „Die Stimmung in Kairo ist von der Euphorie in Enttäuschung umgeschlagen. Die Erinnerungen an diesen ruhmreichen Moment im Februar (…) sind verblichen, als sich die Menschen wieder in den Mühlen des Alltags wiederfanden und erlebten, dass sich wenig geändert hatte (…). Die Jugendbewegungen, die den arabischen Raum durch ihre fabelhafte Führungsrolle in der Revolution verzaubert haben, sind zerfallen, weil es ihnen nicht gelang, eine gemeinsame politische Organisation zu gründen, die Zukunft schaffen kann.“ (Khalaf 2011)
Für die Occupy-Bewegung stellt sich die Frage, welche neuen Organisations-formen an die Stelle des Prinzips der Führerlosigkeit treten können. Vehikel eines solchen Prozesses lassen sich in den Aktionsformen der Bewegungen selbst finden. Dazu gehören u.a. die Generalversammlung und innovative Medienformate. Zu Letzteren zählt „We Are the 99%“, eine populäre Video-reihe, in der Aktivistinnen und Sympathisanten der Bewegung ihre soziale Lage schildern und die Beweggründe ihrer Beteiligung oder auch ihre politi-schen Forderungen sprechen. Dieses Format dient als Grundlage für eine Ver-ständigung über die soziale Natur der eigenen Prekarität. Überhaupt ist das Besetzungsformat herkömmlichen Massenaufmärschen in der Hinsicht über-legen, dass es nicht schon weltanschaulich orientierte und nach bewussten Interessen organisierte Masseninstitutionen zur Politik im öffentlichen Raum bewegt. Der öffentliche Raum funktioniert in gewisser Weise als vorpolitischer Raum spontaner Versammlung von „Empörten“, der sich politisch durch Lernprozesse über die kollektiv-soziale Natur der eigenen Lage angeeignet wird. Dahinter verbirgt sich das Versprechen, dass die offenkundige He-terogenität der Bewegung in Bezug auf politische Milieus, Politik- und Bewe-gungserfahrung und politische Überzeugungen in diesem Schmelztiegel zu interessengeleiteten kohärenten Projekten wird. Denn aus den „99%“ gegen die „1%“ muss ein neues, bewusstes, politisches Kollektivsubjekt mit einem gemeinsamen Willen und Projekt – nennen wir es einmal Prekariat – erst noch entstehen.
Trotz der drohenden Gefahr der Kooptation insbesondere durch die Demokra-tische Partei und die Obama-Administration sind Charakterisierungen der spontanen Bewegung als „sozialdemokratisch“, weil sich zunehmend die „Robin-Hood-Steuer“ genannte Tobin-Tax als Kulminationspunkt der Forde-rungen ergibt, nicht hilfreich. Das Entscheidende an der Bewegung ist zu-nächst nicht – wie auch Slavoj Zizek (2011) zu Recht betont – ihre Forderun-gen, sondern ihr Charakter als Bewegung als solcher. Dazu gehört u.a. die durch Umfragen bestätigte universelle Befürwortung von Formen des zivilen Ungehorsams als Mittel der Politik. Denn dahinter verbirgt sich ein Bewuss-twerdungsprozess in Bezug auf die Grenzen der liberal-parlamentarischen Verfahrensweisen, weshalb sich mit der Occupy-Bewegung auch die Hoffnung auf eine Re-Demokratisierung des im Zuge der neoliberalen Konterrevolution entdemokratisierten Liberalismus verbindet. Diese Hoffnung muss aber Illusion bleiben, solange die Organisationsfrage ungelöst bleibt.

Literatur
Davis, Mike (2011): No More Bubble Gum. In: Los Angeles Review of Books, online: http://lareviewofbooks.org/post/11725867619/no-more-bubble-gum
Dörre, Klaus/Fuchs, Tatjana (2005): Prekarität und soziale (Des-)Integration. In: Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 16. Jg., Nr. 63, S.20-35
Elliott, Larry (2011): Jobs crisis threatens global wave of social unrest. In: The Guardian, 31.10.
Fletcher, Jr., Bill (2011): The Occupy Together Movement, online: http://www.classism.org/occupy-movement-5-points-consideration
Gill, Stephen (2008): Power and Resistance in the New World Order, 2. überarb. u. erw. Aufl., London
Khalaf, Roula (2011). Egypt, the unfinished revolution. In: Financial Times, 28.10., online: http://www.ft.com/intl/cms/s/2/7ef64d68-002e-11e1-8441-00144feabdc0.html#axzz1cbAOjYpD
Krugman, Paul (2011): Panic of the Plutocrats. In: New York Times, 9.10.
Rich, Frank (2011): The Class War Has Begun. In: New York Magazine, 23.10.
Seeßlen, Georg (2011): Ein paar Tage sichtbar sein. In: tageszeitung, 17.08.
Solty, Ingar (2010a): Die Tea Party und der hilflose Antifaschismus des Blocks an der Macht. In: Sozialismus, 11/2010, S.45-50
Solty, Ingar (2010b): Die Tea-Party-Quittung. Das Scheitern des Obama-Projekts und die US-Zwischenwahlen 2010. In: Sozialismus, 12/2010, S.42-47
Solty, Ingar (2011a): Wieder am Drücker. Die Arbeiterproteste in Wisconsin sind nicht gescheitert. In: junge Welt, 28.09. (Beilage)
Solty, Ingar (2011b): Das Krisen-Interregnum. Thesen zur politischen Artiku-lation der globalen Krise vom neuen Rechtspopulismus zur Occupy-Bewegung. In: LuXemburg, 4/2011 (im Ersch.)
Sonti, Samir (2011): Organized Labour and the Occupations Movement. In: Socialist Project, E-Bulletin No. 564, 3.11., online: http://www.socialistproject.ca/bullet/564.php#continue
Taibbi, Matt (2011): Wall Street isn’t Winning, It’s Cheating. In: Rolling Stone (Online-Ausgabe), http://www.rollingstone.com/politics/blogs/ taibblog/owss-beef-wall-street-isnt-winning-its-cheating-20111025
Thompson, E.P. (1980): Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frank-furt/M.
Zizek, Slavoj (2011): Occupy first, demands come later. In: The Guardian, 26.10.

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