Buchbesprechungen

Ein Bremer Linksradikaler

von Ingo Materna zu Gerhard Engel
Juni 2011

Gerhard Engel, Johann Knief – ein unvollendetes Leben (Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus Band XV, hrsg. von Klaus Kinner), Karl Dietz Verlag, Berlin 2011, 457 S., Abb., 29,90 Euro

Bereits 1967 wurde Gerhard Engel mit seiner Dissertation über „Die politisch-ideologische Entwicklung Johann Kniefs (1880 bis 1919). Untersuchungen zur Geschichte der Bremer Linksradikalen“ an der Berliner Humboldt Universität promoviert. Es war die bisher „ausführlichste biographische Untersuchung“ über Knief. Jetzt legt er eine umfassende Biographie dieser „Führungsgestalt“ der deutschen Arbeiterbewegung vor: „einer aus der ersten Reihe, aber nicht im Licht“ (10). Gerhard Engel kann sich auf eine schwierige, indes recht umfangreiche Quellenbasis stutzen, die weit über die ihm vor 40 Jahren zur Verfügung stehende hinausgeht; dazu sind inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über die Bremische Arbeiterbewegung erschienen, vor allem aber ergeben sich aus den Ereignissen der vergangenen Jahre neue Einsichten und Überlegungen, die den Untertitel des Buches „ein unvollendetes Leben“ ebenso rechtfertigen wie Kniefs allzu früher Tod.

In 7 Kapiteln (so unsere Bezeichnung), dazu Vorwort und Epilog, ist die Arbeit übersichtlich gegliedert, mit knapp überschriebenen, gut orientierenden Abschnitten. Schon im ersten Kapitel (17-38) über Kniefs Jugend als Schüler und Lehrerseminarist verknüpft Engel die Lebensgeschichte mit der Entwicklung Bremens als Handels-, Hafen- und Industriestadt. Wir lesen genaue Angaben über das kleinbürgerliche Elternhaus, über das Schul- und Seminarsystem, selbst Lehrer werden vorgestellt, dazu Einblicke in das kulturelle Leben und die politischen Verhältnisse, charakterisiert durch ein Achtklassenwahlrecht in diesem deutschen Bundesstaat, der Freien und Hansestadt, das die Mehrheit der Bevölkerung von jeder politischen Mitbestimmung ausschloss. Knief hatte zunächst keinen Zugang zum sozialdemokratischen Milieu. Das änderte sich erst, als er ins Berufsleben eintrat (Hilfslehrer, „Einjährig-Freiwilliger“ und Volksschullehrer) und sich dem Bremischen Lehrerverein anschloss. Hier findet er den Weg zur Sozialdemokratie. 1905 wird er wohl Parteimitglied und bald zum „Marat“ in dieser „Pflanzstätte“ des Sozialismus, zum Vorstandsmitglied. Er sucht Pädagogik mit den Ideen des Sozialismus zu verbinden, die er zunächst aus Schriften von Friedrich Engels theoretisch kennenlernt, und versucht, sie im praktischen Kampf um alltägliche Veränderungen und Reformen auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie zu realisieren. Erfolge für die Lehrer, die „Lohnarbeiter der Bourgeoisie“ (J.K.), wechseln mit Niederlagen im Verein. Früh zeigt sich die „Nervenempfindlichkeit“ Kniefs, und Engel verweist auf gewisse sektiererische Tendenzen bei Knief.

1908 Heirat mit (Catherine) Käthe Müller, zwei Knaben, ein schwieriges Kapitel im Leben Kniefs beginnt, das Engel sehr einfühlsam durchgängig, d.h. bis zur faktischen Auflösung der Ehe durch Kniefs Hinwendung zu Charlotte (Lotte) Kornfeld seit 1916 und – im Unterschied zur DDR-Wissenschaft in solchen Fällen – sorgfältig recherchierend detailliert verfolgt.

In den Auseinandersetzungen in der Partei zwischen Reformismus und revolutionärer marxistischer Orientierung, die sich auch im Lehrerverein widerspiegeln, vertritt Knief seit 1907 deutlich und konsequent linke Positionen. Mit der Zuspitzung der Gegensätze, speziell um die Glückwunschadresse für August Bebel zum 70. Geburtstag 1910, tritt er aus dem Vorstand des Lehrervereins aus und wendet sich mehr und mehr völlig der politischen Arbeit zu, der Massenstreikdebatte, der Gewerkschafts- und Jugendarbeit, tätig in Kultur und Bildung (als Rezitator, bei Jugendweihen, im Gesangsverein). Seit 1911 arbeitet er als 2. politischer Redakteur in der „Bremer Bürger-Zeitung“. Die Erfahrungen in dieser „Lehr-, Kampf- und Leidenszeit im bremischen Schulwesen“ (115) bleiben für ihn „unverlierbar“ (100) und lassen ihn zum überzeugten Anhänger des linken Flügels der Sozialdemokratie reifen; jetzt beginnt für Knief das „eigentliche Leben“ (115).

Im Kapitel „Politischer Redakteur und Musikkritiker“ (117-184) schildert Engel ausführlich Kniefs Arbeit in der Zeitung neben und immer wieder in Auseinandersetzung mit dem Chefredakteur Alfred Henke, sein Zusammenwirken mit Bremer linken Sozialdemokraten, die die Parteiorganisation dominieren, sowie mit den international bekannten Sozialisten Anton Pannekoek und Karl Radek, deren Einfluss auf ihn und auf die SPD insgesamt bislang unterschätzt bzw. verdeckt wurde. (Man vergleiche die äußerst knappe Erwähnung Radeks in der letzten „Geschichte der SED“ Bd. I, 1988.) In zwei Abschnitten handelt Engel die „Radek-Affäre I“ und dann II ab, speziell analysierend seine Imperialismustheorie, vielleicht etwas zu ausführlich, aber eben weithin Neuland. Das trifft auch für Kniefs Wirken als „Konzert- und Opern-Kritiker“ und „Im Streit um Richard Wagner“ (166-184) zu. Es wird die Vielseitigkeit und breite Bildung, sein zutiefst politischer und ideologischer Umgang mit Musikästhetik“ (175) gewürdigt; so auch seine Ablehnung des „Wagnerkults der Wilhelminischen Gesellschaft“ (1913: Höhepunkt 100. Geburtstag). Selber war Knief engagierter Chorsänger und mit dem Liedgut der internationalen Sozialdemokratie vertraut.

Aus dem Kapitel „Fronterlebnis, Nervenzusammenbruch und Rekonvaleszenz“ (185-235) ist hervorzuheben: Kniefs sofortiger Protest gegen die rechte SPD-Position am 4. August 1914, für ihn mit dem Verlust ihres „systemverändernden Impetus“ (210ff.), ihre Wandlung zum „Korrelat des Kapitalismus“ verbunden. Dem herrschenden Organisationsbürokratismus der SPD setzte er seinen Glauben an Massenaktionen und die Überzeugung entgegen, dass bei Kriegsende die Abrechnung mit dem Verrat erfolgen werde. Kniefs Nervenzusammenbruch, seine Rekonvaleszenz in Wedehorn und sein Ausscheiden aus dem Militärdienst prägen sein Dasein 1915, bieten aber für ihn zugleich neue Möglichkeiten zur Antikriegsarbeit. Kontakte zu Franz Mehring, Julian Borchardts „Lichtstrahlen“, zur „Internationale“. Erstmalig bezeichnet er die Linksradikalen als „Kommunisten“, sie sollten sich „in exakt marxistischer Weise“ so nennen, wie „Marx es im Kommunistischen Manifest ewigst besorgt hat“ (229f.). Der Verfasser kritisiert Kniefs Neigung, alle „Errungenschaften der Demokratiegeschichte“ (223), die positiven Resultate der Geschichte der Sozialdemokratie nur als Vorgeschichte des 4. August zu negieren. Treffend die Zwischeneinschätzung Engels zu Knief, „der eine der Zentralgestalten der radikalen linkssozialdemokratischen Opposition gegen den imperialistischen Krieg“ wurde (235).

Den Weg dahin schildert das Kapitel „Parteispaltung“ (237-306) mit der weiteren Differenzierung und der Spaltung der Bremer Sozialdemokratie. Ihre linke Mehrheit entwickelt Beziehungen zur Gruppe „Internationale“, zur bolschewistischen Emigration in der Schweiz, zur Zimmerwalder Linken. Die Rechten beginnen die offene Spaltung mit der Bremer „Correspondenz“, halten den Funktionärsapparat und die Presse. So zeigt sich in Bremen frühzeitig die „embryonale Entwicklung einer dreigeteilten Parteiorganisation“ (272). Am 24. Januar 1916 erscheint erstmalig die „Arbeiterpolitik“ als Organ der Linksradikalen Bremens mit Knief, Paul Frölich und Radek (Hauptautor). Das Kapitel wird gewissermaßen unterbrochen durch das erste Treffen Kniefs mit der jungen Charlotte Kornfeld im Sommer 1916, aus dem sich eine dauerhafte Beziehung entwickelt. Im Weiteren bildet sich die Gruppe um Knief „zur frühesten Vorreiterin der späteren Gründung einer eigenständigen kommunistischen Partei in Deutschland“ aus (281). Sie bemüht sich um Spartakus, ohne die für Knief keine aktionsfähige Partei denkbar ist, und um die Klärung der Haltung zum Zentrismus. Sie lehnten die organisatorische Nähe von Spartakus zur in Gotha Ostern 1917 gegründeten USPD ab. Die Bremische Minderheit der Rechten gründet Ende 1916 den „Sozialdemokratischen Verein Bremen“. Ende April 1917 verlassen Knief und Lotte Bremen angesichts drohender Verhaftung und geben damit alle Funktionen auf.

Das Kapitel „Illegalität und Schutzhäftling“ (307-365) zeigt den verschlungenen Weg beider nach München in ein illegales Dasein, das mit wichtigen Kontakten zu Otto Rühle in Dresden und Erich Mühsam, dem Versuch einer Gründung „Internationale Sozialisten Deutschlands“ ISD verbunden ist. Das Bekenntnis zur Russischen Revolution verstärkt Kniefs Überzeugung von der Notwendigkeit einer radikalen Partei. Der Verhaftung des Paares am 30. Januar 1918 folgt die „Schutzhaft“, die im Sanatorium Charlottenburg bis zum Ausbruch der Revolution in Berlin am 8. November 1918 dauert. Sehr ausführlich berichtet Engel über die literarischen Studien Kniefs in dieser Zeit. Die Revolution beurteilt er vom Standpunkt einer sozialistischen Umwälzung, einer Generalabrechnung mit der kapitalistischen Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft.

Das abschließende Kapitel „Revolution und Lebensende“ (365-418) zeugt von Kniefs Fixierung auf den Sieg der proletarischen Revolution. Zunächst in Dresden (bei O. Rühle, Karl Becker und Karl Plättner), dann aber wieder in Bremen, erscheint unter seiner maßgeblichen Mitwirkung „Der Kommunist“ als Organ der „Internationalen Kommunisten Deutschlands“ IKD (18., 23., 27.11.1918). Der Kurs ist Weiterführung der Revolution. Gerhard Engel gibt eine genaue und zugleich kritische Beschreibung und Analyse der theoretischen Arbeit Kniefs, die er in der Broschüre „Vom Zusammenbruch des deutschen Imperialismus bis zum Beginn der proletarischen Revolution“ (erschien im Januar 1919) zusammenfasste. Knief sieht die proletarische Revolution als Tagesaufgabe, noch ehe die bürgerlich-demokratischen und antiimperialistischen Umwälzungen vor sich gegangen sind (so G.E. kritisch). Entsprechend erklärt sich die Berliner Reichskonferenz der IKD (15.-17. 12.1918) für die „unmittelbare Herbeiführung des Kommunismus“, also auch eine Geringschätzung von möglichen demokratischen Teilzielen. Im Unterschied zur Mehrheit setzt sich Knief (wie Rosa Luxemburg) für die Beteiligung an Wahlen ein, für den Kampf um sozialistische Ziele mit demokratischen Mitteln und Methoden, gegen jeden Putschismus. Am 21. Dezember hält er seine letzte Versammlung mit Bremer Arbeitslosen ab.

Unter Einfluss von Radek tritt Knief für den Beitritt der IKD zu Spartakus ein, für die Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund), zu deren Gründungsparteitag er jedoch wegen seiner Positionen von den Bremer Linksradikalen nicht delegiert wird. Er vertritt weiter den Aufbau der Partei von unten, gegen (Leninschen) Zentralismus und basisdemokratische Selbständigkeit lokaler Organisationen. Zudem hat sich sein Gesundheitszustand so verschlechtert, dass eine Reise unmöglich wird.

Der letzte Abschnitt ist mit „Krankheit und früher Tod“ überschrieben (412ff.). Johann Knief erkrankt Ende Dezember, erlebt also die Proklamation der Bremer Räterepublik am 10. Januar und ihre Niederschlagung am 5. Februar 1919 in der Klinik bzw. bei Heinrich Vogeler in Worpswede. Er verstirbt am 6. April.

Der Epilog (419-430) informiert über die Würdigung und Beurteilung Kniefs durch die Zeitgenossen, durch Historiker, und gibt eine sehr ausgewogene Zusammenfassung von Leben und Werk durch den Autor: Man müsste sie zitieren, besser aber ist, der Leser liest sie selber (430). Seine verlassene Ehefrau Käthe erklärte: „Sein Land hieß Utopien“.

Das gesamte Werk ist mit Hinweisen, Einschätzungen und Einsichten durchwebt, die man als wertvollen Beitrag zur „marxistischen Erneuerung“ der Geschichtswissenschaft bewerten muss. Im Übrigen zeugen Quellen- und Literaturverzeichnis, Register und wissenschaftlicher Apparat (Fußnoten) beispielhaft von wissenschaftlicher Akribie – aus aktuellem Anlass unterstrichen.

Ingo Materna