Ohnmacht und adressatenlose Wut im Betrieb

Interessen- und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen

von Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer
September 2011

Die „Große Krise“ ist nicht ausgestanden. Sie hat sich zeitlich gestreckt, regional verlagert, mittlerweile ganze Staatengruppen in ihren Strudel hineingerissen. Das Szenario „neue Weltwirtschaftskrise“ (Krugman 2008) ist – bei allen Unterschieden in der Entwicklung des Kapitalismus in den zurückliegenden acht Jahrzehnten – so irreal nicht. Als in der „Great Depression“ der 1930er Jahre „selbst die stärksten kapitalistischen Wirtschaftssysteme in die Knie“ gezwungen wurden, bestärkte dies „Intellektuelle, Aktivisten und Normalbürger in dem Glauben, dass irgendwas völlig schief lief mit der Welt, in der sie lebten“ (Hobsbawm 1995: 136). Die Folge war ein Zusammenbruch hegemonialer Weltanschauungen in manifesten sozialen und politischen Konflikten.

Zumindest in Deutschland scheint die Zeitdiagnose heute eine andere zu sein. „Eine Gleichzeitigkeit von Krise und Konflikt fehlt heute vollkommen“, konstatiert Claus Offe (2010). Wenn auch umgeben von „failing states“ scheint das ökonomische Jahrhundertereignis hierzulande politisch vergleichsweise geräuschlos über die Bühne zu gehen.

Verschiedene Erklärungen werden dafür angeführt:

- In erster Linie habe das „deutsche Beschäftigungswunder“ für einen sozial abgefederten Krisenverlauf gesorgt und zur Reaktivierung einer korporatistischen Verhandlungsökonomie des einstigen „Modell Deutschland“ beigetragen. Wo diese Krise gar nicht erst Fuß fasste, entsteht auch kein Krisenbewusstsein – könnte man meinen.

- Die Bielefelder Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer konstatiert eine phasenbezogen verzögerte subjektive Krisenwahrnehmung und Betroffenheit, die allerdings nicht in Protest, sondern vielmehr in Abwertungsprozesse (einer „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“) umschlage. Es drohe die Gefahr, dass das Stadium einer Gesellschafts- und Staatskrise schließlich in einen „autoritären Kapitalismus“ münde (Heitmeyer 2010, S. 18ff.).

- Dem Institut für Demoskopie Allensbach zufolge hat sich in den unteren sozialen Schichten Fatalismus ausgebreitet (Köcher 2009, S. 15). Zwar lasse die Prekarisierung der sozialen Verhältnisse die Krisenfolgen besonders spürbar werden, verhindere aber zugleich einen offensiven Umgang mit ihr, so dass keine neuen Kollektividentitäten und alternativen Bewältigungsstrategien entstehen.

- Das Jenaer Forscherteam um Klaus Dörre ist „auf eine Grundstruktur des Arbeitsbewusstseins gestoßen, die sich in der Formel ’guter Betrieb – schlechte Gesellschaft’ zusammenfassen lässt“ (Dörre u.a. 2010, S. 1). Die Beschäftigten sehen in den weiter bestehenden betrieblichen Sicherheitsstrukturen einen konfliktmindernden Schutz gegenüber den externen gesellschaftlichen Unwägbarkeiten.

- Die Tübinger Studie zu Lebensführung und Handlungsorientierungen von jungen Dienstleistungsbeschäftigten hat – im Bankbereich – gestiegene Gerechtigkeits- und Sicherheitserwartungen in der Wirtschaftskrise vorgefunden. Erklärt wird dies mit psychologischen Hilfshypothesen: Mechanismen von Selbsttäuschung und einer mentalen Flucht in Optimismus und Normalität (Held u.a. 2011, S. 61ff., S. 328f.).

Mit wenigen Ausnahmen – dazu zählen insbesondere die Jenaer Projekte – bleibt die betriebliche Ebene meist außer acht. Dabei wäre zu erwarten, dass die Wahrnehmung der Krise, Einblicke in ihre Ursachen, die Bewertung der Folgen, die Klärung von Interessenpositionen und Handlungsoptionen vor allem im arbeitsgesellschaftlichen Nahbereich erfolgt. Deshalb sind wir einen anderen Weg gegangen: Gleichsam im Zentrum der Krise haben wir betriebliche Vertrauensleute und – wo es sie nicht gab – Betriebsräte in ausführlichen Interviews und Gruppendiskussionen befragt.[1] Unsere Befunde[2] sind andere als die der zuvor zitierten Untersuchungen.

Von der Wirtschafts- zur Legitimationskrise

Dass – wie auch die Studien von Dörre u.a. zeigen – von einer „Krise ohne Krisenbewusstsein“ keine Rede sein kann, zeigen bereits zahlreiche demoskopische Befragungen der zurückliegenden Jahre (Bischoff u.a. 2010):

- Wenn auch Schwankungen unterworfen, ist eine deutliche Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung der Auffassung, dass es in der Gesellschaft zunehmend ungerecht zugeht, vor allem was die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen Kapital- resp. Vermögenseinkommen auf der einen und Lohn- und Sozialeinkommen auf der anderen Seite anbelangt.

- Verfestigte Ungerechtigkeitswahrnehmung hat traditionelle Legitimationsressourcen des Kapitalismus in Frage gestellt. Dazu gehört jene Vorstellung einer „Sozialen Marktwirtschaft“, nach der der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital in einem symmetrischen Klassenkompromiss pazifiziert sei. Dass sich das „deutsche Modell der Sozialen Marktwirtschaft“ bewährt habe, meinten zu Beginn des neuen Jahrhunderts noch 70 Prozent, im Oktober 2010 jedoch nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung. Hinzu kommt: Das zentrale Dogma des Neoliberalismus, dass es „mehr Markt“ bedürfe, wird nur von einer Minderheit geteilt; eine eindeutige Mehrheit hält „mehr soziale Absicherung“ von Nöten.

- Zukunftsperspektiven werden skeptisch eingeschätzt: Knapp die Hälfte der Bevölkerung erwartet, dass es in einigen Jahren „weniger soziale Gerechtigkeit“ geben wird. Auch im Wirtschaftsaufschwung erwarten drei Viertel der Bevölkerung keine Verbesserung.

Die Breite systemischer Delegitimierung unterstreicht eine Studie aus einem der größten privaten Think Tanks in Deutschland: „Das Vertrauen fehlt in der Breite – gegenüber Banken und Finanzdienstleistern, gegenüber Unternehmern und Managern, den Politikern und dem politischen System insgesamt, den klassischen Medien und sogar gegenüber der Art und Weise, wie die Soziale Marktwirtschaft aktuell umgesetzt wird – dem zentralen Identitätsanker unseres Gesellschaftsmodells.“ (Bertelsmann 2010: 11f.)

In der Krise zum Ausdruck kommendes Systemversagen nimmt Dimensionen einer Gesellschaftskrise an. Die Legitimation der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wird in Zweifel gezogen, weil sie sich als unfähig erweist, soziale Gerechtigkeit herzustellen.

Erster Befund: Was und wann „Krise“ ist,
ist erklärungspflichtig

Diese und vergleichbare demoskopische Umfragen über die Wahrnehmung verstärkter sozialer Ungleichheit werfen die Frage nach den Krisenerfahrungen und ihrer Verarbeitung umso dringlicher auf. Aus unseren Interviews und Diskussionen ergibt sich: Selbst in ihrem industriellen Zentrum wirkt die Krise nicht als großer Gleichmacher, der alle Verhältnisse in ein gleiches Licht taucht. Vielmehr sind wir auf eine Palette abgestufter Krisenwahrnehmungen gestoßen. Um die Spannweite anzudeuten:

Einerseits wird die Krise als „herber Schlag“ erlebt:

„… vor drei Jahren hattest du noch ganz andere Perspektiven… Und dann hast du plötzlich … so eine … Krise… da bist du eigentlich zurückgeschossen. Da warst du wieder ganz unten … das war schon ein herber Schlag.“

Auf der anderen Seite erscheint die Krise als machtpolitische Inszenierung;

„Die angebliche Krise wird von Unternehmen hergenommen, um Profite zu erhöhen.“

„Durch die ganzen Medien, unsere Banken, wird das alles hochgespielt. Die haben die Krise… Man sieht es ja. Die haben ja alle Miese.“

Zwar war die Krise in den Jahren 2008 bis 2010 das Thema: gesellschaftlich, medial und politisch gleichsam omnipräsent. Doch welche betrieblich-ökonomische Situation tatsächlich als „Krise“ bezeichnet wird, ist nicht selbstverständlich, sondern muss gedeutet und geklärt werden. Hier sind insbesondere Gewerkschaften gefordert. Ihre Verankerung in den Betrieben und die Kapazitäten gewerkschaftlicher Bildungsarbeit sind maßgeblich dafür, ob sich ein verallgemeinertes oder eher fragmentiertes Krisenverständnis herausbildet.

Hinzu kommt eine weitere Strukturkomponente. Kennzeichnend für das Alltagsbewusstsein ist „eine ‘Aufspaltung’ zwischen der Wahrnehmung der eigenen Betroffenheit und der Einschätzung der gesamtgesellschaftlichen Lage. Die gesellschaftliche Lage wird als Belastung wahrgenommen, die eigene Situation aber gleichwohl oft als entlastend interpretiert. Zwei Mechanismen können dazu beitragen. Beim ersten tritt die Entlastung ein, weil man annimmt, dass es anderen noch schlechter geht. Ein zweiter Mechanismus hat mit Kontrollüberzeugungen zu tun, also zum Beispiel der Meinung, das eigene Leben noch ‘unter Kontrolle’ zu haben.“ (Heitmeyer 2010a: 28) Auch daraus ziehen wir die Schlussfolgerung: Was und wann Krise ist, ist erklärungs- und begründungspflichtig.

Zweiter Befund: Intransparenz des Finanzmarktkapitalismus

Von entscheidender Bedeutung ist der spezifische Charakter eines von den Finanzmärkten geprägten Krisenprozesses. Die Welt der Finanzmärkte erscheint in unseren Interviews und Gruppendiskussionen als eine virtuelle Welt, in der „fiktives Geld … hin und her geschossen“ wird, die weit von jener Welt betrieblicher Produktion entfernt ist, in der „reale Werte“ geschaffen werden:

„Obligationen, CDEs oder CDAs, wie die Dinger heißen, das ist buntes Papier. Wenn ich da ein Streichholz dran hänge, ist es weg.“

Gleichzeitig übernimmt die „fiktive“ Wirtschaft verstärkt Besitz von der realen: sei es durch unmittelbare Kreditabhängigkeiten (in der Krise: Kreditklemme) oder durch eine am Shareholder value orientierte Unternehmenssteuerung.

„Dass du nur durch Spekulation, nur durch fiktive Sachen, ein gesundes Unternehmen kaputt machen kannst… es hat ja Jahre gegeben, wo Siemens mit der Spekulation mehr verdient hat wie mit der Produktion. Porsche … die haben mehr Gewinn gemacht vom Umsatz. Völlig irrsinnig. Nur durch Spekulation.“

Die Abhängigkeit der Unternehmen von der Entwicklung auf den Aktienmärkten und von Gewinnvorgaben, die den Verwertungsraten des Finanzkapitals entsprechen, sind Ausdruck einer Umkehrung des Verhältnisses von Real- und Geldkapitalakkumulation in einem finanzmarktgesteuerten Kapitalismus. Dies unterscheidet die aktuelle Krisenentwicklung von vorangegangenen Krisenprozessen seit dem Ende der kapitalistischen (fordistischen) Nachkriegsprosperität.

Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt: Die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise wird in der Welt der Geldkapitalakkumulation noch gesteigert. Wir denken, dass neue Untersuchungen zur Dechiffrierung des Alltagsbewusstseins von einer Rekonstruktion der Marxschen Theorie erheblichen Erkenntnisgewinn erwarten können (Harvey 2011). Die Frage, was und wann Krise ist und wo die Ursachen liegen, ist in einer Zeit, in der das wirtschaftliche Leben von den Finanzmärkten geprägt ist, noch mysteriöser als im Falle von Konjunkturkrisen. Der Fetischcharakter des Kapitals manifestiert sich hier nicht nur dahingehend, dass alle geleistete Arbeit als bezahlte und alle Produktivkräfte der lebendigen Arbeit als Produktivkräfte des Kapitals erscheinen, so dass an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft Kapital als Quelle des Profits, Arbeit als Quelle des Lohns und die Erde als Quelle der Grundrente gedeutet wird. In dieser „Fiktionsweise ohne Phantasie“ bleiben die sozialen Verhältnisse gleichwohl präsent. „Vom Kapital, soweit es im Produktionsprozess betrachtet wird, bleibt immer mehr oder minder die Vorstellung, dass es ein Instrument ist, fremde Arbeit zu fischen. Dies mag als ‘Recht’ oder ‘Unrecht’, begründet oder unbegründet, verhandelt werden, das Verhältnis des Kapitalistischen zum Arbeiter ist hier immer unterstellt und unterdacht.“ Anders auf den Etagen der Finanzmärkte. „Im zinstragenden Kapital ist dieser automatische Fetisch vollendet, der sich selbst verwertende Wert, das geldmachende Geld, und es trägt in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.“ (Marx 1968, S. 445ff.)[3]

Dem heutigen Krisenbewusstsein liegen damit andere – stärker verschlüsselte – Strukturen zugrunde, als den großen Überakkumulationskrisen der 1970er/80er Jahre. In ganz praktischer Hinsicht: Wenn die Realwirtschaft von einer „fiktiven“ Ökonomie gesteuert ist, wird es schwierig für die Beschäftigten, ihre realen Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Die Krise entschwindet dem augenscheinlichen Nahbereich, stellt sich nicht mehr in überquellenden Lagern dar, sondern in der Folge falsch gelaufener Finanzmarktgeschäfte und den daraus resultierenden Restriktionen für die Unternehmen. Finanzmärkte liegen nicht nur außerhalb der Erfahrungswelt unserer Interviewpartner und der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Sie sind gleichsam exterritorialer Ort. Jedenfalls keiner, an dem man mit klassischen Widerstandsformen intervenieren könnte. Im Unternehmen haben Belegschaften bei entsprechendem Organisationsgrad Sanktionsmöglichkeiten bis hin zu Vetopositionen – nicht auf Finanzmärkten. Zur Frage nach dem „was“ und „wann“ der Krise kommt noch die Frage nach dem „wo“ und dem „wogegen“ hinzu.

Dritter Befund: Der Eindruck einer „permanenten Krise“

Die Frage, weshalb eine „Jahrhundertkrise“ hierzulande bis heute nahezu geräuschlos über die gesellschaftliche und politische Bühne gegangen ist, ist meist mit der These unterlegt, die Krise würde als einzigartiges, singuläres Ereignis wahrgenommen. Unsere Befragung kommt zu einem anderen Befund: Für Teile der Beschäftigten ist „immer Krise“, sie erscheint als gleichsam „permanenter Prozess“. Das hört sich paradox und im ökonomischen Verständnis geradezu widersinnig an, denn Krise ist nur eine vorübergehende Phase im industriellen Zyklus, in der die Entwertung von überschüssigem Kapital die Grundlage für neue Kapitalanlagen und damit für einen neuen Aufschwung schafft.

In den Berichten der Kolleginnen und Kollegen ist etwas anderes als Krise im strikt ökonomischen Sinn gemeint. Als „krisenhaft“ werden der fortwährende Druck und die permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbedingen verstanden. Als „Krise“ wird die beständige Restrukturierung der Abläufe im Betrieb bezeichnet: Verlagerungen, Outsourcing, Kostensenkungsprogramme, zunehmende Intensität der Arbeit usw. In der Auseinandersetzung mit Restrukturierung in Permanenz werden „Krisenreaktionen“ dann selbst zu einer gewissen Routine.

Die Krise trifft auf den skeptischen Boden langer Erfahrungen einer Verschlechterung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. In den Betrieben verbinden sich in vielen Fällen die aktuellen Krisenerfahrungen mit „schon immer“ krisenhaften betrieblichen Entwicklungen. Mehr noch: In der Wahrnehmung von „Krise als permanentem Prozess“ stecken Defensiverfahrungen bis hin zu sozialen und politischen Niederlagen. Weder hat man wachsenden Leistungsdruck, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitverlängerungen im Kontext einer fortschreitenden Vermarktlichung der Verhältnisse im Unternehmen verhindern können, noch die höchst einseitige Verteilung des neu produzierten Reichtums zu Gunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen.

„Was willst du denn machen? Du kannst doch eh nichts machen. Die Spielregeln werden woanders ... also die Töne werden woanders erzeugt. Und wir haben bloß mit der Resonanz zu leben. Das ist einfach so.“

Das geht teilweise noch tiefer: Der Zusammenhang von Arbeit und menschlicher Würde wird aufgesprengt. Damit aber auch eine meritokratische Ordnung, in der „Leistung sich lohnt“. Für einen Teil der Lohnabhängigen ist diese zentrale Legitimationsressource des Kapitalismus in Frage gestellt – aber im Kontext von Defensiv- und Niederlagenerfahrungen.

Vierter Befund: Das „German miracle“ der
Ultraflexibilisierung

Im „German miracle“, d.h. der Arbeitsplatzsicherung der Stammbelegschaften trotz dramatischer Produktionsrückgänge, steckt eine positive und eine negative Botschaft. Positiv: Durch massive Arbeitszeitverkürzung kann Beschäftigung gesichert werden. Dies erfolgte nicht nur durch die auch im europäischen Ausland berühmt gewordene „Kurzarbeit“. Quantitativ bedeutsamer war Arbeitszeitverkürzung über das Instrument der Arbeitszeitkonten. In solchen Konten wurden in den Vorkrisenjahren erhebliche Überstundenkontingente „angespart“ – insbesondere auch in der Metallindustrie, in der tarifvertraglich die 35-Stunden-Woche gilt, in der aber die 40-Stunden-Woche längst wieder zur Normalarbeitszeit geworden war (Lehndorff 2010). In der Krise wurden diese Arbeitszeitguthaben nicht nur abgebaut, sondern die Konten wurden auf erhebliche Minus-Stände heruntergefahren – bis zu 300 Minusstunden, in Einzelfällen auch noch weit darüber hinaus. Um die Größenordnung zu verdeutlichen: 300 Arbeitsstunden entsprechen umgerechnet 8,5 Arbeitswochen.

Die negativen Botschaften:

- Beschäftigungssicherung galt nicht für die Bereiche prekärer Arbeit. Wie wir den Schilderungen der von uns befragten Vertrauensleute und Betriebsräte entnehmen konnten, hat der „Arbeitskraftpuffer Leiharbeit“ funktioniert: für die Unternehmen, aber auch für die Stammbelegschaften, die das nicht kritisiert haben. Für die Unternehmen gilt das auch nach der Krise. Nicht Neueinstellungen, sondern verstärkter Rückgriff auf Leiharbeiter über Vorkrisenniveaus hinaus prägt die Personalpolitik. Die Unternehmen haben hier neue Erfahrungen mit dem Instrument externer Flexibilisierung via Leiharbeit, befristeteter Beschäftigungsverhältnisse und Scheinselbständigkeit gesammelt.

- Das Hoch- und Runterfahren der Arbeitszeitkonten erfolgt auf der Grundlage einer lange eingeübten Unterwerfung privater Lebensbedürfnisse unter betriebliche Anforderungen. Dieses Instrument interner Flexibilisierung wurde von den krisenerprobten Belegschaften meist klaglos hingenommen. Wenn berichtet wird, dass Deutschland bereits vor der Krise eines der Länder – wenn nicht das Land – mit dem flexibelsten Arbeitszeitregime war, konnten die Unternehmen 2009/2010 die Erfahrung machen, dass die Flexibilisierungsspielräume noch sehr viel größer sind.

- Im Wechselspiel zwischen Kurzarbeit und schneller Auftragsbearbeitung stieg der Leistungs- und Zeitdruck noch weiter an. Die Krise war so auch Experimentierfeld für noch weitergehende Intensivierung der Arbeit, die seit dem vergangenen Jahr auch wieder mit verlängerten Arbeitszeiten einher geht. Tickte hier schon vor der Krise eine gesundheitspolitische Zeitbombe in Folge unzumutbarer Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, dürfte nun der Verschleiß noch schneller vorangetrieben werden (Pickshaus/Urban 2011).

- Flexibler Personaleinsatz geht nicht ohne berufliche Unsicherheit und Statusverluste vonstatten. Vor allem in den größeren Betrieben wurden z.B. Fachkräfte aus den indirekten Bereichen in die unmittelbare Produktion versetzt, was nicht nur Dequalifizierungsängste auslöste, sondern auch die Erfahrung mit deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen (z.B. in der Montage) brachte. Die von uns befragten Kolleginnen und Kollegen haben das in Kauf genommen. Aber nur als vorübergehende Maßnahme. Ein instrumentelles Arbeitsverständnis ist auch in der Krise nicht entstanden. Das Thema „Gute Arbeit“ hat sich ganz und gar nicht erledigt.

Die Unternehmen sind gestärkt. In der Krise wurde eingeübt, wie der weitere Rationalisierungsweg der „verschlankten Organisation“ in Zukunft aussehen könnte. Das gilt im Hinblick auf die externe Flexibilisierung: Wenn die Unternehmen in der Krise die Erfahrung machen, dass es auch mit reduziertem Personal „funktioniert“, dann werden die Ressourcen im Aufschwung nicht wieder auf Vorkrisenniveaus angehoben und in entsprechendem Umfang aufgestockt.

Gleichzeitig werden die in der Krise „bewährten“ Instrumente interner Flexibilität (Intensivierung und rasche Abfolgen verkürzter und verlängerter, zudem variabel verteilter Arbeitszeiten) weiter ausgebaut. Das „flexible Unternehmen“ ist einen Schritt weiter voran gekommen, die „atmende Fabrik“ mit kapazitätsorientierten Arbeitszeiten ist nach krisenbedingter Ultra-Flexibilisierung in ihren Umrissen noch deutlicher geworden. Ob der „flexible Mensch“ dem folgen kann, erscheint fraglich.

Fünfter Befund: Ohnmacht und „adressatenlose Wut“

Der Augenschein einer „Krise ohne Konflikt“ ist nicht unzutreffend – großformatige gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind im akuten Krisenverlauf ausgeblieben. Aber hinter der Fassade scheinen tiefgehende Ohnmachtserfahrungen gegenüber einer entfernten, unbeherrschten Dynamik auf.

Zugleich wird erhebliches, allerdings recht diffuses Protestpotenzial sichtbar. In unseren Interviews und Diskussionen kommt große Unzufriedenheit zum Ausdruck, die sich in vielen Fällen mit wenig Hoffnung auf baldige Veränderung verbindet. Dennoch lässt diese Wut weder auf Apathie noch Fatalismus schließen. Es handelt sich um Unzufriedenheit, auf Einsichten in die Lage, auf den Wunsch, diese zu verändern und auf die Ratlosigkeit darüber, wie das gehen könnte.

Die Wut ist schon länger da, auch schon vor der Krise, und sie hat sich aufgestaut. Aber sie hat meist keinen konkreten Adressaten, und wenn, dann scheinen die Adressaten meist unerreichbar. Für die meisten Befragten finden sich die „Schuldigen“ – die Verursacher der Krise – nicht im Betrieb. Vor allem in abhängigen Zulieferbetrieben wird das lokale Management als machtlos erlebt, aber auch die „ökonomisch Mächtigen“ gelten weniger als eigenständigen Akteure, sondern eher als Räder im System.

Daraus folgt keine Distanzlosigkeit zum „Arbeitgeber“ und zu betrieblichen Herrschaftszusammenhängen. Der Interessengegensatz wird auch auf betrieblicher – nicht nur gesellschaftlicher – Ebene wahrgenommen. Die Konzessionen an das Unternehmen erfolgen eher „zähneknirschend“, statt mit der Überzeugung, mit dem lokalen Management in einem Boot zu sitzen.

„Ja, die Leute beißen auf die Zähne ... sie lassen sich nicht mehr alles gefallen. Es ist sehr emotional ... das geht nicht mehr lange gut, dann wird es aggressiver. Dann kommen die Aggressionen und dann will ich mir gar nicht ausmalen, was noch kommt ...“

Vor diesem Hintergrund ist betrieblicher „Krisenkorporatismus“ allenfalls ein temporärer Deal auf schiefer Ebene. Darin mischt sich viel: Resignation, Erschöpfung, soziale Ängste, aber auch Wut und Protest. Er bedeutet nicht dauerhafte Rücknahme an Ansprüchen und Fehlen von Kritik. Unser Befund lautet: Die Formel „Krise ohne Konflikt“ greift die Stimmung zu sehr auf der Oberfläche medialer Öffentlichkeit ab. Was wir beobachten, ist etwas anderes: Wut, Angst und Ohnmacht.

Das Ohnmachtserleben „adressatenloser Wut“ wird vom Betrieb auf „Gesellschaft“ und auf „Staat und Politik“ verschoben. Diese Wut schafft sich in relativ diffuser Weise Raum und führt zu ausgeprägten Widerstands- und Protestphantasien. In unseren Befragungen gilt vielfach Frankreich als Orientierungsfolie. Mit sichtbaren Protestaktionen – von brennenden Reifen auf den Straßen und Aktionen vor dem Regierungssitz bis hin zum „Boss napping“ gelingt es dort anscheinend, zumindest öffentliche Aufmerksamkeit für die eigenen Nöte und Forderungen zu erringen.

„Und da wir ja sehr dicht an der französischen Grenze sind, womöglich von der Mentalität her Franzose, dann könnte es womöglich sein, dass mal Lkw-Reifen vor der Tür brennen.“

„Aber wenn das so weitergeht, dann werden sich die irgendwann mal alle organisieren und dann wird es wirklich mal krachen. Und ob das dann noch ruhig abgeht, das bezweifele ich. Weil da hat sich mittlerweile schon so viel angestaut, dass ich sagen muss, die werden wahrscheinlich bei irgendwas reagieren, was eigentlich gar nicht relevant ist... Das steigert sich so langsam hoch, und dann kracht es, aber dann kracht es gewaltig.“

Protest- und Widerstandsfantasien wie diese sind nicht als konkrete, umsetzungsbezogene Handlungsorientierungen zu deuten. Dennoch sind sie mehr als Verbalradikalismus. In ihnen kommt auch die Hoffnung zum Ausdruck, aus jener subalternen Rolle ausbrechen zu können, in der man in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen wird und soziale Anerkennung nicht mehr erfährt. Wieder sicht- und wahrnehmbar zu werden, eine hörbare Stimme zu haben, die eigenen Interessen wieder ins Spiel bringen zu können – auch das steht dahinter, wenn gesagt wird, es müsse mal „krachen“.

Es gibt nicht nur Protestfantasien, sondern auch Widerstand. Einige Befragten haben gelernt, sich im Betrieb mit Krisenbedingungen auseinander zu setzen. In einigen Betrieben, die unter der ständigen Drohung einer Standortverlagerung stehen, haben Belegschaften und Interessenvertretungen gelernt, der ständigen Erpressung zu widerstehen. Aus solchen Kämpfen ziehen die Beschäftigten die Erfahrung eigener Handlungsmacht:

„In dem Betrieb, wo ich beschäftigt bin, haben die Leute das Gefühl, dass wir nichts mehr mit uns machen lassen, wir nichts mehr abgeben wollen. Wir sagen, bis hierhin und nicht weiter. Es reicht! Es hat ja auch keinen Sinn mehr, was abzugeben. Weil wenn wir abgeben, geht das sowieso immer wieder in die Gewinne oder in die Renditen der Kapitalisten und Unternehmer, meinetwegen auch in die Taschen der Politiker. Also bei uns habe ich das Gefühl, dass da der Punkt gekommen ist: bis hierhin und nicht weiter.“

Die erfahrene Handlungsmacht wird jedoch immer wieder begrenzt durch die strukturellen Abhängigkeiten (z.B. des Zulieferers vom dominierenden Auftragsgeber). Es sind Abwehrkämpfe, keine offensiven Auseinandersetzungen auf der Grundlage eigener Alternativvorstellungen.

Sechster Befund: Gewerkschaften „müssen politischer
werden“

Neben den Beispielen erfolgreichen Widerstands und erfahrener Handlungsmacht wird in unserer Befragung aber auch immer wieder auf jene Bedingungen verwiesen, die grundsätzlich politische Aktivitäten erschweren. Dazu gehören neben Existenzängsten und verschlechterten Arbeitsbedingungen die Spaltungstendenzen in den Belegschaften: zwischen Stamm- und Leiharbeitern, Produktionsarbeitern und Angestellten, verschiedenen Nationen und Kulturen, etc. Nicht zuletzt darin liegen auch Barrieren für kollektive Orientierungen und solidarische Handlungsmöglichkeiten. Dies trifft auch die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Mobilisierung und Interessendurchsetzung. Während der grundsätzliche interessenpolitische Stellenwert der Gewerkschaften weitgehend unbestritten ist, wird ihre Rolle im Krisengeschehen nicht nur positiv gesehen.

Der Gewerkschaft wird zwar ein weitgehend erfolgreiches Krisenmanagement attestiert, aber ihre Aufgabe als aufklärende, deutende Institution hat sie in der aktuellen Krisensituation nicht erfüllt – auch nicht gegenüber ihren Funktionären und Mitgliedern. Sie hat zu wenig über die Krise aufgeklärt – zu wenig mit den Vertrauensleuten und Betriebsräten über die plötzlich veränderte Situation diskutiert, war in dieser Aufgabe zu wenig in den Betrieben präsent. Es fehlt an einer wahrnehmbaren eigenständigen Krisendeutung.

Politischer werden und stärker mobilisieren – das sind neben mehr Aufklärung und Deutung Anforderungen, die an die Adresse der Gewerkschaften formuliert werden:

„...die Gewerkschaft muss politischer werden. Auf jeden Fall politischer und radikaler. Damit wir wieder mehr Gewicht haben und solche Leute wie Westerwelle und Merkel auch mal die Stirn bieten können.“

Aber bei aller Kritik, der Grundtenor bleibt solidarisch:

„Die Gewerkschaften sind das Einzigste, was wir hier eigentlich noch haben. Weil mit was anderem können wir ja hier in unserem Staat gar nicht mehr rechnen. Politisch gesehen, unternehmerherrschaftlich gesehen, wir haben eigentlich nur noch die Gewerkschaften.“

Siebter Befund: „Politiker kannst du vergessen“

Staat und Politik kommen dagegen durchgängig sehr schlecht weg. Auf sie verschiebt sich die „adressatenlose Wut“. Die Politiker sind korrupt und der Staat generell machtlos – so das etwas verkürzte Fazit. Zwar wird dann doch wieder auf den Staat gesetzt, z.B. wenn es um die Regulierung der Finanzmärkte geht, aber der Grundtenor bleibt skeptisch bis resignativ. Auch für die Zukunft sieht man vor allem negative Entwicklungen: Weiterer Abbau des Sozialstaats, weitere Krisenfolgen, die vor allem vom „Fußvolk“ zu tragen sind. Die Politiker hätten sich von der Erfahrungswelt der Beschäftigten weitgehend abgekoppelt.

„Die Politiker stellen sich nicht mit dem Gesicht zu den Leuten... Das ist alles so schon korrumpiert, das Geld hat schon so die Macht. … Und solange sie das Geld haben, ändert sich da nichts. Ich sehe keine Änderungen.“

Der Befund lautet zugespitzt: Krisenbewusstsein und (politisches) Gesellschaftsbewusstsein liegen enger beieinander, als es vielleicht in früheren Zeiten der Fall war – aber in einer Weise, in der Politik nicht als möglicher Problemlöser erscheint, sondern vielmehr selbst als Teil des Problems. Das verstärkt beides: Wut und Ohnmacht.

„Es wird ja nicht mal ein kleines bisschen besser... Und ich weiß nicht, wir wählen, wählen ... die Leute haben ja immer Erwartungen an die Politik, aber da ändert sich nichts. Da ändert sich gar nichts.“

Fazit: Zwischen Ohnmacht, Wut und Hoffnung

Dafür, dass breite gesellschaftliche Auseinandersetzungen in Deutschland im Verlauf der Finanz- und Wirtschaftskrise ausgeblieben sind, gibt es Gründe. Was und wann Krise ist, ist nicht selbsterklärend, sondern muss gedeutet werden. Daran hat es gemangelt: Unsere InterviewpartnerInnen hätten sich gewünscht, dass Gewerkschaften im akuten Krisengeschehen stärker als erklärende, aufklärerische Organisation in den Betrieben präsent gewesen wären. Ohne sie fühlten sich ihre ehrenamtlichen Funktionäre allein gelassen, ohne ausreichende Handlungsmöglichkeiten angesichts betrieblicher Spaltungs- und Segmentierungsprozesse einerseits, adressatenloser Kritik am Krisenmanagement andererseits.

Gleichwohl bleibt hinter den Diagnosen einer „Krise ohne Konflikt“ verborgen, dass sich in den Betrieben ein hohes Potenzial an Angst und Wut aufgestaut hat. Dieses schafft sich eher in einem proklamierten abstrakten Willen zur Revolte denn in zielgerichtetem politischem Handeln Ausdruck. Angst und Wut können als Ausdruck von realen Ohnmachtserfahrungen gedeutet werden.

Auch die These vom „Krisenkorporatismus“ ist nach dem Gesagten zu differenzieren. In zweierlei Hinsicht: Dass die betrieblichen Krisenbewältigungsmethoden von Beschäftigten und Interessenvertretungen mitgetragen werden, beinhaltet in unseren Untersuchungsfällen keine vorbehaltlose Konsensorientierung gegenüber der Unternehmensseite. Die Befragten bleiben grundsätzlich auf kritischer Distanz. Zweitens handelt es sich nicht um eine Rückkehr zum alten „Modell Deutschland“. Die bezogen auf den Arbeitsmarkt ausgesprochen erfolgreiche Krisenbewältigung kann zwar noch auf Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik zurück greifen, basiert aber entscheidend auf einem Krisenmanagement, das durch Ultra-Flexibilisierung geprägt ist. Erst durch den gestiegenen Anteil von Leiharbeit sowie durch die hochgradig flexiblen betrieblichen Arbeitszeitregime konnte es gelingen, dass die beschäftigungspolitischen Gefahren der Krise für die Kernbelegschaften zumindest temporär entschärft wurden.

Die Formel „guter Betrieb – schlechte Gesellschaft“ trifft nur in Ausschnitten. Wenn der Betrieb integrierend wirkt, dann eher als eine „erzwungene Krisengemeinschaft“. Richtig ist allerdings: Falls überhaupt entsprechende Akteure haftbar gemacht werden und nicht der systemische Charakter der Krise in den Deutungen im Vordergrund steht, sind es die „Banker“ und „Finanzjongleure“ – und eine als von den Erfahrungen der Beschäftigten abgekoppelte „Kaste“ professioneller Politikmanager.

Die Krise trifft nicht nur auf den skeptischen Boden langer Erfahrungen einer Verschlechterung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, sondern auch auf weit reichende Prozesse einer Delegitimierung der ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse und ihrer Institutionen. Die Krise wird als Bestätigung einer über Jahre gereiften Kritik wahrgenommen.

Gegen die Systemkritik steht gerade in der Krise die Erfahrung des alltäglichen Zwangs des Systems. Das erzeugt Ohnmacht und Wut. Die geringe Konfliktintensität erklärt sich weniger daraus, dass aus Beschäftigtensicht kein Grund für Protest bestünde, sondern eher aus fehlenden Handlungsmöglichkeiten. Dem liegen aber weniger Apathie, Fatalismus oder Verdrängungen und Verschiebungen zugrunde, sondern eher eine realitätsorientierte Auseinandersetzung mit Systemerfahrungen. Die Krise stärkt die „Unmittelbarkeit von Systemerfahrung“ – und das ist durchaus ein Ausdruck von Realismus. Das Beschäftigtenbewusstsein bewegt sich im zentralen Dilemma: Wie können kritisch-realistische Handlungsstrategien entwickelt werden, die schließlich doch die Grenzen dessen sprengen, was als das Machbare erscheint?

Es bleibt die Hoffnung, den durch Systemlogik und -sachzwänge zementierten Status quo aufzubrechen, neuen Gedanken und Veränderungsphantasien Raum zu verschaffen, um Ohnmacht zu überwinden. Allerdings ist höchst unklar: Was sind die Ausgangspunkte? Wer ist der Adressat, wo liegen die Interventionspunkte und Bruchstellen?

Es gibt Hoffnungen,

- dass Protest sichtbar wird und Funken entfacht,

- dass es gemeinsame Punkte gibt, die dem Zurückweichen ein Ende machen,

- dass es irgendwann mal „gewaltig kracht“.

Diese Hoffnungen gilt es aufzugreifen in möglichst breiten, Arbeit und Leben umfassenden Initiativen („Mosaiklinke“; Urban 2009). Dabei – wir kommen noch einmal darauf zurück – geht es nicht zuletzt um Krisendeutungen und um Alternativen. Denn hier decken sich unsere Befunde mit anderen: „dass in der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit der Verfasstheit der Gesellschaft sehr groß, die Idee einer Alternative aber faktisch nicht vorhanden ist.“ Daraus wächst die Gefahr, dass Kapitalismuskritik umschlägt in „volksgemeinschaftliche Alternativen zur bestehenden Gesellschaftsordnung“ (Decker u.a. 2010: 127f.). Der Rechtspopulismus in Europa ist eine eindringliche Mahnung. Die Krisenerfahrungen zeigen aber auch, wo gewerkschaftliche und politische Alternativen ansetzen könnten.

Literatur

Bertelsmann Stiftung/Institut für Demoskopie Allensbach (2010): Einstellungen zur sozialen Marktwirtschaft in Deutschland am Jahresanfang 2010. Erkenntnisse aus repräsentativen Trendfortschreibungen. Gütersloh.

Bischoff, Joachim u.a. (2010): Die Große Krise. Finanzmarktcrash – verfestigte Unterklasse – Alltagsbewusstsein – Solidarische Ökonomie. Hamburg.

Decker, Oliver u.a.: (2010): Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010. Berlin.

Dörre, Klaus/Hähnel, Anja/Holst, Hajo/Matuschek, Ingo (2010): Guter Betrieb, schlechte Gesellschaft? Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein im Prozess kapitalistischer Landnahme, Manuskript. Jena.

Harvey, David (2011): Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Hamburg.

Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2010): Deutsche Zustände. Folge 8. Frankfurt a.M.

Held Josef/Bibouche, Seddik/Billmann, Lucie/Holbein, Melanie/Kempf, Martina/Kröll, Tobias (2001): Was bewegt junge Menschen? Lebensführung und solidarisches Handeln junger Beschäftigter im Dienstleistungsbereich. Wiesbaden.

Köcher, Renate (2009): Der Statusfatalismus der Unterschicht. In: FAZ vom 16.12.2009.

Krugman, P. (2008): Die neue Weltwirtschaftskrise. Frankfurt a.M./New York.

Lehndorff, Steffen (2010): Arbeitszeitpolitik nach der Kurzarbeit, in: Schwitzer, Helga/Ohl, Kay/Rohnert, Richard/Wagner, Hilde (Hrsg.): Zeit, dass wir das drehen! Perspektiven der Arbeitszeit- und Leistungspolitik. Hamburg, S. 39-62.

Marx, Karl (1968): Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil, MEW 26.3, Berlin.

Offe, Claus (2010): „Keine Aussicht auf eine Repolitisierung in Zeiten der Krise“, Claus Offe im Gespräch mit Gunter Hofmann und Wilhelm Heitmeyer, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände, Folge 8. Berlin, S. 283-295.

Pickshaus, Klaus/Urban, Hans-Jürgen (2011): Das Nach-Krisen-Szenario: Beschäftigungspolitische Entspannung und arbeitspolitische Problemzuspitzung?, in: Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen (Hrsg.): Gute Arbeit 2011. Handlungsfelder für Betriebe, Politik und Gewerkschaften. Frankfurt a.M.

Urban, Hans-Jürgen (2009): Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5, S. 71-78.

[1] Wir haben im Frühjahr 2010 qualitative Erhebungen in zwei gewerkschaftlichen Bildungsstätten durchgeführt, dabei fünf Gruppendiskussionen (mit 32 TeilnehmerInnen) sowie 20 leitfadengestützte Einzelinterviews mit gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und Betriebsräten aus insgesamt 16 verschiedenen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie sowie der textilen Zulieferindustrie geführt. Befragt haben wir die unterste Ebene der betrieblichen Interessenvertretung, die zwischen Beschäftigtenperspektive auf der einen und Expertenperspektive auf der anderen Seite vermittelt. Das Sample ist selbstverständlich nicht repräsentativ. Befragte aus gewerkschaftlichen Kernsektoren (Betriebe mit hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad und mit funktionierender Vertrauensleutearbeit vor allem in der Automobilindustrie) sind stärker vertreten, ebenso Männer sowie gewerblich Beschäftigte.

[2] Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer: Krise ohne Konflikt? Interessen- und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen. Hamburg 2011. Die Studie wurde finanziell unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Wolfgang-Abendroth-Stiftungsgesellschaft. Die nachfolgenden Zitate stammen aus den Interviews und Gruppendiskussionen zu dieser Studie.

[3] Wir sind weit davon entfernt, diese Argumentation hier ausführen zu können. Nach einem Vierteljahrhundert weitgehender theoretischer und empirischer Abstinenz in der Analyse von Alltagsbewusstsein muss eine Verständigung über dessen Grundlagen, Konstitutionsbedingungen und Ausprägungen erst wieder neu erfolgen.