„Irritierend hoch?!"

Verbreitung und Ambivalenz antikapitalistischer Einstellungen in Deutschland

September 2011

Bereits vor zwei Jahren – auf dem Höhepunkt der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise – brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ihre klammheimliche Freude über die mangelnde Attraktivität der Linken zum Ausdruck: „Deshalb klingen die Appelle der IG Metall, in denen grenzenlose Profitgier gegeißelt wird, nicht mehr anders als die Beiträge eines Volksbankenfunktionärs, der bei Maybrit Illner dem Gewinnstreben abschwört. Die CSU kommt inzwischen mit ihren Anti-Manager-Tiraden daher wie Attac im Trachtenanzug und gewinnt damit Popularität.“ (FAS, 5.4.2009)

Einen entsprechenden Tatbestand konstatierte Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Die Erwartung der Linken, dass die neue Kapitalismuskritik auf ihre Mühlen laufe, sei aus zwei Gründen falsch: Die linke Partei habe erstens ihr Alleinstellungsmerkmal verloren. Der Antikapitalismus, die Kritik an der Gier der Managerklasse und am destruktiven Wirken des Kapitals sei jetzt auch bei der SPD und sogar bei der Union preiswert und zumindest deklamatorisch zu haben. Zweitens verlasse sich der- oder diejenige, die Angst um seinen/ihren Arbeitsplatz habe, lieber auf die Konjunkturpakete der Regierung. Daraus schlussfolgerte Prantl: „Wenn der politische Mainstream das politische Vokabular einer kleineren Partei übernimmt, dann ist das nicht gut für jene.“ (SZ, 4.5.2009)

Kommentatoren innerhalb der Linken sehen es ähnlich. Albert Scharenberg (2009: 8) beispielsweise kritisierte mit Blick auf die Linkspartei, dass es völlig unklar sei, was deren politische Identität ausmache, wenn der Keynesianismus, und sei es nur vorübergehend, politisches Allgemeingut werde. Aus der Sicht der radikaleren Linken kritisierte Heinz Steinert, dass die Linke auf Stammtischniveau abrutsche und sich den Kopf des Kapitals zerbreche, wie mit den quasi verstaatlichten Banken eine bessere Politik zu machen sei. Dabei handele es sich um „autoritäre Größenphantasien“. Die Krise habe die Chancen für eine radikale Politik insofern nicht verbessert, sondern verschlechtert. Denn – und hier klingt bei Steinert Fatalismus an – das Beste, was die Linke tun könne, sei zu hoffen, „dass das Gesamt-Kapital-Interesse auch ein paar Interessen der Arbeitsseite mit einschließt“ (vgl. Steinert 2009).

Abgesehen von der Frage, welche Art von Kapitalismuskritik infolge der großen Krise im politischen Mainstream vorübergehend – denn mit der Entspannung der ökonomischen Situation nahm erneut ein Lob der herkömmlichen neoliberal-exportorientierten Austeritätspolitik überhand – artikuliert wurde, ist die Klage über den Verlust des Alleinstellungsmerkmals Kapitalismuskritik im politischen Feld das eine.

Das andere ist die Frage, ob und in welchem Ausmaße kapitalismuskritische Einstellungen jenseits des politischen und medialen Feldes in der breiten Bevölkerung im Gefolge der Wirtschaftskrise Ausdruck gefunden haben. Sind Phänomene wie Kapitalismuskritik und Antikapitalismus überhaupt in relevantem Ausmaß festzustellen? Haben sie seit 2008 einen sprunghaften Anstieg erfahren oder ist eine Kontinuität zu beobachten, die von den aktuellen Krisen unberührt bleibt? Und was ist unter Antikapitalismus und Kapitalismuskritik genau zu verstehen?

Inzwischen sind zwei repräsentative Studien publiziert worden, die diese Fragen behandeln. Des Weiteren lassen sich in vereinzelten Untersuchungen Hinweise finden. Davor jedoch war die Forschung zu diesem Thema recht übersichtlich. In den 1990er Jahren gab es zumindest einen Versuch, der aber nicht die Verbreitung von antikapitalistischen Auffassungen in der Bundesrepublik zum Gegenstand hatte, sondern eine „Skala zur Messung sozialistischer Vorstellungen“ entwickeln wollte (vgl. Stöss 2008a: 38).

Stöss: „Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik“

Die Untersuchung, die das Thema am ausführlichsten behandelt, ist von Richard Stöss (2008a) unter dem Titel „Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik“ vorgelegt worden. Motivation seines Forschungsvorhabens war es zu überprüfen, ob der gesteigerte Zulauf zu rechtsextremen Parteien auf einen spezifischen Antikapitalismus zurückzuführen ist. Dabei griff er auf eine Repräsentativbefragung von 4008 Personen zurück, die im Zusammenhang mit dem Projekt „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ durchgeführt wurde (vgl. Stöss/Fichter/Kreis/Zeuner 2004). In „Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik“ arbeitet er – zunächst arbeitshypothetisch – die Sozialismus-Skala weiter aus. Im Einzelnen enthält diese Skala zehn Aussagen, die sozialistische Meinungen zum Ausdruck bringen sollen: Verstaatlichung von großen Wirtschaftsunternehmen; amerikanischer Imperialismus als Gefahr für den Weltfrieden; die Verknüpfung der Demokratiefrage mit der Überwindung des Kapitalismus; faschistische Tendenzen in der BRD; Ausplünderung der Dritten Welt durch die kapitalistischen Industriestaaten; Sozialismus als gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde; die Weiterexistenz von Klassengegensätzen; mächtige Wirtschaftsinteressen als Profiteure der Globalisierung sowie die Schuld der Finanzmärkte an der weltweit wachsenden sozialen Ungleichheit.

Stöss stellt jedoch fest, dass diese Variablen kaum miteinander korrelieren. Daraus leitet er ab, dass es sich beim „Sozialismus“ – im Gegensatz zum „Rechtsextremismus“ – nicht um ein widerspruchsfreies Einstellungsmuster handelt. Aus diesem Grund schlussfolgert er, dass mit der Zustimmung zu diesen Aussagen zwar „kapitalismuskritische“, „antikapitalistische“ und „globalisierungskritische“ Denkweisen erfasst werden können – aber eben keine sozialistischen. Die Sozialismus-Skala wird somit zu einer Skala zur Messung „kapitalismuskritischer“ Meinungen. „Kapitalismuskritik“ fungiert ihm dabei als Oberbegriff, während „Antikapitalismus“ eine Gegnerschaft zum Kapitalismus und „Globalisierungskritik“ einen abgeschwächten Kritikmodus darstellt. Als „antikapitalistisch“ interpretierte Meinungen werden dabei zuvorderst mit Zustimmung zu folgenden drei Aussagen gemessen: „Die wichtigsten Wirtschaftsunternehmen müssen verstaatlicht werden“; „Wirkliche Demokratie ist erst möglich, wenn es keinen Kapitalismus mehr gibt“ und „In der Bundesrepublik bestehen noch die alten Gegensätze zwischen der besitzenden und der arbeitenden Klasse.“

Stöss kommt bei diesem Verfahren zu einem überraschenden Ergebnis: Es existiere ein erstaunlich hohes kapitalismuskritisches Einstellungspotenzial. Als „kapitalismuskritisch“ klassifiziert er 58 Prozent, als „Globalisierungskritiker“ gar 78 Prozent und als „Antikapitalisten“ immerhin 30 Prozent der Befragten (ebd.: 44). Ob diese Zuordnungen Sinn machen, wäre zu überprüfen (s.u.). Die Stöss’sche Ausgangshypothese indes, wonach die Erfolge rechtsextremistischer Parteien und Gruppierungen auf eine Herausbildung eines neuen „völkisch-nationalistischen Sozialismus“ zurückzuführen seien – der sich insbesondere aus der Schnittmenge autoritärer Persönlichkeitsmerkmale speise – wird nicht bestätigt. Zwar legt Stöss dar, dass 85 Prozent der Rechtsextremen „kapitalismuskritisch“, 91 Prozent „globalisierungskritisch“ und 54 Prozent „antikapitalistisch“ orientiert sind. Aber umgekehrt waren im Jahr 2003 „nur“ 30 Prozent der Kapitalismus- und 24 Prozent der Globalisierungskritiker sowie 38 Prozent der Antikapitalisten rechtsextrem eingestellt.

Allerdings bestätigten diese Werte eindeutig folgende Schlussfolgerung: „Kapitalismuskritik“ und „Antikapitalismus“ sind nicht per se links und emanzipatorisch. Stöss wertet dies dahingehend, dass die Indizes zur „Kapitalismuskritik“ de facto nicht mit der Links-Rechts-Skala korrelieren. „Kapitalismuskritik ist also nicht nur kein Alleinstellungsmerkmal der Linken. Mehr noch: Wer sich heute links einordnet, folgt nicht notwendigerweise kapitalismuskritischen Überlegungen, und wer sich rechts verortet, pflegt nicht unbedingt rechtsextremes Gedankengut.“ (ebd.: 52) Dementsprechend fanden sich 2003 „kapitalismuskritische“ Anhänger unter allen im Bundestag vertretenen Parteien. Die Spannbreite reichte hier von 52 Prozent bei der FDP bis zu 86 Prozent bei der PDS/Linkspartei.

Den Befund einer hohen Verbreitung von „kapitalismuskritischen“ Positionen in der Bevölkerung charakterisiert Stöss angesichts dieser auch für ihn überraschenden Ergebnisse nicht als Ausdruck politischer Orientierung, sondern als „diffuse kapitalismuskritische Protesthaltung“, die für verschiedene Unzufriedenheiten mit den ökonomischen und sozialen Verhältnissen in der Bundesrepublik stehen. Stöss hat überdies das demokratische Potenzial dieser „diffusen kapitalismuskritischen Unzufriedenheit“ untersucht. Sein Resultat: Drei Viertel der Kapitalismuskritiker bzw. Globalisierungskritiker und zwei Drittel der Antikapitalisten seien sehr stark bzw. stark demokratisch eingestellt. Sein Fazit lautet: „Kritik am bzw. Gegnerschaft zum Kapitalismus geht zumeist Hand in Hand mit der Zustimmung zur Idee der Demokratie. Die Verknüpfung mit rechtsextremen Einstellungen findet dagegen vergleichsweise selten statt.“ (ebd.: 59) Wobei „selten“ heißt, dass sich rechtsextreme „Kapitalismuskritik“ immerhin bei 17 Prozent, rechtsextreme „Globalisierungskritik“ bei 18 Prozent und rechtsextremer „Antikapitalismus“ bei 11 Prozent der Befragten fanden.

Da es, wie erwähnt, keine vergleichbaren Zahlen zu diesen Fragen gibt, kann auch die Studie „Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik“ nicht auf ältere Vergleichswerte zurückgreifen. Aber zumindest Vermutungen über die Ursachen des Zulaufs für rechtsextreme Organisationen lassen sich anstellen. Stöss sieht diese nicht in einer Ausweitung des rechtsextremen Einstellungspotenzials oder durch die Entstehung eines neuen „völkisch-nationalistisch-sozialistischen“ Einstellungsmusters bedingt, sondern vielmehr in der Tatsache, dass die Rechtsextremen wie die Bevölkerung insgesamt immer kapitalismuskritischer geworden seien (ebd.: 63). Ob diese Vermutung zutrifft, sehen wir später.

„Berlin-Brandenburg-BUS“

In einem weiteren Projekt von Richard Stöss wurde eine vergleichbare Verbreitung von kapitalismuskritischen Betrachtungsweisen festgestellt. In der Erhebung „Politische Orientierungen der Bevölkerung in der Region Berlin und Brandenburg 2000-2008“ (Stöss 2008b) bekundeten bei der jüngsten Umfrage knapp zwei Drittel der Berliner und sogar drei Viertel der Brandenburger ihre Unzufriedenheit mit dem bestehenden marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem, wobei die Faustregel gelte: Je geringer der soziale Status, desto größer die so gemessene Kapitalismuskritik.

Die „kapitalismus-“ und „globalisierungskritischen sowie „antikapitalistischen“ Einstellungen wurden hier ebenfalls mit den oben angesprochenen Statements erfasst. Konkret sprachen sich z.B. rund ein Drittel der Bevölkerung in der Region für die Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftsunternehmen aus, und über 40 Prozent waren der Meinung, dass der amerikanische Imperialismus die eigentliche Gefahr für den Weltfrieden darstelle. Stöss’ Fazit lautet: „In Berlin sind derzeit 63 Prozent der Befragten kapitalismuskritisch einge­stellt, in Brandenburg 74 Prozent. Antikapitalistische Orientierungen weisen 38 Prozent der Berliner und 52 der Brandenburger auf. Und Globalisierungskritik gehört fast schon zum normalen Einstellungsrepertoire der Bevölkerung in der Region (zwischen 75 und 85 Prozent).“ (ebd.)

Auch in der Berlin-Brandenburg-Untersuchung wurde die Verknüpfung von „Kapitalismuskritik“ und rechtsextremen Denken gemessen. Der Befund: Über „rechtsextrem-kapitalismuskritische“ Denkweisen verfügten 11 Prozent der Berliner und 22 Prozent der Brandenburger. „Das bedeutet“, so Stöss, „dass die überwiegende Mehrheit der Rechtsextremisten kapitalismuskritisch orientiert ist: In Berlin beträgt die Quote 82 Prozent, in Brandenburg sogar 89 Prozent.“ Im Unterschied zur Erhebung „Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik“ können für Berlin und Brandenburg Angaben zum Zeitverlauf gemacht werden: Der Vergleich zwischen 2003 und 2008 offenbart dabei insgesamt „keine nennenswerte Veränderungen“, was die Verbreitung von kapitalismuskritischen Anschauungen betrifft. Allerdings zeigt die Unterscheidung von Berlin und Brandenburg, dass sich die als „antikapitalistisch“ interpretierten Einstellungen in Brandenburg um 8 Prozent ausgeweitet haben, während sie in Berlin um einen Prozentpunkt zurückgegangen sind.[1] Doch liegt dieser Vergleichszeitraum vor dem offenen Ausbruch der globalen Finanzkrise im September 2008.

FES: „Die Mitte in der Krise“

War die Krise Wasser auf die Mühlen der „kapitalismuskritischen“ und „antikapitalistischen“ Haltungen? Unter dem Titel „Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ veröffentlichte die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) Ende 2010 ihre dritte „Mitte“-Studie, die auf einer Repräsentativbefragung von 2411 Befragten im Alter von 14 bis 90 Jahren beruht (FES 2010; vgl. auch Speckmann 2011). In dieser Untersuchung benutzen die Autoren die von Stöss entwickelten Fragen zu Messung von kapitalismuskritischen Meinungen. Damit ergibt sich ein Bild von der Verbreitung entsprechender Haltungen nach der Weltwirtschaftskrise.

Die Autoren der FES-Studie stellen ebenso wie Richard Stöss eine „irritierend“ hohe Zustimmung zu kapitalismus- und globalisierungskritischen, ja gar „antikapitalistischen“ Statements in der Bevölkerung fest. Diese seien so hoch, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem in Deutschland infrage gestellt werde. So sind, um nur wenige Beispiele zu nennen, 72,2 Prozent der Befragten West- und 77 Prozent der Ostdeutschen der Meinung, dass die internationalen Finanzmärkte Schuld an der weltweit wachsenden sozialen Ungleichheit sind, was von den FES-Autoren als Ausdruck einer globalisierungskritischen Haltung interpretiert wird. Dem Satz „Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“ stimmen 43,4 Prozent der Bewohner der alten und 55,6 Prozent der neuen Bundesländer zu. Insgesamt stellen die Autoren einen Anteil von 63,2 Prozent „Kapitalismuskritiker/innen“, 83,6 Prozent „Globalisierungskritiker/innen“ und von 42,6 Prozent „Antikapitalist/innen“ fest (FES 2010: 126).

Wenn wir diese Werte aus dem Jahr 2010 mit denen von Stöss (2008a) aus dem Jahr 2003 vergleichen (vgl. Tab. 1), fällt auf, dass insbesondere der Anteil der Befragten, die unter „Gegnerschaft zum Kapitalismus“ fallen, signifikant um 12,6 Prozent angestiegen ist. Aber auch die weichere Form der Zustimmung zu „kapitalismuskritischen“ Statements – die „Globalisierungskritik“ – hat eine weitere Verbreitung (plus 5,6 Prozent) gefunden. Allgemein beträgt die Zunahme der „Kapitalismuskritiker/innen“ 5,2 Prozent. Ein Vergleich mit den Ergebnissen aus der regionalen Befragung 2008 in Berlin-Brandenburg unterstützt diese Tendenz des Anstiegs der Kapitalismuskritik.

Tabelle 1: Übersicht „kapitalismuskritische Einstellungen“ 2003-2010 (Zustimmung zu entsprechenden Statements in Prozent)

Tabelle siehe pdf unter Download-Dokumente unten.

Auf vergleichbar hohe Werte kommt im Übrigen die Langzeituntersuchung „Deutsche Zustände“ (2010: 34) von Wilhelm Heitmeyer. Dort heißt es, dass es trotz der verbreiteten Personalisierung der Ursachen der Finanzkrise auch „eine erhebliche Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem“ (73,2 Prozent) gebe. Im Fokus stehe dabei das wirtschaftliche System der Vereinigten Staaten, da die Finanzkrise von hier aus ihren Ausgang genommen habe. Nach der Rolle und Funktion ‚unseres Wirtschaftssystems’ gefragt, stellt die Forschergruppe um Heitmeyer eine viel seltenere Zustimmung zu entsprechender Kritik fest. „Allerdings“, so schreiben sie, „glauben fast 60 Prozent, daß die Krise auch hierzulande systemische Ursachen hat.“ Jedoch nennen knapp über die Hälfte der Befragten auch Sozialschmarotzer als Ursache für die Wirtschaftskrise und 14,5 Prozent schieben die Schuld auf die Ausländer (ebd.: 34).

Zwei weitere Studien bieten Indizien für diesen Trend, wenngleich sie nicht auf repräsentativen Befragungen, sondern auf qualitativen Interviews, Gruppendiskussionen sowie einer Fragebogenerhebung in Betrieben beruhen. Die Untersuchung „Krise ohne Konflikt?“ (Detje u.a. 2010; vgl. auch den Beitrag in diesem Heft) wertet Interviews und Gesprächsrunden mit Vertrauensleuten und Betriebsräten aus der Metall- und Elektroindustrie aus. Unter anderem stellen die Soziologen auch hier eine immer wieder formulierte kapitalismuskritisch fundierte Systemkritik fest. Insofern sehen sie die Ergebnisse der o.a. Heitmeyer-Studie bekräftigt. Des Weiteren hat eine Forschergruppe um Klaus Dörre (2009: 574f.) bei ihrer Befragung von ostdeutschen Beschäftigten eine „subjektive Relevanz einer in die Alltagsphilosophie eingelagerten Kapitalismuskritik“ ermittelt bzw. spricht sogar von einem „alltäglichen Antikapitalismus“.

Als Zwischenfazit lässt sich Folgendes festhalten: Die von den zitierten Sozialwissenschaftlern als Indikatoren für globalisierungs- und kapitalismuskritische sowie antikapitalistische Einstellungen interpretierten Statements finden gegenwärtig in der breiten Bevölkerung mit bis zu zwei Dritteln sehr hohe Zustimmungswerte. Zum zweiten hat die weltweite Wirtschaftskrise der Jahre 2008ff. tatsächlich zu einer Zunahme solcher Ansichten geführt. Gleichwohl waren die Zustimmungswerte bereits vor der jüngsten Krise recht hoch. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass der neoliberale Abbau des Sozialstaats in Deutschland mit Agenda 2010, Hartz IV, Prekarisierung, Privatisierung von Rentensystemen etc. bereits seit geraumer Zeit in den sozialen und politischen Einstellungen der Bevölkerung Spuren hinterlassen hat.[2] Es ist mithin nicht von einem „Bruch“ infolge der großen Krise auszugehen, sondern von einer längerfristigen Entwicklung dieser Meinungen, die durch die Krise eine Trendverschärfung erfahren hat.[3] Und drittens ist das aus Sicht von kapitalismuskritischen und antikapitalistischen Linken nicht unbedingt ein Grund zur Freude, weil Antikapitalismus und Kapitalismuskritik – das zeigt schon ein Blick in die Geschichte – immer auch von rechts artikuliert werden können. Genau das – die Artikulation von rechter „Kapitalismuskritik“ – erfolgt heute von Teilen der Mainstream-Medien (vgl. die Kommentare und „Interpretationsangebote“ etwa der Bild-Zeitung zur EU- und Verschuldungskrise) wie von neofaschistischen Organisationen, und dies korrespondiert mit entsprechenden Einstellungen in relevanten Teilen der deutschen Bevölkerung.

Völkischer Antikapitalismus?

Diesen Aspekt wollen wir uns anhand der FES-Studie näher ansehen; einerseits, weil sie diesem Aspekt besonderes Augenmerk schenkt und andererseits, da sie zu einer pessimistischeren Einschätzung kommt als die Untersuchung „Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik“ von Richard Stöss. Wie erwähnt beziehen sich die Autoren von „Die Mitte in der Krise“ auf die bei Stöss formulierten Statements, machen indessen auf eine begriffliche Schwierigkeit aufmerksam: „Die von ihm in den Items formulierten Aussagen können zwar als kapitalismuskritisch, aber im Anklang einer völkischen Wirtschaftsordnung verstanden werden. Dabei würde die Idee einer Volksgemeinschaft mitschwingen und nicht, wie Kapitalismuskritik im Alltagssinn gebraucht werde, eine Opposition gegenüber dem Wirtschaftssystem aufgrund radikaler Egalitätsvorstellungen.“ (FES 2010: 125) Diesen Aspekt hatte zwar Stöss im Grunde genommen schon berücksichtigt, allerdings ebenso festgestellt, dass Kapitalismuskritik überwiegend Hand in Hand mit der Zustimmung zur Idee der Demokratie gehe. In der FES-Studie rückt dieses emanzipatorische Potenzial von Kapitalismuskritik und Antikapitalismus gänzlich in den Hintergrund. Im Gegenteil: Vieles deute darauf hin, dass der Kapitalismus „von rechts infrage gestellt“ wird, dass wir es mit einem „volksgemeinschaftlichen Antikapitalismus“ zu tun haben (ebd.: 128). Um den Zusammenhang von Rechtsextremismus, Kapitalismuskritik und Globalisierungsgegnerschaft abzubilden, wurde eine sogenannte Produkt-Moment-Korrelationen angewandt. Demnach gebe es eine hohe Korrelation, lediglich die Dimension Antiamerikanismus korreliere wenig mit (extrem) rechten Einstellungen. Die Autoren schlussfolgern, dass sowohl die zunehmende Beurteilung von „Fremden“ nach Nützlichkeitskriterien, aber auch die Diskreditierung von angeblich „Arbeitsscheuen“ für die Vermutung einer völkischen Alternative als Referenz hinter diesem „Antikapitalismus“ spreche (ebd.: 129). Darüber hinaus ermitteln sie einen engen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und antikapitalistischen Stimmungen. Die Verfasser beobachten eine Verdichtung antidemokratischer Anschauungen in der Kapitalismuskritik, die auch deutlich von antisemitischen Ressentiments getragen werde. Es scheint, so ihre Befürchtung, „als würde gegenwärtig das Bild zwischen einem guten, ‚schaffenden’ Kapital mit nationalen Wurzeln und einem schlechten, ‚raffenden’ Kapital internationaler Finanzmärkte wiederbelebt. Die in der Alltagskommunikation bemühten Bilder, etwa von ‚Heuschrecken’, ‚Raubtierkapitalismus’ und anderem, sprechen dafür.“ (Ebd.: 148)[4]

Wie sind diese Ergebnisse einzuschätzen? Werfen wir einen kritischen Blick auf die von Stöss und den Autoren der FES-Studie angeführten Statements, mit denen sie die Verbreitung von antikapitalistischen, völkisch konnotierten, Einstellungen gemessen haben.

Zur ersten Aussage „Die wichtigsten Wirtschaftsunternehmen müssen verstaatlicht werden“: Dieses Statement kann auch für die Unterstützung einer gemischten Wirtschaft oder für Staatskapitalismus stehen. Spezifisch „antikapitalistisch“ ist sie nicht. Dass sie so interpretiert wird, ist mit einem verkürzten Verständnis von Kapitalismuskritik zu erklären, das ausschließlich auf den Aspekt Eigentum an den Produktionsmitteln abzielt und Verstaatlichung mit sozialistischer Vergesellschaftung identifiziert.

Das zweite Statement besagt: „Wirkliche Demokratie ist erst möglich, wenn es keinen Kapitalismus mehr gibt.“ Diese Aussage kann tatsächlich eine – emanzipatorische – antikapitalistische Einstellung nahelegen. Die Frage ist, welche Assoziationen der Begriff „Kapitalismus“ bei der überwiegenden Mehrheit der Befragten auslöst. Wenn, wie die Autoren der FES-Studie argumentieren, mit dem Sozial- und Wirtschaftssystem der Bundesrepublik nicht „Kapitalismus“, sondern die „soziale Marktwirtschaft“ verknüpft wird, könnte dieses Statement auch dahin gehend verstanden werden, dass der von stattengehende Abbau sozialstaatlicher Elemente und die Durchsetzung eines sich aus dem (US-amerikanischen) Ausland ausbreitenden Kapitalismus als Hindernis für die Demokratie empfunden wird. Damit könnte auch eine rechte und potenziell völkische Interpretation dieses Items verbunden sein. Angesichts des erwähnten Ergebnisses der Heitmeyer-Studie, wonach 60 Prozent der Ansicht sind, die Krise habe auch hierzulande systemische Ursachen, scheint allerdings in der Normalbevölkerung die Unterscheidung von sozialer Marktwirtschaft und Kapitalismus im Schwinden begriffen zu sein.[5]

Das dritte Statement lautet: „In der Bundesrepublik bestehen noch die alten Gegensätze zwischen der besitzenden und der arbeitenden Klasse.“ Nur wenn man die Anerkennung der Existenz von Klassengegensätzen mit der Verurteilung und dem Wunsch nach Überwindung dieses Klassenantagonismus gleichsetzt, kann die Zustimmung zu diesem Item Indiz für eine „antikapitalistische“ Bekundung interpretiert werden. Das liegt indes nicht ohne Weiteres auf der Hand. Genauso gut kann diese Aussage eine resignative Anerkennung bestehender Verhältnisse oder aber eine sozialdemokratische Gesinnung zum Ausdruck bringen, die zum Ziel hat, existierende Klassengegensätze abzumildern. Andererseits kann die Bejahung der Aussage aber auch – da ist der Einwand der FES-Studie berechtigt – durch eine Sehnsucht nach einer klassenübergreifenden „Volks“gemeinschaft motiviert sein.

Das heißt: Die vermeintlich hohen antikapitalistischen Einstellungen basieren auf Statements, die in der Tat einerseits eine sowohl rechte als auch linke Infragestellung des Kapitalismus nahelegen können – dies aber nicht zwangsläufig müssen. Andererseits kann die Zustimmung zu einer Aussage wie dargelegt auch auf eine sozialdemokratische Gesinnung hinweisen. Eindeutig ist die Zunahme einer kritischen Sicht auf das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik. Ob dabei Verallgemeinerungen wie „Antikapitalismus“ oder „völkische Infragestellung des Wirtschaftssystems“ gerechtfertigt sind, ist dagegen zweifelhaft, wenngleich mehr dafür spricht, dass die „Systemfrage“ von rechts gestellt wird. Darauf deuten die weitverbreiteten ausländer-, islamfeindlichen, rassistischen, sozialdarwinistischen und generell schwache Gruppen abwertenden Meinungen in der deutschen Bevölkerung hin, deren Verbreitungen ebenfalls in den FES- sowie den Heitmeyer-Studien im Detail dargelegt werden. Notwendig wären Erhebungen mit einem verfeinerten Befragungsschema, welche auch die Komponenten einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik oder Gegnerschaft zum Kapitalismus (in seinen spezifischen Ausprägungen) zu ermitteln versucht.

Besser charakterisiert scheint mir der Befund der FES-Studie in Anlehnung an Stöss mit einer diffusen nationalistisch[6] eingefärbten Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen ökonomischen und sozialen Verhältnissen in Zeiten eines neoliberalen Finanzmarktkapitalismus zu sein. Diffus deshalb, weil zwar zum einen „Kapitalismuskritik“ welcher Art auch immer artikuliert wird, andererseits sich die neoliberale Ideologie und Praxis aber in den Habitus eingeschrieben hat und vor allem eine Vorstellung von einer Alternative zu den gegenwärtigen sozialen und ökonomischen Verhältnissen fehlt. Zudem ahnen die subalternen- und Mittelklassen in Deutschland, dass die dem globalisierten Kapitalismus eingeschriebene „imperiale Lebensweise“ (Brand 2011: 79f.) durch Ressourcenflüsse von Süd nach Nord ihre Lebenssituation materiell absichert.[7]

Herausforderung: marxistische Kapitalismuskritik

Die Aufgaben für eine marxistische orientierte Linke werden durch diese Befunde nicht leichter. Für sie gilt es, an das von Stöss festgestellte demokratisch-emanzipatorische Potenzial der kapitalismuskritischen Einstellungen anzuknüpfen und sie in eine emanzipatorische Kritik der kapitalistischen Produktionsweise zu transformieren. Vor allem aber geht es darum, dass ihre Kapitalismuskritik einer personalisierenden, antiamerikanischen, nationalistischen – und damit potenziell antisemitisch konnotierten – Interpretation vorbeugt.[8] Die besondere Herausforderung für die Linke besteht dabei in der Dialektik von der Kritik des Kapitalismus in seinem idealen Durchschnitt und Kritik seiner spezifischen, aktuellen – finanzmarktgetriebenen – Ausprägung. Die Kritik des Finanzmarktkapitalismus ist zweifellos notwendig und wichtig, da sich in ih eine Verschiebung des Verhältnisses von Finanzkapital und Produktivkapital ausdrückt, die den heutigen Krisen im Kapitalismus ihren Stempel aufdrückt. Die Verschuldungs- und EU-Krise ist nur ein weiteres Beispiel nach der kaum überwundenen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff. Allein: Eine in dieser Hinsicht reduzierte Kapitalismuskritik, die eben nicht die relative Verselbständigung der Finanzmärkte an eine veränderte Struktur der politischen Ökonomie (Überakkumulation, Deregulierung etc.) der führenden kapitalistischen Länder zurückbindet, läuft genau in diese Falle. Freilich: Die Dialektik des Antikapitalismus stellt sich somit noch vertrackter dar. Wolfgang F. Haug schrieb dazu: „Antikapitalistische Handlungsfähigkeit entscheidet sich an den politischen Vermittlungen, den Übergangslosungen und den weitertreibenden Forderungen. Als solche eingesetzt, können reformistische Ziele wie das Grundeinkommen oder kann die Konzentration der Kritik auf den Neoliberalismus dazu beitragen, den Bann des Bestehenden zu brechen. Entscheidend ist die Fähigkeit zur bestimmten Negation, die weiß, worauf sie hinaus will, an welchen Elementen des Neuen sie ansetzt und mit wem sie sich dabei verbündet. Wenn es nicht zur ‘Liquidation statt der Aufhebung, der formalen anstatt der bestimmten Negation’ kommen soll (Dialektik der Aufklärung, 231 [Horkheimer/Adorno 2003]), muss ich nicht nur den terminus a quo, das Wogegen, vor Augen haben, sondern auch den terminus ad quem, das Wofür und Woraufhin der Kritik. Die wichtigste Vermittlung, immer wieder konkret anzustrengen, ist die zwischen Nah- und Fernziel.“ (Haug 2009: 32)

Ein solcher Antikapitalismus würde einer Linken zweifelsohne ein Alleinstellungsmerkmal sichern – allein die Schwierigkeit besteht darin, wie diese abstrakte Kritik in das politische Feld zu vermitteln ist.

Literatur

Bischoff, Joachim u.a. (2010): Die Große Krise. Finanzmarktcrash verfestigte Unterklasse – Alltagsbewusstsein – Solidarische Ökonomie, Hamburg.

Brand, Ulrich (2011): Staatseuphorie ohne Strategie. Zur Lage der Linken im Postneoliberalismus, in: ders.: Post-Neoliberalismus? Aktuelle Konflikte, Gegen-hegemoniale Strategien, Hamburg, S. 73-82.

Detje, Richard u.a. (2010): Krise ohne Konflikt? Interessen- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht von Betroffenen, Hamburg.

Deutsche Zustände (2010): Folge 8, hrsgg. von Wilhelm Heitmeyer, Berlin.

Dörre, Klaus/Behr, Michael/Eversberg, Dennis/Schierhorn, Karen (2009): Krise ohne Krisenbewusstsein? Zur subjektiven Dimension kapitalistischer Landnahmen, in: Prokla 157. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 39. Jg., Nr. 4, S. 559-576.

Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) (2010): Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010: www.fes-gegen-rechtsextremismus.de.

Haug, Wolfgang Fritz (2007): Zur Dialektik des Antikapitalismus, in: Das Argument 269, 49. Jg. Heft 1, S. 11-34.

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M., zit. n. Bd. 3 von Adornos Gesammelten Schriften.

Knappertsbusch, Felix/Kelle, Udo (2010): „Mutterland des nomadisierenden Finanzkapitals“ – Zum Verhältnis von Antiamerikanismus und Antisemitismus vor dem Hintergrund der Finanzkrise, in: Deutsche Zustände, a.a.O., S. 144-163.

Scharenberg, Albert (2009): Die Lähmung der Linken, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4, S. 5-9.

Speckmann, Guido (2011): Politische Deprivation und rechter Antikapitalismus. Zur neuen „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in: Sozialismus, Heft 2, S. 22-27.

Steinert, Heinz (2009): Die Chancen der Krise: www.links-netz.de

Stöss, Richard (2008a): Rechtsextremismus und Kapitalismuskritik (=Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Nr. 9): www.fes.de/rechtsextremismus/pdf/Stoess-Kapitalismuskritik.pdf

Stöss, Richard (2008b): Berlin-Brandenburg-BUS 2008. Politische Orientierungen der Bevölkerung in der Region Berlin und Brandenburg 2000-2008: www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/daten/osz.html

Stöss, Richard/Michael Fichter/Joachim Kreis/Bodo Zeuner (2004): Projekt Gewerkschaften und Rechtsextremismus. Abschlussbericht, Berlin: Freie Universität Berlin, www.polwiss.fu-berlin.de/projekte/gewrex/gewrex_anfang.htm.

[1] Der Berlin-Brandeburg-BUS 2008 hat neben der „Kapitalismuskritik“ den Rechtsextremismus und „rechtsextreme Kapitalismuskritik“ zum Thema. Auf diese Ergebnisse sei an dieser Stelle nur kurz verwiesen: Extrem rechtes Denken ist demnach in den letzten zehn Jahren angewachsen, wobei die Tendenz seit 2004 – auf hohem Niveau – rückläufig ist. Brandenburg weist, wie bei den anderen Untersuchungsgegenständen auch, hier deutlich höher Werte auf als Berlin. Am häufigsten neigt dabei die DDR-Generation in Brandenburg zu rechtsextremen Einstellungen, gefolgt von der gesamtdeutschen Generation und der BRD-Generation. Diese Rangfolge gilt im Übrigen auch für „Kapitalismuskritik“ und „rechtsextreme Kapitalismuskritik“.

[2] So auch Dörre u.a. (2009: 574f.), die die subjektive Legitimationsressource der finanzkapitalistischen Landnahme schon vor dem Ausbruch der Krise in relevanten Teilen der Bevölkerung aufgezehrt sahen.

[3] Auch Bischoff u.a. (2010: 117) kommen in ihrer Auswertung von diversen Umfragen zu einer vergleichbaren Einschätzung: „Die Erwartung, der Krisenprozess seit 2008 hätte schlagartig zu einer Veränderung der Lebenseinstellung großer Teile der Bevölkerung führen müssen, ist irreal.“ Sie argumentieren, „dass die diagnostizierte Legitimationskrise des Kapitalismus und der ihn repräsentierenden ökonomischen und politischen Eliten in einem Land, das einmal zu den Hochburgen des sozial regulierten Kapitalismus mit der ‘sozialen Marktwirtschaft’ als Leitbild zählte; eine Legitimationskrise jedoch, die sich in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten entwickelt hat und durch die sozio-ökonomische Entwicklung immer wieder aktualisiert worden ist.“

[4] Der Frage zum Verhältnis von Antiamerikanismus und Antisemitismus vor dem Hintergrund der Finanzkrise widmet sich auch ein Beitrag in Folge 8 von „Deutsche Zustände“. Vgl. Knappertsbusch/Kelle (2010: 144-163)

[5] Bereits 2006 stellte die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, fest: „Noch Ende der neunziger Jahre überwog die Einschätzung, dass die deutsche Wirtschaftsordnung Marktkräfte und soziale Belange erfolgreich miteinander verbindet. Heute bestreitet die überwältigende Mehrheit, dass Deutschland eine Soziale Marktwirtschaft hat; nur noch 24% sind davon überzeugt, während 62% den Eindruck haben, dass die soziale Ausrichtung aufgegeben wurde oder nie existierte.“ (zit. n. Bischoff u.a. 2010: 117)

[6] Den Aspekt des Nationalismus sowie das Potenzial des Rechtspopulismus – gerade unter Anhängern der Linkspartei – behandelt auch eine von der Wochenzeitung „der Freitag“ im Frühjahr 2011 in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage. Demnach würden wesentlich mehr als die bislang 20 Prozent der Deutschen nationalistischen Positionen zuneigen. Vgl. Jakob Augstein, Die Wahrheit muss erlaubt sein: www.freitag.de/datenbank­/freitag/2011/19/unangenehme; sowie Axel Brüggemann, Deutschland über alles: www.freitag.de/wochenthema/1119-volkes-dunkler-wille. Auch eine Allensbach-Umfrage stellte jüngst Hinweise auf „Eine Renationalisierung des Denkens“ fest (vgl. FAZ, 20.7.2011).

[7] Auch die von Bischoff u.a. (2010: 117) diagnostizierte „Legitimationskrise des Kapitalismus“ sowie der „alltägliche Antikapitalismus“ von Dörre (2009: 574f.) ist m.E. eine etwas vorschnelle Verallgemeinerung bzw. eine Verwischung des Unterschiedes von Kritik an spezifischen Ausprägungen z.B. des Finanzmarktkapitalismus und einer Gegnerschaft zur kapitalistischen Produktionsweise an sich. Es scheint, dass kritische Sozialwissenschaftler dazu neigen, ihre Hoffnung auf antikapitalistische Subjektivitäten und Bewegungen auf ihren Forschungsgegenstand zu projizieren. Hintergrund dessen ist die immer noch fest verankerte überwiegend potenziell emanzipatorische und sozialistische Besetzung von Antikapitalismus.

[8] Bei Detje u.a. (2010: 141) gibt es einen Hinweis, dass die konstatierte Kapitalismuskritik nicht personalisiert vorgetragen wird, sondern systemisch. Das habe einerseits, so ihre Kommentierung, den Vorteil, dass Personalisierungen vermieden würden, andererseits mache sich ein Gefühl der Handlungsunfähigkeit breit, weil das System schlicht als übermächtig erfahren werde.

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