Buchbesprechungen

Gemeinwohl als anarchistisches Heil

von Detlef Kannapin zu Michael Hardt/Antonio Negri
Juni 2011

Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums, aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Campus Verlag, Frankfurt/Main-New York 2010, 440 S., 34,80 Euro

Eine entscheidende Stelle in „Common Wealth“ lautet: „Mit dem Kapital stimmt etwas nicht – und die traditionellen Behandlungsmethoden sind nicht in der Lage, seine Krankheiten zu heilen. Weder die private, neoliberale Medizin (ob unter unilateraler oder multilateraler Aufsicht) noch öffentliche, staatszentrierte Arzneien (ob keynesianischer oder sozialistischer Natur) haben irgendeine positive Wirkung, im Gegenteil, sie machen die Sache nur noch schlimmer. Wir sollten deshalb alles daran setzen, eine neue Heilmethode zu finden, auch wenn wir uns sehr wohl bewusst sind, dass eine ernsthafte und aggressive Behandlung den Tod des Patienten bedeuten könnte. Vielleicht ist Sterbehilfe am Ende das humanste Verfahren; aber bevor er sich geschlagen gibt, sollte ein gewissenhafter Arzt alles unternommen haben, um eine korrekte Diagnose zu stellen und eine erfolgreiche Behandlung zu finden.“ (306)

Die zeitgemäßen Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus heißen also Michael Hardt und Antonio Negri. Nach ihrer Offenbarung, was sie eigentlich wollen, kommt es nun darauf an, ob die Diagnosen, die sie aufstellen, wirklich korrekt sind.

Hatten die Autoren in dem Buch „Empire“ (2000, deutsch 2002) versucht, die Brüchigkeit der spätimperialistischen Weltordnung nachzuweisen, die faktisch von allein dem Untergang geweiht wäre, legten sie 2004 mit „Multitude“ eine Analyse der von ihnen apostrophierten Gegenkraft vor, die als Menge, Vielheit oder Subjektivitätskollektiv bereits durch ihre bloße Existenz das kapitalistische Weltsystem zum Einsturz zwingen würde. Der Widerspruch in sich war augenfällig. Hardt/Negri liefern nun mit „Common Wealth. Das Ende des Eigentums“ einen Extrakt ihrer Vorgängerarbeiten ab, der, gemessen am Anspruch der eigenen theoretischen Anstrengung und den Tatsachen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, keine neuen Erkenntnisse zutage fördert. Sie zentrieren ihr Modell lediglich stärker um den Begriff des „Gemeinsamen“ und erklären die Seiten 191 bis 390 (bis zum Schluss des Buches) zur Suchanleitung für die adäquate politische Organisationsform ihres Subjektivitätskollektivs. Eine befriedigende Antwort bleiben sie schuldig und müssen sie schuldig bleiben, weil das ganze Konzept ihrer Theorie auf Sand gebaut ist.

Zusammengefasst lässt sich das Modell von Hardt und Negri wie folgt erklären: Das „Empire“ ist eine hybride kapitalistische Weltgesellschaft, die von verschiedenen horizontal strukturierten Netzwerken der Macht regiert wird. Zwar ist die Profitmaximierung weiterhin das Grundprinzip der kapitalistischen Ökonomie. Der Gewinn wird aber nur noch zum Teil aus unbezahlter Mehrarbeit bestritten, sondern zunehmend durch die Aneignung wirtschaftlich externer Faktoren erreicht, die aus Lebensformen, subjektiven Fertigkeiten, Standortvorteilen, Markentiteln oder psychologischen Komponenten bestehen. Ökonomischer Wendepunkt ist für die Autoren die Tendenz zur Hegemonie „immaterieller Arbeit“, womit die Produktion von Ideen, Bildern, Codes, Affekten usw. wichtiger wird als die Herstellung von Verarbeitungs- und Gebrauchsgütern in einem herkömmlichen industriellen Sinne. Das ist auch der Grund dafür, warum sich die Produktion von Subjektivität rasant entwickelt, die sich daraufhin der Aufsicht und Kontrolle durch das Kapital mehr und mehr zu entziehen in der Lage ist.

Der so identifizierte Kontrollverlust des Kapitals ist die Geburtsstunde der „Menge“, die dem „Empire“ diametral entgegensteht. Ihre Hauptwaffen sind Singularität, Vielschichtigkeit, Armut und Liebe, was sie zu einer elementaren Drohkulisse für die kapitalistische Weltordnung macht. Die Einzelheiten der „Multitude“ sind nicht mehr zusammenführbar und unter den Befehl des Kapitals zu stellen; ihre Vielschichtigkeit verhindert Interessen- und Identitätspolitik; Armut ist kein Pech, sondern (notgedrungene) Entfaltung von Kreativität abseits der Kapitalverwertung; und eine ernstgemeinte, allumfassende Liebe zerstört über kurz oder lang ihre verstümmelten Vorformen, besonders in Bezug auf Familie, Privateigentum und Staat. Letztlich ist das „Gemeinsame“ die Bewusstwerdung der Autonomie „biopolitischer Produktion“, von der man zwar nicht weiß, wann sie sich endgültig von kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft loslöst (311) – aber immerhin.

So weit, so falsch. Denn: Die Repräsentanten der kapitalistischen Weltordnung haben zwar erhebliche Schwierigkeiten, das auf der Aneignung unbezahlter Mehrarbeit und kostenloser Ressourcenausbeutung basierende System aufrechtzuerhalten, aber es funktioniert so lange weiter, wie sich immer neue Akkumulationsmodi anhand des alten Wirtschaftsprinzips generieren lassen. Politisch wird der Kapitalismus durch eine spätimperialistische Interessensaufteilung und allgemeine Aufrechterhaltung der Ordnung charakterisiert, in der alle Formen politischer Herrschaft angewendet werden, um eine kollektive Abkehr vom Verwertungszusammenhang zu verhindern. So genannte „immaterielle Arbeit“ ist weit davon entfernt, hegemonial zu sein, denn die gesamte Wissens- und Dienstleistungsproduktion ist der Güterproduktion nachgeordnet, und was im Minisegment prekärer intellektueller Arbeit auf einigen Wohlstandsinseln des entwickelten Kapitalismus durch die Metropolenbrille prägend erscheint, sieht im Rest der Welt mit ihrer massiven Proletarisierung der Arbeitskraft völlig anders aus.

Zur „Menge“: Sie ist wohl da. Das ist aber auch das einzig Positive, was man von ihr sagen kann. Die Vereinzelung der Individuen ist natürlich nicht in der Lage, als Kollektivsubjekt auf den Plan zu treten – es sei denn, es wird bewusst versucht, das Verhängnis der Einzelheiten und subjektiven Gleichberechtigung jeglicher Meinungsbildung in ein Objektivitätskriterium umzudeuten. Offenbar ist das die Absicht von Hardt und Negri, womit gleichzeitig jede Form politischer Organisationsfähigkeit von vornherein torpediert wird. Vielschichtigkeit führt bei unabhängiger Zulassung zu absoluter Kleinteiligkeit der politischen Willensbildung, ruft unüberbrückbare Interessenkonflikte hervor und endet schließlich in der Kompromissbildung des kleinsten gemeinsamen Nenners, der in Anbetracht kapitalistischer Übermacht ohne Aussicht auf irgendeinen abgerungenen Erfolg bleiben muss. Armut und Liebe gehen, das allerdings nur nebenbei, mit einer kommunistischen Perspektive überhaupt nicht zusammen, sondern stammen aus dem Waffenlager der utopischen Literatur vor Marx, was ihnen außerdem eine kaum zu verleugnende christologische Dimension verleiht, die der Sache nicht dienlich ist.

Die Sache selbst: In Zeiten, in denen die Herrschaft auf tönernen Füßen steht, ist es üblich, die Sehnsucht der Geknechteten nach einem besseren Leben durch leere Versprechungen zu paralysieren. Der Hauptweg dafür ist die Religion, in ihrer heutigen verwissenschaftlichten Variante als Neurotheologie. Wo dieser Weg nicht beschritten werden kann – sei es, weil das Publikum unbotmäßig an Prämissen der Aufklärung festhält, sei es, weil die Zielgruppen der Bekehrung durch ihre erweiterte Schulbildung in Grundkursen des dialektischen Materialismus (noch) ein gesundes Misstrauen aufweisen -, ist es erforderlich, die Magistrale der Emanzipation abzuschneiden und umzulenken, dabei jedoch vorzugeben, das eigentliche Ziel viel konsequenter im Auge zu behalten als alle anderen. Dieser Methode bedienen sich Hardt und Negri mit viel verbalem Marx, deutlich angewandtem Foucault und einer detailgenauen wie vollständigen Aufbereitung sämtlicher sozialwissenschaftlicher Literatur, die dem eigenen Ansatz zu folgen geneigt ist. Bezeichnend wirkt einerseits die Zurückweisung Hegels und der Dialektik insgesamt und andererseits die schlecht kaschierte Aushebelung der einzigen Instanz, die sowohl für die generelle politische Artikulation der Emanzipation als auch für die Systemtransformation überhaupt infrage kommt: die des Staates.

Stattdessen wird das anarchistische Heil in der Behauptung verankert, nur alles abseits vom Staat vermöge der „Menge“ zu ihrem Recht zu verhelfen. Das heißt dann erstens so: „Die Multitude der produzierenden Subjektivitäten muss heute unabhängig von jeder privaten/kapitalistischen oder öffentlichen/staatlichen Autorität sein, um das Gemeinsame zu produzieren und zu entwickeln.“ (311) Und zweitens: „Die Elemente, die das kapitalistische Kommando aus dem Gleichgewicht bringen, sind Insubordination, Sabotage, industrielle Jacquerie, Forderungen nach einem Grundeinkommen, die Befreiung und Organisation der intellektuellen Arbeit der Multitude und so weiter.“ (327/328)[1] (Übersetzung: Die Elemente, die den Kapitalismus erschüttern, sind Ungehorsam, Zerstörung, spontane Aufstände und Unruhen, Geldforderungen sowie die Befreiung des Geistes aus den Zwängen der gesellschaftlichen Reproduktion. Das „und so weiter“ verrät, zumal es im Buch oft vorkommt, eine mögliche Endloskette weitergehender Wünsche und Begehren.) Drittens schließlich: „Um der Revolution einen Weg zu eröffnen, muss der Aufstand von Dauer sein und zu einem institutionellen Prozess verstetigt werden. Eine solche institutionelle Auffassung von Insurrektion sollte man natürlich nicht mit dem coup d’état verwechseln, der lediglich die bestehenden staatlichen Institutionen durch vergleichbare homologe Institutionen ersetzt. Wie wir gezeigt haben, hat die Multitude kein Interesse daran, die Kontrolle über die Staatsapparate zu übernehmen, nicht einmal um sie auf andere Zwecke auszurichten – oder genauer: sie legt allenfalls Hand an die Staatsapparate, um sie zu zerlegen.“ (361/362 – Hervorhebung von Hardt/Negri – D.K.) Mit anderen Worten: Das Subjektivitätskollektiv der Zukunft wird auch generös die Verwendung der Lokomotiven, Automobile, Computer, Sportgeräte und Wissensbestände des 18. bis 20. Jahrhunderts ablehnen, weil sie durch die technologische und kognitive Revolution des Kapitals erzeugt worden sind. Besonders interessant ist die Verknüpfung von Staatsstreich und Staatsapparaten. Vor dem ersteren muss das Kapital keine Angst haben und braucht gerade deshalb eine Zerlegung der Staatsapparate auch nicht zu fürchten. Damit kann der Kapitalismus gut leben und ruhig schlafen wie eine junge Katze.

Die wirkliche politische Gefährdung des kapitalistischen Staates und damit des Systems selbst ist aber eben die Übernahme und Neuverwendung seiner Apparate für die Entwicklung der menschlichen Fortschrittsperspektive durch die beherrschten Klassen. Da das der Staat des Kapitals nur zu gut weiß, reagiert er auf alle Angriffe gegen die eigenen Grundfesten überaus gereizt. Es ist das beste Zeichen für die Zielsicherheit einer herrschaftsbedrohenden Attacke, wenn der kapitalistische Staat sich in seinem Herzen getroffen fühlt und mit allem, was er repressiv und ideologisch aufzubieten hat, zurückschlägt. Dies tut er nicht, solange er sich sicher ist, dass der widerständige Furor nicht ihn als solchen zur Disposition stellt, um die Arsenale der Apparate für die Aufhebung der antagonistischen Klassenwidersprüche zu verwenden. Aller Machtwillen außerhalb der Staatsfunktionalität läuft ins Leere.

Dass man im Zusammenhang mit politischer Organisation in der Auseinandersetzung um die Verbesserung der Gesellschaft zwangsläufig auf Lenin kommen muss, realisieren auch Hardt und Negri. Ihre Behandlung des Gegenstandes verläuft indes so, dass sie die unterschiedlichen Klassencharaktere, die der Staat im Kapitalismus und im Übergang zum Kommunismus besitzt, negieren und der diktatorischen Form der Staatsaneignung eine legitime Rechtsposition absprechen, „weil die Gesellschaftsstrukturen der Diktatur die Einübung in Demokratie nicht befördern, die nötig ist, um die Multitude entstehen zu lassen.“ (369 – Nebenbemerkung: Ist die „Multitude“ nun vorhanden oder entsteht sie erst?) Hingegen zeigt die Geschichte des Staatssozialismus neben vielem Kritikwürdigen zumindest, dass der revolutionäre Übergang die unvermeidliche diktatorische Karenzzeit überwinden und durchaus eine formierte Gesellschaft mit Vernunftanspruch und Mündigkeit auf der Ebene der staatlichen und sozialen Beziehungen hervorbringen kann. Was natürlich nicht heißt, das komplexe Problem diktatorischer Übergänge gering zu schätzen, im Gegenteil: Die Hauptfrage der Emanzipation besteht gegenwärtig darin, darüber nachzudenken und praktische Lehren aus der Geschichte zu ziehen, wie die Abschaffung des Kapitalismus mit möglichst geringen Schäden an Leib und Leben zu vollziehen ist.

Hardt/Negri verfehlen jedenfalls mit ihrer hygienischen Sozialtherapie an den Krankheitsherden des Kapitals den Kristallisationspunkt notwendiger Veränderung, indem sie mit verwirrenden Nebelwolken auf politischer und organisatorischer Ebene eine Selbstbewegung vortäuschen, die weder Weltgeist noch Klassenkampf noch Parteinahme jemals gehört zu haben scheint. In organisatorischer Hinsicht ist, wie Lenin gesagt hätte, die Abwendung von Parteilichkeit und die Hinwendung zur „Menge“ der gleiche Rückschritt wie in politischer das Ansinnen, die notwendige Überzeugungsarbeit durch Terror zu ersetzen.[2] Was das ganze Gerede von „Empire“, „Multitude“, „immaterieller Arbeit“, Produktion von Subjektivität und derlei mehr so verhängnisvoll werden lässt, ist der Fakt, dass wirksame politische Mittel mit geistiger und praktischer Relevanz längst gefunden sind und es jetzt darauf ankommt, sie den Bedingungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Die Neuerfindung des Rades, das zudem keiner Fortbewegung dient, hilft nicht, sondern hemmt.

Der Untertitel der deutschen Übersetzung „Das Ende des Eigentums“ ist übrigens irreführend. Die Eigentumsfrage wird in dem Buch nicht erörtert.

Detlef Kannapin

[1] Als „Jacquerien“ bezeichnen Hardt/Negri alle Rebellionen, die auf Empörung beruhen, von den wütenden Bauernaufständen des 16./17. bis zu den spontanen Arbeiterrevolten des 19./20. Jahrhunderts. Hier spielen auch die „banlieusards“ der Pariser Vororte eine Rolle (vgl. S. 248-261). Es muss befremden, dass das anarchosyndikalistische Pamphlet des Unsichtbaren Komitees: Der kommende Aufstand (2007), Hamburg 2010, obwohl es glänzend passen würde, hier keine Berücksichtigung gefunden hat.

[2] Vgl. Wladimir I. Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung (1902), in: Ders.: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Band I, Moskau 1946, S. 175-324, hier S. 274.