Editorial

Dezember 2011
Z88

Das Jahr 2011, das vierte Jahr der internationalen Finanzmarktkrise, ist durch weltweite soziale Protestbewegungen gekennzeichnet: In der arabischen Welt wie in Chile und Südafrika, in Birmingham, London und Manchester ebenso wie in Griechenland, Italien, Spanien oder Portugal, in den Zentren des Finanz-kapitals New York oder Frankfurt – überall sind es in erster Linie Jugendliche, die ihren Protest auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen. Was sind ihre Anlässe, Forderungen, Formen? Wer sind ihre Träger, welche Perspektiven haben sie, welche Rolle spielt die Linke dabei?
Die im September 2011 entstandene Occupy-Wall-Street-Bewegung mit inzwi-schen über hundert Schauplätzen in den USA hat schnell weltweite Resonanz gefunden. Ingar Solty sieht sie als Reaktion auf die staatliche Austeri-tätspolitik und als Gegenbewegung gegen den US-amerikanischen Tea-Party-Rechtspopulismus. Sie sei eine weitgehend spontane Protestbewegung einer zunehmend von sozialer Unsicherheit bedrohten jungen Generation. Bei aller Heterogenität und programmatischen Unklarheit sieht er doch Chancen für eine Annäherung zwischen ihr und den Bewegungen und Organisationen der Lohnabhängigen.
Die jüngsten „Jugendproteste und Sozialrevolten“ sind Gegenstand von Mi-chael Klundts Übersicht. Die Bedingungen und Praktiken der weltweiten Ju-gendproteste sind, so Klundt, nicht einfach auf einen Nenner zu bringen. Er diskutiert verschiedene wissenschaftliche und mediale Erklärungsversuche. Weit verbreitet sei das Gefühl Jugendlicher, dass „die Demokratie nicht mehr funktioniert“, dass sie von „der Politik“ um die eigenen Zukunftschancen be-trogen werden und sich nur durch politischen Protest oder Revolte Gehör ver-schaffen können. Die Bewegungen sind Folge einer wachsenden Desintegrati-on der Gesellschaften, des Entstehens von großen Schichten „sozialer Verlie-rer“, der Kumulation und Verstetigung „einerseits negativer und andererseits positiver Lebenssituationen“ bereits bei Kindern und Jugendlichen.
Solty zufolge ist die Occupy-Bewegung Ausdruck eines „Kriseninterregnums“, in dem die alten Institutionen der neoliberalen Herrschaft in eine Vertrauenskrise geraten sind, sich das Misstrauen der Jugendlichen aber auf alle organisierten Interessen einschließlich der Arbeiterbewegung und der Linken erstreckt. Dies entspricht auch Erfahrungen aus der Bundesrepublik. Will die politische Linke hier wirksam werden, muss sie eine für die Bewegungen brauchbare Kapitalismusanalyse und daraus abgeleitete Politikvorschläge einbringen. Folgt man Harald Werner, ist die Partei DIE LINKE mit ihrem neuen, in Erfurt beschlossenen Programm hierbei einen Schritt vorangekommen. Obwohl er im Text eine ganze Reihe von vor allem seinem Kompromisscharakter geschuldete Schwächen findet, hält Werner das Dokument trotzdem für einen Meilenstein in der Entwicklung der LINKEN. Die Beschreibung des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus sei „nicht nur lesenswert und verstehbar, sondern auch brandaktuell“. Damit sei das Prog-ramm „näher an den weltweiten Aktionen gegen den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus … als es SPD und Grünen lieb sein kann.“

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Kapitalismusanalyse – methodische Beiträge: Mohssen Massarrat setzt sich mit der innerhalb der Linken verbreiteten Gewohnheit auseinander, alle Prob-leme und Widersprüche unterschiedslos auf den Kapitalismus zurückzuführen. Am Beispiel der Marx’schen Behandlung der ursprünglichen Akkumulation und der Grundrentenproblematik zeigt er, dass methodisch zwischen dem Logischen Kapitalismus und dem Historischen Kapitalismus unterschieden werden müsse. Tatsächlich sei der real existierende Kapitalismus immer eine Synthese aus den jeweiligen historischen Rahmenbedingungen und den Grundgesetzen des Kapitals. Über Barrieren und Chancen einer marxistischen Mensch-Umwelt-Theorie denkt Karl Hermann Tjaden nach. Sein Ausgangs-punkt ist das zentrale Problem kapitalistischer Produktionsweisen – die Kom-bination von ökonomisch-sozialer und schon lange schwelender Ressourcen- und Umweltkrise. Ein marxistisches Denken, dem ein dualistisches Verhältnis von Mensch einerseits und Natur andererseits als Grundlage von Gesellschaft-lichkeit gilt und für das das expansionistische Konzept einer ständig sich er-weiternden Produktion als A und O jeder Wirtschaftstätigkeit erscheint, sei nicht zukunfts- und entwicklungsfähig. Tjaden diskutiert das Verständnis von Gesellschaftlichkeit und Wirtschaft bei Marx und Engels, Konzepte des Öko-sozialismus und die Frage, ob und inwieweit der Wachstumszwang der inneren Logik des Kapitals inhärent ist. Um Fragen der Imperialismustheorie und -analyse geht es in einer Kontroverse zwischen der Autorengruppe Frank Dep-pe/David Salomon/Ingar Solty und Andreas Wehr. Wehr kritisiert an deren Einführungsschrift „Imperialismus“, dass sie die imperialismustheoretischen Debatten nach 1945, insbesondere die SMK-Theorie, ignorierten. Gerade die jüngsten Ereignisse in Europa zeigten die fortdauernde Aktualität der Lenin-schen Imperialismusanalyse. Demgegenüber bestehen die kritisierten Autoren auf der Notwendigkeit einer Imperialismusanalyse, die die Internationalisie-rungsschübe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart bei der Analyse der Beziehungen zwischen den kapitalistischen Staaten und der internationalen Politik berücksichtigt. Helge Buttkereit plädiert am Beispiel Lateinamerikas dafür, bei der Untersuchung von Klassenstrukturen in-sbesondere von Ländern der Peripherie den Einfluss vorkapitalistischer Ge-sellschaftsformationen einzubeziehen. Die spezifische Klassensituation des modernen Lateinamerika könne nur verstanden werden, wenn neben den Wir-kungen des Weltmarktes auch der Einfluss von gesellschaftlichen Organisati-onsformen vor der Conquista berücksichtigt werde.

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Atomausstieg und Energiewende: Nach der AKW-Laufzeitverlängerung im Herbst 2010 kam der durch die Atom-Katastrophe von Fukushima ausgelöste Beschluss zum Atomausstieg überraschend. Bernd Brouns analysiert Aus-stiegsbeschluss und Gesetzespaket der Bundesregierung zur Energiewende. Sein Fazit: Hier wird der Status Quo zementiert, es gibt keine Beschleunigung für eine Energiewende. Dieter Kaufmann erinnert an die Fortexistenz der auf Förderung der Atomenergienutzung ausgerichteten europäischen Atom-agentur EURATOM. Bei der Nutzung alternativer Energien wird über unterschiedliche Wege und Systeme gestritten. Wolfgang Pomrehn kritisiert die Dominanz zentralistischer Systeme. Probleme der mit großen staatlichen Subventionen geförderten Elektromobilität stellt Dietmar Düe dar.

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Marx-Engels-Forschung: Für die „New-York Tribune“ war ihr Europakorres-pondent Karl Marx in der ersten Hälfte der 1850er Jahre „das beste Pferd im Stall“. Manfred Neuhaus gibt einen Einblick in Themen und Arbeitsweise der Publizisten Marx und Engels (der seinem Freund oft aushalf) und den Profit, den sie daraus zogen: Zwang zur systematischen Beobachtung von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Diplomatie. Dazu gehörten auch Hintergrundanalysen des Krimkriegs; ihnen widmet sich Paolo Dalvit: Er zeigt, dass Marx und Engels – bei aller Gegnerschaft zum russischen Zarismus – keineswegs bereit waren, den Krieg gegen Russland zu unterstützen.
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Weitere Beiträge: Manfred Lauermann stellt eine Reihe von China-Analysen vor. Er interpretiert China als aus seiner Tradition agierende konfuzianische Gesellschaft. Das erkläre die Dimension der ökonomischen Prozesse, die hier-zulande Angst und Bewunderung und – zu Unrecht - bei manchen Linken Verachtung hervorrufen. Jörg Roesler diskutiert Alternativen zum Bau der Berliner Mauer als Reaktion auf das ökonomische Gefälle zwischen BRD und DDR und ihrer Etablierung als Dauerlösung. Diese sieht er vor allem in einer durch Wirtschaftsreformen bewirkten Steigerung der Produktivität der DDR-Wirtschaft. Die Ablösung des Reformers Ulbricht durch Erich Honecker habe diesen Ausweg aber versperrt. Werner Röhr hebt in seiner Besprechung von Jost Hermands Buch zur Kulturpolitik in Nazideutschland dessen Nachweis hervor, wie die Kulturpolitik des Faschismus mit unterschiedlichen Strategien sowohl eine bildungsbürgerliche Elite als auch das Unterhaltungsbedürfnis breiterer Bevölkerungsschichten bediente. Wolfgang Neef berichtet anhand ei-gener Seminarerfahrungen über Einstellungswandel bei Ingenieurstudenten in den letzten Jahrzehnten. Für eine zunehmend gesellschafts- und kapitalismus-kritische Einstellung seien besonders die Wahrnehmung von Technikfolgen und Ökokrise von Bedeutung. Im zweiten Teil seiner Vorstellung des materia-listischen Denkens von Mario Bunge referiert Richard Sorg eine Reihe von Argumenten, die dieser in der Auseinandersetzung mit aktuellen Einwänden gegen eine materialistische Weltsicht ins Feld führt.
Berichte und Buchbesprechungen informieren u.a. über Marx-Engels-Studien, aktuelle Kapitalismus-, Wirtschafts- und Krisenanalysen, die Transformations-Vorstellungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Stadtpolitik und Fragen der Geschichtsaufarbeitung.

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Z 89 (März 2012) wird im Schwerpunkt Weltsystemtheorie behandeln.