Gewerkschaften und die digitale Arbeitswelt

von Ursula Schumm-Garling
September 2015

Es ist eine bisher noch nicht entschiedene Frage, ob die Strategien zur Digitalisierung von Produktions- und Dienstleistungsarbeiten eine neue historische Phase der Arbeit einläuten oder ob sie eine kontinuierliche Fortsetzung von schon erprobten Rationalisierungsstrategien bedeuten. So oder so sind die Gewerkschaften aber herausgefordert.

Vereinfacht können die Argumentationen zu den Vor- und Nachteilen der digitalen Arbeit so zusammengefasst werden: Die Befürworter, zu denen auch die Bundesregierung gehört, sehen im digitalen Wandel große Chancen. Wohlstand und Lebensqualität würden steigen und Deutschlands Zukunftsfähigkeit wäre gesichert. Digitale Wertschöpfung und Vernetzung würden Wachstum schaffen und Impulse für gutes Arbeiten in der digitalen Welt geben. Die Skeptiker verweisen auf negative Trends und auf sich abzeichnende Konflikte. Durch die Entgrenzung der Arbeit werde die ständige Erreichbarkeit der Beschäftigten zur Realität. Digitale Kontrolle führe zu Leistungsdruck und Transparenz und damit zu mehr Konkurrenz untereinander. Es entstehe ein „digitales Proletariat“. Außerdem würden sich gravierende Konsequenzen für den Arbeitsmarkt abzeichnen. Vor allem bedeute das die Gefahr des massenhaften Verlusts von Arbeitsplätzen.

Eines ist jedenfalls jetzt schon deutlich sichtbar: Die Einheit und die Solidarität der Lohnabhängigen sind gefährdet. Waren zu Zeiten des Fordismus vor allem die Belegschaften der industriellen Kernsektoren – also Stahl, Bergbau, Chemie sowie Teile der Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Öffentlicher Nahverkehr, Müllabfuhr) gewerkschaftlich organisiert, so haben sich diese Kerne weitgehend aufgelöst bzw. werden überlagert durch eine Vielzahl weiterer Beschäftigtengruppen – MigrantInnen, Frauen, Menschen in unterschiedlichen prekären Beschäftigungsverhältnissen. Häufig treffen mehrere dieser Merkmale auf eine Person zu. Spaltungen und Fragmentierungen nehmen also zu und bilden sich auf neuen Grundlagen: „Die Solidarität und Einheit der Lohnabhängigen wird heute weniger durch politische Spaltungen als vielmehr durch Veränderungen in der Struktur und Zusammensetzung der Arbeiterklasse selbst, also durch neue Formen der Fragmentierung von Interessen und Kulturen, in Frage gestellt.“ (Deppe 2015a: 7)

In der Phase der überwiegend fordistischen Produktion gab es einen gesellschaftlichen Konsens über marktbegrenzende Strategien; auch wenn dieser Konsens auf einem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit beruhte. Sozialstaatliche Schutzrechte und gewerkschaftlich erkämpfte Erfolge der Tarif- und Arbeitspolitik symbolisierten sich in der Figur des Normalarbeiters und der Institution des Normalarbeitsverhältnisses. Gerade die sozialstaatliche Risikoabsicherung wie die demokratische Legitimation gewerkschaftlichen Handelns wurden als Besitzstand definiert und ermöglichten es den Arbeitern, den Status eines Bürgers in der kapitalistischen Gesellschaft zu erlangen. (Castell 2011) Genau das wird mit den neoliberalen Deregulierungsoffensiven seit Längerem grundsätzlich in Frage gestellt und könnte unter dem Etikett der Digitalisierung noch stärker gefährdet sein.

Eine neue Phase der kapitalistischen Entwicklung?

Die Vorschläge zu arbeitspolitischen Innovationen im Zuge der Digitalisierung verharren gegenwärtig überwiegend in technizistischen Denkmustern. Boes u.a. verweisen dagegen darauf, dass die Strategien zur Umgestaltung der Unternehmen unter Nutzung des globalen Informationsraumes das Potenzial zu einer neuen Phase der kapitalistischen Entwicklung hätten. (Boes u.a. 2015: 79) Weiter argumentieren sie: Der von ihnen vorgeschlagene Begriff des Informationsraumes als „Raum der Produktion“ bedeute nicht nur eine gigantische Bibliothek, sondern sei auch ein neuer sozialer Handlungsraum. Als globale Produktivkraftbasis ermögliche der Informationsraum vielfältige Formen der Betätigung und neue Formen der Kooperation. Er werde zur zentralen Basis von Arbeit. Arbeit finde gleichsam „im Netz“ statt. (Boes u.a. 2015: 78) Darüber hinaus stehe der Informationsraum weiteren Akteuren auch zur privaten Nutzung offen. Dabei könne es sich um vielfältige Formen des Konsums, der Informationsbeschaffung, des kommunikativen Austauschs, der Kontaktpflege und diverser Formen der gesellschaftlichen Arbeit handeln.

In absehbarer Zeit könnte es gelingen, Arbeit im Informationsraum und außerhalb der definierten Betriebsgrenzen in einen Verwertungszusammenhang zu bringen, ohne die Beschäftigten de jure als Arbeitnehmer zu behandeln. Dadurch entsteht die Möglichkeit, Machtasymmetrien im Inneren der Betriebe nachhaltig zuungunsten der Beschäftigten zu verändern. Das schaffe eine ganz neue Situation: Der bisher gesellschaftlich erreichte status quo im Kapitalismus, nämlich die Lohnarbeit einzubetten in sozialstaatliche, gewerkschaftliche und betriebliche Regelungen, die Ausbreitung und Stabilität im Kapitalismus möglich gemacht hätten, werde in Frage gestellt. Jetzt sei abzusehen, dass verschiedene Formen gesellschaftlicher Arbeit de facto zu Lohnarbeit gemacht würden. Sie würden aber nicht nach den Rechtsnormen des Arbeitsrechts behandelt, sondern nach denen des Bürgerlichen Gesetzbuches. Damit würden die abhängig Beschäftigten um die Schutzrechte des Regulationssystems der Arbeit gebracht.

Neukonstruktion von Arbeit

Mit der Digitalisierung verschwimmen die Grenzen zwischen Industrie und Dienstleistung; die räumlichen Zusammenhänge von Arbeit im Betrieb lösen sich auf. Scheinbar stabile soziale Strukturen, die mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der frühen Industrialisierung wie Landflucht und Verstädterung ganzer Siedlungsgebiete (Ruhrgebiet) entstanden, aber auch die räumliche Konzentration der Belegschaften in einem Betrieb, verlieren an Bedeutung. „Der Raum wird aus der Organisation entlassen.“ (Sauer/Menz 2015: 54) Es wird nicht mehr die Automatisierung und Integration des Maschinenparks vor Ort vorangetrieben, sondern die autonome Kommunikation und Abstimmung auch mit weit entfernten Produktionsstandorten und Verwaltungen. Damit kann die ökonomische Nutzung räumlicher und häufig mit diesen verbundener sozialer Disparitäten in Konkurrenz zueinander gebracht werden. Entgeltungleichheiten, voneinander abweichende soziale Standards und Arbeitsbedingungen werden zu Ungunsten der Arbeitenden in einem Unterbietungswettbewerb etabliert. Arbeit findet nicht mehr in einem Standard-Beschäftigungsverhältnis statt – dem Normalarbeitsverhältnis –, sondern als geringfügige Tätigkeit, als Leih- oder Werkvertragsarbeit oder als Scheinselbstständigkeit. Prekäre Arbeit droht zum neuen Normalarbeitsverhältnis zu mutieren.

Es ist noch nicht lange her, da wurde der Dienstleistungsarbeit in einer Wissensgesellschaft eine gewisse Avantgardefunktion für eine neue Ausrichtung von Arbeit zugeschrieben. Ein hohes Maß an Selbstbestimmung und Autonomie, an Kreativität und Kompetenz sollten sinnvolle und erfüllte Arbeit ermöglichen und emanzipatorische Perspektiven aus dem Widerspruch zwischen den technischen Möglichkeiten und ihrer Realisierung gewinnen. (vgl. Haug 2015) Dieser Gedanke zieht sich schon lange durch die Industriesoziologie: Schon Serge Mallet hat Anfang der 1970er Jahre aus dem Widerspruch zwischen steigender Kompetenz der Beschäftigten und Grenzen des Einflusses bei der Beteiligung an technischen und ökonomischen Entscheidungen durch die kapitalistische Wirtschaftsverfassung emanzipatorisches Potenzial abgeleitet. Für die Zukunft ist es aber fraglich, ob diese Einschätzung tragfähig ist.

Die Konkurrenz der Arbeitenden untereinander wird durch die Digitalisierung der Arbeit weiter vorangetrieben. Da die Arbeit in Echtzeit erfasst und dokumentiert wird, können die Arbeitsergebnisse präzise abgebildet und verglichen werden. Neue Möglichkeiten für Transparenz und Kontrolle eröffnen sich und ermöglichen es, sowohl innerhalb der Belegschaften als auch im Wettbewerb zwischen Standorten und Unternehmen – auch weltweit – die Konkurrenz zu intensivieren.

Am Beispiel von IBM veranschaulichen Boes u.a. ein ausgefeiltes System der Kontrolle: Eine strategische Bedeutung kommt in diesem Konzept der „digital reputation“ durch die „Blue Cards“ zu. Die Blue Card bildet das Herzstück der digitalen Reputation, über die ein Beschäftigter zu einem bestimmten Zeitpunkt im Unternehmen verfügt. Der Status an „Blue Points“ wird immer wieder aufs Neue aktualisiert. So entsteht über das digitale Reputationssystem ein Kontrollmodus nach dem Muster des „Systems permanenter Bewährung“. (Boes u.a. 2015: 82)

Darüber hinaus kämen wissenschaftliche Modelle zur Prognose von Verhalten zum Zuge, die durch den Einsatz einer „Analytics Engine“ Leistungsmuster über die Zeit hinweg kartografieren. Dadurch werde die Möglichkeit geschaffen, motivationale Prozesse der Subjekte bei Verausgabung von Leistung systematisch zu analysieren und gezielt zu beeinflussen.

Dies ist die eine Seite der Neukonstruktion von Arbeit. Die andere Seite, so Boes u.a., sei die Möglichkeit, die vormals arbeitsteilig erbrachten Einzelleistungen in einen gemeinsamen arbeitsteiligen Prozess zu integrieren. „Dies ist die materielle Voraussetzung für die effiziente People-Cloud – und für eine neue Form der Industrialisierung von Kopfarbeit.“ (Boes u.a. 2015: 82) Diese Entwicklung habe die Konsequenz, dass vormals hochqualifizierte Softwareentwickler, die sich als Experten verstanden, in einen industrialisierten und globalen Produktionsprozess eingebunden würden. Auf den durch keine Grenzen geschützten Kommunikationsplattformen vollzieht sich eine „Kollektivierung des Wissens“, Wissensbestände werden austauschbar: „Hochqualifizierte Kopfarbeiter werden zu austauschbaren Lohnarbeitern gemacht.“ (Boes u.a. 2015: ebd.) Diese Entwicklung lässt Befürchtungen zu, dass weder eine eindeutige Entwicklung zur Höherqualifizierung zu erwarten ist noch ein Beschäftigungsstatus gesichert werden kann.

Zusätzlich entsteht eine Konkurrenzsituation zwischen den noch im Betrieb fest angestellten Beschäftigten und den Arbeitskräften im Informationsraum, der sich negativ auf die noch regulierten Arbeitsverhältnisse auswirken wird. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass sich dieser Druck strukturell auf das gesamte System der Regulation von Arbeit auswirken wird und damit auf das Sozialstaatsmodell als Ganzes.

Gewerkschaften stehen vor großen Herausforderungen

Die Debatte um Autonomie bzw. Autonomiespielräume spielte schon in der Humanisierungsdiskussion früherer Jahrzehnte eine entscheidende Rolle. Ging es damals darum, erweiterte Handlungsoptionen im Rahmen standardisierter Vorgaben für einzelne Arbeitsabläufe (Taylorisierung) zu entwickeln, so müssen heute bei erweiterten Autonomiespielräumen bzw. eigenverantwortlichem Handeln die funktionale Bedeutung und die dadurch bestimmten Grenzen aufgezeigt werden. Digital vernetzte Arbeit muss nicht mehr in räumlich und zeitlich fixierten Zusammenhängen geleistet werden. Daraus resultieren vielfältige Optionen zur Entgrenzung und Flexibilisierung von Arbeit. Das befreiende Potential solch partieller Autonomie darf aber weder über- noch unterschätzt werden.

Im Digitalisierungsdiskurs wird vor allem seitens der Unternehmer und der Politik vorgebracht, neue Formen der Flexibilisierung ermöglichten auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Dem stehen aber Kapital-Interessen entgegen. Denn einerseits rührt diese Flexibilisierung an zentrale Herrschafts- und Kontrollmechanismen in der Arbeitswelt, andererseits bestehen Gefahren, weil betriebliche Belange und arbeitszeitverlängernde Maßnahmen die erhofften Gestaltungsmöglichkeiten stark einschränken. Erweiterte Handlungsmöglichkeiten für die Beschäftigten sind in gewissem Maße notwendig, um produkt- und kapitalmarktinduzierte Unsicherheiten zu bewältigen. „Aber: Die Beschäftigten heute – sowohl in der Produktion wie auch in den Dienstleistungsbereichen – leiden weiterhin nicht an zu viel Freiheit und zu viel Autonomie, sondern an zu wenig.“ (Sauer/Menz 2015: 56, Hervorh. im Orig.)

Die Perspektive einer zukunftsweisenden Arbeitspolitik muss einerseits die Gestaltung des Arbeitsplatzes sowie die unmittelbaren Kooperationszusammenhänge und andererseits den komplexen Zusammenhang von Arbeitsorganisation, neuen Steuerungsformen und Beschäftigungsverhältnissen sowie die räumliche Verteilung und soziale Differenzierung mit einbeziehen.

Die in der Humanisierungsdiskussion noch propagierte Versöhnung von Rationalisierung und Humanisierung hat angesichts der ständig zunehmenden Intensivierung von Arbeit und deren Folgen für die Gesundheit und damit die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten wenig Chancen. (Pickshaus 2014) Auch wenn durch Überlastung und Überforderung der Beschäftigten die gesetzten Ziele des Unternehmens beeinträchtigt werden, kann nicht auf Einsichtfähigkeit durch Verhandlungslösungen mit den Unternehmensleitungen bzw. ihrer Verbandsvertreter gesetzt werden. Dafür ist deren Widerstand gegen die Anti-Stress-Verordnung ein beredtes Beispiel. Ohne Druck von unten wird es nicht möglich sein, eine weitere Intensivierung und Prekarisierung von Arbeit zu verhindern.

Die mit der Digitalisierung verbundenen Prozesse stellen die Gewerkschaften vor große Herausforderungen. Gewerkschaften und Betriebsräte werden sich in Zukunft noch intensiver mit den neuen Arbeitskonzepten auseinandersetzten müssen. Die räumliche und soziale Desintegration von Arbeit, das Nebeneinander von weiter zunehmender prekärer Beschäftigung und kleiner werden Stammbelegschaften wie auch die neuen Kontroll- und Transparenzverhältnisse lassen ihnen keine andere Wahl.

Die Jahrzehnte der neoliberalen Offensive haben die Positionen der Gewerkschaften und der betrieblichen Interessenvertretungen geschwächt. Erst in den letzten Jahren kann vorsichtig von einem – allerdings fragilen – „Comeback der Gewerkschaften“ gesprochen werden.[1] Vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder die Migrationsbewegungen einerseits und die Politik der Arbeitgeber und ihrer Verbände andererseits – von Tarifflucht bis zu union busting – aber auch die betrieblichen Restrukturierungen wie Outsourcing von Dienstleistungen aller Art, um in günstigeren Tarifbereichen zu wildern, oder die Verlegung des Hauptsitzes transnationaler Unternehmen in Steueroasen schwächen die Position kollektiver Interessenvertretungen. Die zweifellos gegebenen Risiken der Digitalisierung verschärfen diese Probleme noch. Um dem allem begegnen zu können, brauchen die Gewerkschaften dringend ein produktives Forum der kritischen Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus, seiner Machtdimensionen und der ihnen innewohnenden Krisenprozesse. Das müsste dann auch ein Forum offener strategischer Debatten sein.

Das BDA-Positionspapier zur Digitalisierung

Auf Seiten der Unternehmer gibt es natürlich ein Interesse, Tarif- und Arbeitspolitik berechenbar zu gestalten und den Betriebsrat als Co-Manager in die digitale Umstrukturierungen der Unternehmen einzubinden. Das wird deutlich in dem im Mai 2015 von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) veröffentlichen Positionspapier zur Digitalisierung (BDA 2015).

In dem Papier wird aber auch mehr als deutlich, dass die Kapitalseite die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt dazu nutzen will, eine Offensive der Flexibilisierung in ihrem Interesse einzuleiten. Mit Verweis auf eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sollen die Reste sozialstaatlicher Regelungen abgebaut werden. Es wird eine Deregulierung der Arbeits-, Sozial- und Mitbestimmungsrechte gefordert. Das gilt unter anderem für die verschiedenen Beschäftigungsformen außerhalb des Normalarbeitsverhältnisses. „Befristung und Zeitarbeit (gemeint ist Leiharbeit – U. S.-G.) dürfen daher nicht durch neue Belastungen begrenzt werden. Zeitarbeit und insbesondere die sachgrundlose Befristung müssen auch künftig für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ohne neue Beschränkung zur Verfügung stehen.“ (BDA 2015: 2) Die Arbeitsteilung und Spezialisierung werde in den Arbeits- und Produktionsprozessen zunehmen und damit die Bedeutung von Werk- und Dienstverträgen. Diese dürften als anerkannte, faire und effektive Möglichkeit auch zukünftig nicht in Frage gestellt werden. Die Betriebsverfassung müsse der absehbaren höheren Geschwindigkeit bei Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen angepasst und Verzögerungspotentiale müssten abgebaut sowie bestehende Regelungen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden. Die Arbeitszeiten sollten ebenfalls den flexiblen Anforderungen angepasst und das Arbeitszeitgesetz sollte umgestellt werden: Statt einer täglichen solle es eine wöchentliche Höchstarbeitszeit vorgeben. Der Arbeitsschutz sei in Deutschland gut aufgestellt. Weitere Regelungen – etwa zur Stressvermeidung oder zur Einschränkung der Erreichbarkeit – hätten nach Ansicht der Arbeitgeber keinen zusätzlichen Nutzen, sondern würden nur mehr Bürokratie und Handlungs- und Rechtsunsicherheit bedeuten. (BDA 2015: 5)

Arbeitsschutz sei „Arbeitnehmerschutz“, Arbeitsschutz könne darum nicht auf selbstständige Erwerbsformen ausgedehnt werden. Crowdworking und crowdsourcing seien Formen „freier Tätigkeiten“ und „freier Mitarbeit“ im Internet, die sich gesetzlich nicht fassen ließen. (BDA 2015: 5) Es handele sich nicht um Beschäftigungen, die irgendwie regelbar wären. Überlegungen zu einem Mindestentgelt für crowdworker seien abwegig. „Wer aus freien Stücken eine solche Aufgabe im Internet übernehmen will, sollte und kann daran weder gesetzlich noch in anderer Weise gehindert werden.“ (BDA 2015: 6)

Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wird als eine neue Möglichkeit dargestellt, die sich sozusagen naturwüchsig aus immer flexibleren Arbeitsformen, aus der orts- und zeitungebundenen digitalen Arbeit ergäbe und darüber hinaus auch aus Teilzeitarbeit – von wenigen Wochenstunden bis zu vollzeitnaher Teilzeit –, aus Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit, Arbeitszeitkonten oder auch Jobsharing. Unerwähnt bleibt, wer über die Flexibilisierung befindet und nach wessen Interessen im Zweifelsfall entschieden wird. Um optimale Rahmenbedingungen für die bessere Vereinbarkeit zu schaffen, wird der – ansonsten ungeliebte – Staat in die Pflicht genommen, der für Ganztagskitas oder Ganztagsschulen zu sorgen habe. Dies alles wird aber ausdrücklich nicht als Problem definiert, das in irgendeiner Form Gegenstand gesetzlicher Arbeitsschutzregelungen sein könne.

Der beruflichen Bildung und Weiterbildung wird ebenfalls große Bedeutung beigemessen. Denn die Digitalisierung mache den lebenslangen Erwerb immer neuer Qualifikationen erforderlich. Aber entweder werden Forderungen an staatliche Bildungseinrichtungen gestellt oder – wie bei der beruflichen Weiterbildung – dem einzelnen angelastet. „Allerdings wünscht sich weiterhin die Mehrheit der Betriebe, dass ihre Beschäftigten mehr Freizeit für die eigene Weiterbildung einbringen“. (BDA 2015: 9) Im Kommentar des DGB zu diesem Positionspapier heißt es zusammenfassend: „Das BDA-Positionspapier ist ein Neinsager-Papier mit neoliberaler Färbung, denn politische Gestaltungs- oder Regulierungspositionen neuer oder veränderter Arbeitsformen werden grundsätzlich abgelehnt. Stattdessen fordert die BDA weitere Deregulierungen der Arbeits-, Sozial- und Mitbestimmungsrechte. Eigene Gestaltungsambitionen der BDA sind nicht erkennbar – sie will alles dem Markt überlassen.“ (DGB 2015: 1)

Notwendige Gegenkonzepte – Kooperation statt Konkurrenz

Die Wirksamkeit von betrieblicher Interessenvertretung und Gewerkschaften wird zukünftig verstärkt davon abhängen, ob es gelingt, Einfluss zu nehmen auf die Rahmenbedingungen von Arbeit wie beispielsweise die Bereitstellung von Ressourcen wie Budgets, Personal, Zeitkontingente oder die Beteiligung an der Formulierung von Zielen, an der Terminplanung sowie den Beschäftigungsverhältnissen und der Bezahlung sowie Fragmentierung und Outsourcing von Betriebsteilen. Der von ver.di geführte Poststreik war ein Versuch, in diesem Sinne Leitplanken zu setzen. Sein Scheitern in dieser Kernforderung führt zugleich die gewaltigen Probleme vor Augen, die hier zu bewältigen sind.[2] Darüber hinaus müssen Beteiligungsformen in realen und virtuellen Netzstrukturen entwickelt werden. Vorhandene beteiligungsorientierte gewerkschaftliche Konzepte wie „Gute Arbeit“ (Pickshaus 2014), Organizing-Konzepte oder beteiligungsorientierte Tarifpolitik müssen weiterentwickelt werden. Nur so können die Grenzen, die durch die ökonomischen Rahmenbedingungen gesetzt werden, deutlich gemacht und ihre Wirkung vermindert werden.

Mit der Digitalisierung werden die ohnehin schon fließend gewordenen Grenzen zwischen Industrie und Dienstleistungssektoren weiter verschwimmen. Und damit auch die Abgrenzungen zwischen Industrie- und Dienstleistungsgewerkschaften. Das hat jetzt schon Konsequenzen für die Gewerkschaften und wird in Zukunft noch viel größere Probleme bereiten. Einerseits überschneiden sich Tätigkeitsfelder und damit die Organisationszuständigkeiten – mit der möglichen Folge der Konkurrenz um Mitglieder. Andererseits ergeben sich aber auch Möglichkeiten zu organisationsübergreifendem arbeitspolitischem Handeln. (Gewerkschaftseinheit auf dem Prüfstand 2015)

Mit den Fusionen einer Reihe von Einzelgewerkschaften zu Multibranchengewerkschaften wurde ein wesentliches Organisationsprinzip beibehalten – ein Betrieb – eine Gewerkschaft. Hier finden gegenwärtig aber zentrale Veränderungen statt. Detlef Wetzel, der Erste Vorsitzende der IG Metall, weist darauf hin, dass gewerkschaftliche Wirkungsmacht nicht mehr in Branchen oder in Betrieben, sondern in Wertschöpfungsketten realisiert wird. Deswegen müssten sich Gewerkschaften mit den Wertschöpfungsketten auseinandersetzen und branchenübergreifend entlang der Wertschöpfungskette präsent sein. „Generell sollte gelten: „ein Betrieb – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag“. Wenn das nicht funktioniere, dann sollte mindestens gelten: „Eine Wertschöpfungskette – eine IG Metall – ein Tarifvertragssystem.“ (Wetzel 2015: 172)

Diese Position deutet darauf hin, dass im Gefolge der Strukturveränderungen die Grenzen zwischen Gewerkschaften, die ihren Organisationsschwerpunkt in der Industrie und jenen, die ihn im Dienstleistungssektor haben, verschoben werden sollen. Hier entsteht ein erhöhter Bedarf an Diskussion um einvernehmliche Lösungen. Der modische Diskurs über digitale Arbeit und ihre großen Chancen umschifft alle Fragen, die mit den Widersprüchen und Krisen des sich entwickelnden digitalen Kapitalismus verbunden sein können. Darunter auch die hier genannte.

Die hier nur angedeuteten Konflikte werden augenfällig in dem Mitte April dieses Jahres abgeschlossenen Kooperationsvertrag zwischen den vier Vorsitzenden der Industriegewerkschaften IG Metall, IG BCE, IG BAU und EVG. Hier vereinbarten vier Gewerkschaften eine Zusammenarbeit, die ohnehin kaum miteinander um Mitglieder und Zuständigkeitsbereiche konkurrieren. Schon eher ist das der Fall im Verhältnis zu weiteren Gewerkschaften, die aber an der Vereinbarung gar nicht beteiligt wurden: ver.di, GEW, NGG und Polizei-Gewerkschaft.

Begründet wurde dieser Schritt mit der Bedeutung der Wirtschaft, vor allem der Exportwirtschaft, und der Notwendigkeit, angesichts der Veränderungen der Produktionsprozesse und der Organisation von betrieblichen Abläufen das Prinzip „Ein Betrieb – Eine Gewerkschaft“ zu erhalten..(Kooperationsvertrag 2015: 1) Ziel sei, in Kooperation mit Unternehmern und der Politik den technologischen Wandel so zu gestalten, dass am Ende mehr Beschäftigte bessere Arbeit im industriellen Netz fänden. Eine rationale Abgrenzung der Organisationen voneinander solle an Hand der bestehenden Wertschöpfungsketten erfolgen, grundsätzlich nach dem Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag“. Moderne industrielle Wertschöpfungsketten zeichneten sich durch eine arbeitsteilige Integration aus, die den Unterschied zwischen Güterproduktion und Dienstleistung in ihren Geschäftsmodellen längst überwunden hätte.

Der Vertrag schlägt ein dreistufiges Verfahren vor, um im Konfliktfall Organisationsabgrenzungsfragen zu klären. Das sollen zunächst die betroffenen Gewerkschaften selbst tun. Erst wenn auf dieser Ebene (ausnahmsweise?) keine Einigung erzielt werden kann, soll der DGB ein Vermittlungs- und Schiedsverfahren einleiten. (Kooperationsvertrag 2015: 25) Dies kommt einer Entwertung des DGB gleich.

Auch wenn es gegenwärtig unrealistisch erscheint, wäre es dringend geboten, mit Blick auf übergreifende Aufgaben, die die Organisationsbereiche der Einzelgewerkschaften betreffen (Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Verteilungs-, Gesundheits- und Bildungspolitik, Steuerpolitik) einen Ort für umfassende Debatten zu schaffen. Die Einzelgewerkschaften brauchen dringend eine zentrale Instanz, um strategische Debatten über die vielfältigen und krisenhaften Entwicklungen zu führen.

Das gesamte System der in Jahrzehnten gewachsenen Arbeitsbeziehungen befindet sich in einem schleichenden Erosionsprozess, der unter dem Schub der Digitalisierung zu einem Umbruch- und Abbruchprozess zu werden droht. Es ist klar, dass die Einzelgewerkschaften unter diesen Bedingungen über Lohn-, Tarif- und Arbeitszeitfragen hinaus auch arbeitspolitische und im weiteren Sinne sozialpolitische Themen diskutieren müssen. Solche Diskussionen brauchen aber einen Gesamtrahmen, und hier kommt der DGB ins Spiel. Er müsste der Ort einer gewerkschaftlichen Zukunftsdiskussion sein, die beispielsweise ein eigenes Konzept zur Gestaltung der Digitalisierung entwickelt. „Wir haben die Chance, den Dachverband gemeinsam für derartige Strategiediskussionen zu nutzen. Das kann der DGB nicht stellvertretend tun, sondern nur mit den Mitgliedsgewerkschaften. Da brauchen wir stärkere Impulse.“ (DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach, in: Gewerkschaftseinheit auf dem Prüfstand 2015: 36).

Dazu passt der Vorschlag, der DGB solle das Forum für strategische Debatten sein. Voraussetzung hierfür wäre allerdings die rationale Einsicht, dass die Logik der Konfrontation einen höheren Schaden verursacht als der Verzicht auf einzelne eigenen Forderungen, was auf eine Stärkung des DGB hinauslaufen würde. (Deppe 2015b: 22f.) Die Macht der Einheit ist, so Deppe, notwendig, um neue Angriffe auf soziale Rechte, auf die Mitbestimmung, auf den Lebensstandard der Lohnabhängigen und – in politisch zugespitzten Zeiten – auf die Existenz der Gewerkschaften selbst abzuwehren.

Die allgemeinen Interessen der Lohnarbeit bedürfen einer starken Repräsentanz. Dazu gehören die Abwehr von sozialer Unsicherheit, insbesondere der Kampf gegen die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche, gegen Diskriminierungen aller Art, um die Folgen des Abbaus des Sozialstaates, den Schutz von Natur und Umwelt ebenso wie den Abbau von Demokratie und die Abwehr wachsender Kriegsgefahren. „Zentrale Werte wie Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden stehen im Zentrum einer inklusiven Solidarität (...), die vor allem durch die Anerkennung von Differenzen stark wird.“ (Deppe 2015b: 23)

Auf viele Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft haben die Gewerkschaften – so die Einschätzung von Michael Schumann (Schumann 2014) – mit ihren Initiativen beispielsweise für Mindestlohn oder die Re-Regulierung der Leiharbeit durchaus richtig reagiert und im einzelnen auch Erfolge erzielt. Der Blick auf die Digitalisierung ist aber mit großen Ungewissheiten verbunden. Neue Ansätze für eine Humanisierung der Arbeit lassen sich ausmachen. Aber die Risiken von Entgrenzung der Arbeit, weiterer Prekarisierung und Verdrängungen menschlicher Arbeit sind groß. Vor allem die sich herausbildende Plattform-Ökonomie untergräbt die Mitbestimmung und praktisch alle arbeits- und sozialrechtlichen Standards. (DGB 2015: 3f.) Hier sind die Gewerkschaften gefordert, eigene Gestaltungsakzente zu setzen.

Literatur

BDA 2015, Chancen der Digitalisierung nutzen. Positionspapier der BDA zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt. Mai 2015.

Bischoff, Joachim, Radke, Björn, Troost, Axel 2015, Industrie der Zukunft? Wertschöpfung zwischen De-Industrialisierung und vierter industrieller Revolution. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 6/2015.

Boes, Andreas, Kämpf, Tobias, Langes, Barbara, Lühr, Thomas 2015, Landnahme im Informationsraum. Neukonstituierung gesellschaftlicher Arbeit in der „digitalen Gesellschaft“, in: WSI Mitteilungen 2: 77–85.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales April 2015, Grünbuch. Arbeiten 4.0, Arbeiten weiter denken, Berlin.

Castell, Robert 2011, Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg.

DGB-Bundesvorstand 2015, Kommentar des DGB - Bundesvorstands zum Positionspapier der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt. Projekt Arbeit der Zukunft / Juni 2015.

Deppe, Frank 2015, Ende der Einheitsgewerkschaft? Überlegungen zu sozialer Spaltung, Gewerkschaftskonkurrenz, gesetzlicher Tarifeinheit und politischem Mandat, in: Sozialismus 6/2015 S. 6-12 (a)

Ders., Einheit oder Spaltung? Überlegungen zur Debatte um die Einheitsgewerkschaft hrsg. von der Rosa- Luxemburg- Stiftung, Reihe Analysen Nr.19, Juni 2015 (b).

Gewerkschaftseinheit – auf dem Prüfstand, 2015. Über beschleunigten Strukturwandel, Konkurrenz um Mitglieder und das politische Mandat des DGB. Eine Diskussion mit Annelie Buntenbach, Hans-Jürgen Urban und Frank Werneke. in: Sozialismus Heft 7/8: 32-38.

Haug, Wolfgang Fritz 2015, Jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger. Editorial in: Argument 311, H. 1: 7-11.

Hensche, Detlef 2014, Schwarz -rotes Streikverbot. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H- 1: 34 – 38.

Kooperationsvertrag 2015, abgeschlossen zwischen IG Metall, EVG, IG BCE und IG BAU, 15. 04. 2015.

Mallet, Serge 1972, Die neue Arbeiterklasse, Neuwied/Berlin.

Pickshaus, Klaus 2014, Rücksichtslos gegen Gesundheit und Leben. Gute Arbeit und Kapitalismuskritik – ein politisches Projekt auf dem Prüfstand. Hamburg.

Sauer, Dieter, Menz, Wolfgang 2014, Renaissance des Industriekapitalismus? Entwicklungslinien moderner Arbeit und Perspektiven demokratischer Beteiligung. in: Industriearbeit und Arbeitspolitik. Kooperationsfelder von Wissenschaft und Gewerkschaften, hrsg. von Detlef Wetzel, Jörg Hofmann, Hans-Jürgen Urban, Hamburg S. 47-60.

Schumann, Michael 2014, Praxisorientierte Industriesoziologie. Eine kritische Bilanz in eigener Sache. in: Industriearbeit und Arbeitspolitik. Kooperationsfelder von Wissenschaft und Gewerkschaften, hrsg. von Detlef Wetzel, Jörg Hofmann, Hans-Jürgen Urban, Hamburg.

Schumm-Garling, Ursula 2014, Für eine neue Politik der Arbeit, in: Sozialismus H.7/8: 55-61.

Wetzel, Detlef 2015, Arbeit 4.0. Was Beschäftigte und Unternehmen verändern müssen. Freiburg, Basel, Wien.

[1] Vgl. verschiedene Beiträge in Z 92 (Dezember 2012), „Gewerkschaften und Systemfrage“.

[2] Siehe herzu den Beitrag von Werner Siebler in diesem Heft.

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