Eine neue Phase des Kapitalismus

Das neue Gesicht des Kapitalismus

Der Aufstieg des finanzgetriebenen Kapitalismus und die Große Krise 2007ff.

von Joachim Bischoff
Dezember 2014

Der entscheidende Gesichtspunkt des Kapitalismus wurde schon im kommunistischen Manifest herausgestellt: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus.“[1] Und im Vorwort zum ersten Band des „Kapital“ verwies Marx mit Blick auf die Abschaffung der Sklaverei in den USA darauf, dass „selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.“[2] Die Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft schließt mithin auch die Darstellung des zeitgemäßen oder modernen Gesichtes der kapitalistischen Produktionsweise ein.[3]

Mittlerweile ist weithin akzeptiert, dass abstrakt strenge Grenzlinien die Epochen der Gesellschaftsgeschichte so wenig scheiden wie die verschiedenen Gestalten der kapitalistischen Produktionsweise. Das Zeitalter der „Großen Industrie“ oder die Industrialisierung prägte die erste große Entwicklungsphase nach der Manufakturperiode. Als die Industrialisierung ihre Wirksamkeit voll entfaltete, hatte der Kapitalismus bereits eine längere Geschichte hinter sich. Mit der „Großen Industrie“ waren verknüpft, erstens kontinuierliche technisch-organisatorische Neuerungen des Arbeitsmittels, zweitens die massenhafte Ausbeutung von unterschiedlichen Energiequellen und drittens die Verbreitung der Fabrik als Kern eines arbeitsteiligen Unternehmens. Mit der Industrialisierung wurde die Lohnarbeit auf vertraglicher Grundlage verallgemeinert und verrechtlicht, die Akkumulation des fixen Kapitals und des gesellschaftlichen Kapitalstocks erreichte ein enormes Ausmaß und die Innovationsgeschwindigkeit – der Prozess einer kontinuierlichen schöpferischen Zerstörung – wurde radikal gesteigert.

In der Kritik der politischen Ökonomie wurde seither betont, dass die ökonomische Wissenschaft nicht erfasst, wie das Kapitalverhältnis in seinen veränderten Gestalten reproduziert wird und damit die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen seiner Veränderung. „Damit das Kapitalverhältnis überhaupt eintrete, ist bestimmte historische Stufe und Form der gesellschaftlichen Produktion vorausgesetzt. Es müssen sich, innerhalb einer früheren Produktionsweise, Verkehrs- und Produktionsmittel und Bedürfnisse entwickelt haben, die über die alten Produktionsverhältnisse hinaus und zu ihrer Verwandlung in das Kapitalverhältnis hindrängen. … Auf Basis dieses veränderten Verhältnisse entwickelt sich aber eine spezifisch veränderte Produktionsweise, die einerseits neue materielle Produktivkräfte schafft, andrerseits auf deren Grundlage sich erst entwickelt, und damit in der Tat sich neue reale Bedingungen schafft … Es ist dies eine wesentlich verschiedene Auffassung von der der bürgerlichen, in den kapitalistischen Vorstellungen selbst befangenen Ökonomen…“.[4]

Entwicklung des Managerkapitalismus

In der frühen Industrialisierungsphase kamen selbst größere Unternehmen mit einem überschaubaren Grundkapital aus. In der Folge überstieg das Grundkapital die familiären Eigentümerverhältnisse und die Finanzierung über den Kapitalmarkt und die Organisationsform als Kapitalgesellschaft wurden dominant. Im Bereich der größeren Unternehmen setzten sich Kapitalgesellschaften auf Aktienbasis oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung durch; die Trennung von Eigentümer- und Unternehmerfunktion produzierte die Gestalt des Managerkapitalismus. Die Unternehmen wurden unter Aufsicht der Eigentümer und Kapitalgeber von einem mit höherer Qualifikation ausgestatteten Leitungspersonal geführt. Die Großunternehmen gaben in den Branchen den Ton an und die vertraglichen Standards (auch gegenüber den in Gewerkschaften organisierten Lohnabhängigen) vor. Ergänzend zu den Marktverhältnissen traten sozial- und bildungspolitische Regelungen, so dass diese Formveränderung des Managerkapitalismus auch als „organisierter Kapitalismus“ etikettiert wurde.

Gleichwohl: Die durch die Gegenmacht im Unternehmen und in der Gesellschaft (Tarifverträge) erhoffte Demokratisierung und gesellschaftliche Steuerung blieb unzureichend. Allerdings führte die Gegenmachtkonstellation von schöpferischer Zerstörung und kontinuierlicher sozialer Einhegung und Regulierung zur Formation eines so genannten „demokratischen Kapitalismus“.[5] „Es begann das Zeitalter der ‘Großen Kompression’ (bezieht sich auf die soziale, auch steuerliche Regulierung der Verteilungsverhältnisse – JB), eines demokratisch domestizierten Kapitalismus, von starken Gegenmächten im Zaum gehalten, in dem Wachstum durch Umverteilung von oben nach unten stattzufinden hatte.“[6]

Der Managerkapitalismus basiert auf der fordistisch-tayloristischen Betriebsweise, d.h. vor allem auf wissenschaftlich organisierter Fließbandproduktion einerseits, und korrespondierend dazu Massenkonsumtion standardisierter Waren andererseits. Im regulatorischen Kompromiss des Fordismus wurde durch einen sozialen Ausgleich zwischen den Organisationen des Kapitals und der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen (Sozialpartnerschaft, Korporatismus) der grundlegende Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital vermittelt. In den späteren Stadien des „Einbruchs der Massen in die Politik“[7] wurde in den meisten kapitalistischen Ländern eine sozialstaatliche Gestaltung der Lohnarbeit durchgesetzt.

Mit dem Begriff der gesellschaftlichen „Betriebsweise“ sind zum einen die Zusammenhänge zwischen der technologisch-organisatorischen Struktur des Wertschöpfungsprozesses und der Arbeitsorganisation angesprochen; zum andern geht es um den Zusammenhang von betrieblicher und gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Es ist nicht möglich, allein auf der Ebene einzelner Unternehmungen eine neue Form der Arbeits- und Wertschöpfungsorganisation durchzusetzen, ohne gleichzeitige Umwälzung der Arbeitsteilung im Gesamtreproduktionsprozess. Fließfertigung und tayloristische Arbeitsorganisation prägten das Produktionsgeschehen auch in der Hochphase des Fordismus nur in Teilbereichen, wiesen jedoch dem primären und tertiären Sektor ebenso wie handwerklichen, nichtstandardisierten Produktionsmodellen „Rang und Einfluss“ zu.

In der fordistischen Entwicklungsphase des Kapitalismus ist das hegemoniale Innovationsmuster durch Massenproduktion und eine Arbeitsorganisation charakterisiert, die auf Fließband, wachsendem Einsatz von automatischen Maschinensystemen und einer tayloristischen Arbeitsorganisation beruht. Weitere Optimierung entsteht durch die Minimierung der Zwischenlager, Senkung der Transaktionskosten und Anpassung der Produktion an die Absatzbedingungen durch umfassende elektronische Steuerung und Vernetzung. Die integrierte, just-in-time- und lagerlose Fabrik nähert sich dem fordistischen Traum eines kontinuierlichen Produktionsflusses ohne unproduktive Zeiten. Es sind hier durchaus etliche Charakterzüge einer nachfordistischen Betriebsweise erkennbar, aber insgesamt bleibt die Hegemonie einer flexiblen Produktionsweise bestehen.

Das „Interregnum“ im Übergang ins 21. Jahrhundert umgreift also wie in der Durchsetzungsperiode der fordistischen Betriebsweise sowohl die Arbeitsbeziehungen, die Ausgestaltung des Lohnarbeitsverhältnisses, die Verteilungsrelationen, die Systeme sozialer Sicherung, Bildungs- und Ausbildungswege sowie die politisch-ideologischen Institutionen und Verhältnisse. Selbstverständlich würden auch bei der Herausbildung der Hegemonie einer neuen Betriebsweise überlieferte Formen der gesellschaftlichen Produktion weiterbestehen und weiterentwickelt werden. Entscheidend für die gegenwärtige Debatte ist nicht, in welchem Umfang Elemente der bisherigen Betriebsweisen reproduziert werden, sondern ob ein Prozess des re-embedding der ökonomischen Formen in einem sich verändernden Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse erkennbar ist.

Chronische Überakkumulation

Im Rückblick auf das goldene Zeitalter der fordistischen Entwicklungsetappe treten in den letzten Jahrzehnten die Widersprüche der chronischen Überakkumulation deutlicher hervor. Überakkumulation heißt zusammengefasst: „Es werden zuviel Waren produziert, um den in ihnen enthaltnen Wert und darin eingeschloßnen Mehrwert unter den durch die kapitalistische Produktion gegebnen Verteilungsbedingungen und Konsumtionsverhältnissen realisieren und in neues Kapital rückverwandeln zu können, d.h. um diesen Prozeß ohne beständig wiederkehrende Explosionen auszuführen.“[8] Die Intensivierung der Konkurrenz, die Entfesselung des Kapitals von gesellschaftlichen Regulierungen sowie die Internationalisierung des kapitalistisch bestimmten Marktes (Globalisierung) sind Ausdrucksformen dieser Konstellation. Es entsteht keine neue Qualität der Wertschöpfung. Dies wäre nur in einem anderen makroökonomischen Rahmen und nur mit den Belegschaften, d.h. neuen Formen der Beteiligung und Partizipation zu haben. Weder lässt sich auf makroökonomischer Ebene ein expansionsfähiges Akkumulationsregime erkennen. Noch ist auf der mikroökonomischen Wertschöpfungsebene – selbst bei den Kapitalgesellschaften – eine neue Qualität der Betriebsweise erkennbar.

Die unter den Imperativen der Vermögensbesitzer und der Shareholder-Value-Orientierung erzwungene Konzentration auf das Kerngeschäft, betriebswirtschaftliche Dezentralisierung und Verminderung der Fertigungstiefen bringt keine neue hegemoniale gesellschaftliche Betriebsweise hervor. Die effizientere Verteilung des Realkapitals und der rationellere Kapitaleinsatz im unternehmerischen Netzwerk produziert auf der Ebene der Branche und des Gesamtkapitals eine Verstärkung der Zyklizität der Investitionstätigkeit der Unternehmen. Damit werden neustrukturierte Unternehmen von der Phase der Erfüllung ihrer Vorgaben für Eigenkapitalrendite zugleich den Gefahren des verschärften Wettbewerbes einer rezessiven Entwicklung ausgesetzt. Der Grad zwischen befriedigender Performance und ökonomischem Absturz mit enormen Kapitalverlusten ist schmaler geworden. Es entsteht zwar eine „flexible Arbeitsweise“, aber sie erweist sich noch nicht als Fundament einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise. Allerdings sehen wir in den letzten Jahrzehnten eine enorme Verschiebung in den Verteilungsverhältnissen.

Der Vermögensbesitzer kann nur Zinsen beanspruchen, solange das Kapital knapp ist. John Maynard Keynes betrachtete „daher die Rentnerseite des Kapitalismus als eine vorübergehende Phase, die verschwinden wird, wenn sie ihre Leistung vollbracht hat. Und mit dem Verschwinden der Rentnerseite wird noch vieles andere einen Gezeitenwechsel erfahren. Es wird überdies ein großer Vorteil der Ereignisfolge sein, die ich befürworte, dass der sanfte Tod des Rentners, des funktionslosen Investors, nicht Plötzliches sein wird, sondern nur eine allmähliche, aber verlängerte Fortsetzung dessen, was wir jüngst in Großbritannien gesehen haben und keine Revolution erfordern wird.“[9] Anstelle des Verschwindens des Rentiers erlebten wir am Ende des 20. Jahrhunderts eine Ermächtigung des organisierten Vermögensbesitzes. Die Machtkonzentration in diesem Managerkapitalismus (Macht ohne Eigentum) ist durch die Professionalisierung der Kapitalmärkte gebrochen worden. Die Akkumulation der Kapitalgesellschaften geht einher mit einer entsprechenden Akkumulationsdynamik der privaten Vermögensbesitzer. Die Vermögensbesitzer bedienen sich mehr und mehr der professionellen Anlageberatung oder delegieren Teile oder ihr Vermögen insgesamt an Vermögensverwalter. Diese Professionalisierung gewinnt an Gewicht mit der Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen und der Internationalisierung der Vermögensanlage.

Die Kapitaleigentümer und Vermögensbesitzer nehmen die zeitweilige Verselbständigung des Kapitalmanagements zurück und zwingen den Staat zur Rückkehr auf seine Kernfunktionen und den Verzicht auf eine Interventionspolitik unter dem Blickwinkel von sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit. Nachdem der historische Block sozialer Kräfte mit dieser gesellschaftspolitischen Option in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zusammengefunden hatte, wurden konsequenterweise die bestehenden Beschränkungen der Kapitalmobilität schrittweise aufgehoben. Der Rückbau der sozialen Sicherheit und die Zerstörung der entwickelten Lohnarbeitsgesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte bewirkten und bewirken noch immer einen massiven Machtverlust der organisierten Lohnarbeit und eine Ausbreitung von prekären Beschäftigungsverhältnissen mit entsprechenden Konsequenzen für die Verschärfung sozialer Ungleichheit.

Die soziale Erfahrung von den zivilisatorischen Errungenschaften eines regulierten Kapitalismus verblasste und die Strukturveränderungen, die sich als Ergebnis von Sozialstaat und regulierter Ökonomie einstellten, wurden nicht rechtzeitig von den politischen Akteuren aufgegriffen. Stattdessen kehrten sie in den Hauptländern des Kapitalismus Anfang der 1970er Jahre schrittweise zu den Prinzipien des Laissez-faire-Kapitalismus auf den Kapitalmärkten zurück. „Bei diesen Veränderungen handelt es sich um die Demontage der historisch einzigartigen Reformkonstellation, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Druck der Systemkonkurrenz und der stärker gewordenen Arbeiterbewegung sowie unter dem Eindruck von Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg zustande gekommen war.“[10] Der Übergang zu weitgehend unregulierten Geld- und Kreditmärkten setzt eine beschleunigte Akkumulation des Geld- und Leihkapitals in Gang.

Das Zeitalter des demokratisch domestizierten Kapitalismus mit der charakteristischen „Großen Kompression“ in den Verteilungsverhältnissen (geringe Arbeitslosigkeit, angemessene Arbeitseinkommen, sozialstaatliche Regulierungen und entsprechend höhere Besteuerung von Kapitalerträgen und hohen Einkommen) löst sich in einem Widerspruchsbündel der Überakkumulation auf: „In den 1970er Jahren begann, wiederum weltweit, der lange Abstieg von der Stallhaltung des Kapitals… Die Ungleichheit der Einkommen in den Ländern des entwickelten Kapitalismus wächst seit Jahrzehnten. Arbeitslosigkeit zwischen sechs und zehn Prozent ist das neue Normalmaß, Beschäftigung wird immer prekärer… Die Schuldenwirtschaft ist außer Rand und Band, und die nächste Krise à la 2008 ist so sicher wie das Amen in der Kirche… Heute ist die Krise des Kapitalismus offenkundig: immer weniger Wachstum, trotz oder wegen immer höherer Belohnungen für die ‘Leistungsträger’ und immer schärferer Bestrafungen für die Verlierer, trotz entfesselter Geld- und Schuldenproduktion.“[11]

Finanzialisierung und Große Krise

Im Prinzip sind Kapitalunternehmen und damit die Akteure Aktionär, Investoren und Rentiers im modernen Kapitalismus keine neuen Phänomene. Wenn wir gleichwohl eine Machtverschiebung zugunsten des Vermögensbesitzes in der modernen Unternehmenslandschaft konstatieren, so ist dies den Tatsachen geschuldet, dass die Vermögensbesitzer organisiert auf den Unternehmens- und gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozess einwirken und der Kredit – das verselbständigte Gesellschaftskapital – eine überragende Rolle in der Entwicklung der Produktionsweise spielt. „Diese Tendenz zur Herauslösung des wirtschaftlichen Handelns aus sozialen Kontexten, die Zuspitzung seiner Ziele auf Profit und Wachstum bei gleichzeitiger Indifferenz gegenüber sonstigen Zielen, diese im Manager-Kapitalismus bereits angelegte, aber noch nicht verabsolutierte Selbstzweckhaftigkeit des Kapitalismus haben mit der ‘Finanzialisierung’, dem Aufstieg des Finanzmarkt-, Finanz- oder Investorenkapitalismus in den letzten Jahrzehnten ein Ausmaß erreicht, das dem System eine neue Qualität gibt und es vor neue, bisher ungelöste Herausforderungen stellt.“[12] Der Aufstieg des finanzgetriebenen Kapitalismus – mitunter auch als „Finanzialisierung“ bezeichnet – stellt nicht nur die gewerkschaftliche und politische Linke vor neue Herausforderungen: zu dessen Kontrolle, gesellschaftlicher Steuerung oder Einbettung und vor allem zur Ausarbeitung von Alternativen zu seiner Überwindung.

Die „Finanzialisierung“ der kapitalistischen Globalökonomie – Ausweitung des Finanzsektors und Expansion des Kredits – hat verschiedene Ursachen: Das Kreditwesen, das in den Anfängen des Kapitalismus eher ein untergeordneter Faktor für die Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals war, verwandelt sich in einen ungeheuren sozialen Mechanismus zur Zentralisation der Kapitale. Die gewachsene Bedeutung von Hedgefonds und Beteiligungsgesellschaften in den letzten Jahren unterstreicht diese Entwicklung. Hinzu kommen die öffentlichen Schulden und die Transaktionen der privaten Haushalte. Die enorme Bedeutung des Geldkapitals und des Kreditwesens spiegelt die Reife der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Schon Marx notierte, dass die „Sucht, diesen als virtuelles Geldkapital sich aufschatzenden Mehrwert …, im Kreditsystem und in den ‚Papierchens’ das Ziel ihres Strebens findet. Das Geldkapital erhält dadurch in einer anderen Form den enormsten Einfluss auf den Verlauf und die gewaltige Entwicklung des kapitalistischen Produktionssystems.“[13]

Die verschiedenen Formen des Kreditwesens und des Geldkapitals prägen den Kapitalismus immer stärker. Der Kredit eröffnet dem einzelnen Kapitalisten eine innerhalb gewisser Schranken absolute Verfügung über fremdes Kapital und fremdes Eigentum und dadurch über fremde Arbeit. Verfügung über gesellschaftliches, nicht eignes Kapital, gibt ihm Verfügung über gesellschaftliche Arbeit. Das Kapital selbst, das man wirklich oder in der Meinung des Publikums besitzt, wird nur noch die Basis zum Kreditüberbau; in der historischen Entwicklung führt dies zu einer Verlagerung auf alle möglichen Arten des bloßen Kapitaleigentums und zu einer immer größeren Rolle des Kredits.

Diese Finanzialisierung ist zwar Ausdruck eines gewandelten ungeheuren sozialen Mechanismus, markiert aber keine eigenständige Entwicklungsstufe in der Gesellschaftsformation, wie sie Marx mit der Manufaktur und der Großen Industrie charakterisiert hatte bzw. wie wir sie mit dem Fordismus des 20. Jahrhunderts kennen. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus ist keine neue Entwicklungsetappe in der Geschichte dieser Gesellschaftsformation; dazu wäre eine entwickeltere gesellschaftliche Betriebsweise vorausgesetzt.

Während der Nachkriegszeit, von 1950 bis 1980, blieb der kumulierte Schuldenstand in den USA, aber auch den entwickelten kapitalistischen Ländern weitgehend stabil um 140 bis 150 Prozent des BIP (vgl. Grafik 1). In der Zeit danach durchlaufen die meisten Ökonomien der industrialisierten Welt eine historisch beispiellose Entwicklung: Das gesamte Volumen an privaten und staatlichen Schulden ist – relativ zur Wirtschaftsleistung – während mehr als 25 Jahren enorm gestiegen. Im Jahr 2007, vor Ausbruch der Finanzkrise, lasteten auf der amerikanischen Wirtschaft Schulden von rund 375 Prozent des BIP. Das war deutlich mehr als zu Beginn der Grossen Depression der 1930er Jahre.

Im kapitalistischen Reproduktionssystem wurden laufend neue Kredit generiert und diese Kredite wiederum erlaubten es den privaten Haushalten und Unternehmen, ihren Konsum (Häuser oder Investitionsprojekte) auf Pump zu finanzieren. Diese Kreditschöpfung trieb das Wirtschaftswachstum an; die letzten Jahrzehnte waren in den entwickelten kapitalistischen Ländern geprägt von robusten Wachstumsraten, kurzen Rezessionen und einer Expansion des Kredits und der Finanzsektoren.

Grafik 1 siehe PDF

Trotz der Expansion des Kredits registrieren wir eine fallende Tendenz der Zinsen, weil infolge der chronischen Überakkumulation reichlich disponibles Geldkapital zu tendenziell niedrigen Zinsen zur Verfügung steht. Dieser Prozess wird durch die Politik der Notenbanken und die finanzielle Globalisierung verstärkt. Die Vermögenspreise steigen, die laufenden Einnahmen ebenfalls. Diese durch den Kredit basierte Tendenz treibt die Märkte immer weiter an; das ausstehende Kreditvolumen steigt und steigt. Schlagende Beispiele für diese Expansion sind zum einen die Kredite für Wertpapierkäufe (Grafik 2) und die wachsende Bedeutung des Sektors der Schattenbanken (Grafik 3), also all jener Finanzinstitute, die nicht den gesellschaftlichen Kontroll- und Steuerungsmodi unterliegen.

Grafik 2 siehe PDF

Es wird bereits ein enormer Anteil des gesamten Kreditvolumens in verschiedenen Ländern in Schattenbanken angelegt (siehe Grafik 3). Auffällig ist die Zunahme in Europa seit der Finanzkrise. Wird der Sektor der Schattenbanken zu sehr eingeschränkt, wird der Kreditfluss in der Wirtschaft behindert. Andererseits entstehen neue Risiken und neue Risikoträger im Finanzsystem, die herkömmliche Banken gefährden.

Systemimmanent stößt die Schuldentragfähigkeit an ihre Grenzen. Das kapitalistische System ist nicht stabil – das von Ökonomen fixierte Gleichgewicht des Systems ist eine Tendenz im Prozess der Entwicklung von einem Ungleichgewicht zum nächsten. Die zentrale Rolle in diesem Prozess spielt der Finanzsektor. Der Kredit entsteht innerhalb des Wertschöpfungsprozess; die langjährige Expansion des Kreditwesens bei gleichzeitig fallenden Zinsen hängt an der Konstellation der Überakkumulation, damit der Ersparnisschwemme (savings glut) – ein Begriff des früheren FED-Chefs Ben Bernanke, wonach weltweit ein Überhang an Ersparnissen im Vergleich zu den Investitionsmöglichkeiten besteht.[14]

Grafik 3 siehe PDF

Stößt diese Expansionsbewegung an Schranken, also etwa bei leichtem Anstieg der Zinsen infolge Überexpansion oder Verknappung des Geldkapitalangebotes, werden die Vermögenspreise – von Immobilien oder Aktien – fallen, die Einnahmenströme der Haushalte und Unternehmen werden dünner, und die Schuldner können ihre Schulden nicht mehr bedienen. Eine Finanzkrise bricht aus – genau wie es in der zweiten Jahreshälfte 2007 in den USA geschehen ist.

Für den Ausbruch der Krise ist kein exogener Schock nötig. Instabilität entsteht durch die Mechanismen innerhalb des Systems, nicht außerhalb. Die kapitalistische Ökonomie ist nicht instabil, weil sie durch den Ölpreis oder Kriege geschockt wird. Sie ist instabil, weil in der Expansion des Kreditwesens Schranken eingeschlossen sind. In beiden Extremen des Ungleichgewichts, im Spekulationsboom wie in der deflationären Schuldenliquidation, entsteht kein Korrektiv: Der Boom nährt sich selbst, genauso wie sich die Wirtschaft in der Depression immer weiter in die Tiefe schraubt. Gestoppt werden kann dieser Prozess nur durch Staatsinterventionen. In der Depression bedeutet das fiskal- und geldpolitische Stützung, um die selbstzerstörerische deflationäre Schuldenliquidation zu stoppen.

Das „Schuldenproblem“

Der Großteil der entwickelten kapitalistischen Länder hatte in den Jahren vor 2007 einen beispiellosen Kreditboom für den Privatsektor zugelassen und befördert. Das Resultat war ein massiver Crash und schlagartig ein Schuldenüberhang sowohl der öffentlichen wie der privaten Akteure. Ausgangspunkt für die explosionsartige Ausweitung der öffentlichen Verschuldung waren die Immobilienblasen (vor allem in den USA). Der Crash, der massive Rückschlag auf den Produktionsprozess und die schlagartige Gefährdung der Bankensysteme führten zu weltweiten staatlichen Interventionen. Damit schnellten die staatlichen Schulden in die Höhe: in den USA seither um 35,7 Prozent des BIP, in Großbritannien um 54 Prozent. Gleichzeitig baute der Privatsektor seine Überschuldung teilweise ab.

Das Schuldenproblem kann nicht auf den Preisverfall auf den Immobilienmärkten oder eine unkontrollierte Ausweitung des öffentlichen Kredits reduziert werden, es kommt darauf an, den Vermittlungszusammenhang zu erfassen. Private und staatliche Schulden sind in vielen kapitalistischen Ländern seit längerem stark gewachsen. Länder wie Frankreich, Großbritannien, Spanien und Südkorea wiesen 2008 Schuldenstände gemessen am BIP auf, die selbst das US-Niveau übertrafen. Hinter dieser Entwicklung standen in erster Linie die privaten Haushalte und ihre steigende Hypothekarverschuldung. Zudem lässt sich aus den langfristigen Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft ein Wachstum des Kredit- und Leihkapitals ableiten, was zum einen zu einer sinkenden Tendenz der Zinsrate führt. Auf der anderen andern Seite ergibt sich daraus eine Aufwärtsbewegung der Boden- und Immobilienpreise, weil eben die Zinsrate einen Einfluss auf die Entwicklung der Immobilienpreise hat.

Wenn wir also eine strukturelle oder chronische Überakkumulation feststellen können, dann schlägt sich dies in einer fallenden Zinsrate nieder und diese liefert für den imaginären Reichtum der Eigentumstitel expansive Impulse. Aus der Logik der Wertbewegung der Eigentumstitel – seien es nun Aktien oder Obligationen – geht in letzter Konsequenz ein Druck auf eine Intensivierung der Ausbeutung und Verstetigung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der mehr oder minder relativ verselbständigten Eigentumstitel hervor. Diese Entwicklung – beschleunigte Kapitalakkumulation, strukturelle oder chronische Überakkumulation mit der Konsequenz eines überreichlichen Angebots von Geldkapital, einer absinkende Zinsrate sowie letztlich einer finanzgetriebenen Akkumulation oder Herrschaft der Finanzmärkte – begründet gleichwohl keinen Übergang in eine neue Formation.

Seit Ausbruch der Großen Krise vor gut sieben Jahren (2007/2008) durchlaufen wir eine Kaskade verschiedener Erscheinungsformen. Zwischen Phasen der Zuspitzung der Widersprüche beruhigen sich die Finanzmärkte und erholt sich der gesellschaftliche Reproduktionsprozess, wenngleich nicht in allen Ländern gleichermaßen. Ausgangspunkt für die Strukturkrise im Unterschied zu einer üblichen Konjunkturkrise war eine drastische Preiskorrektur auf den Immobiliensektoren und in der Folge von notleidenden Hypothekenkrediten in vielen kapitalistischen Ländern, woraus sich eine Bankenkrise und später eine Staatsschulden- und Bankenkrise entwickelte. Begleitet war diese Krisenkaskade in vielen Ländern von Rezessionen und später dann Sorgen über einen neuerlichen Abschwung in den USA sowie eine harte Landung der Wirtschaft in China.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die kapitalistischen Ökonomien angesichts der chronischen Überakkumulation mit einem säkularen Kapitalüberschuss und damit mit einer globalen Flut von „Ersparnissen“ konfrontiert. Mit ihrer expansiven Geldpolitik reproduzieren die Notenbanken die Scherenentwicklung von stagnierender Realökonomie und überreichlicher Geldkapitalakkumulation. In der Reaktion auf den globalen Crash vor sechs Jahren sind sie zu einem Krisenmanagement übergegangen: Angeführt vom FED haben sie mit der expansiven Geldpolitik alles unternommen, um einen Zusammenbruch der Märkte zu verhindern. Aber seither sind sechs Jahre vergangen und nun stellt sich heraus, dass die Notenbanken gleichsam Gefangene ihrer eigenen „Rettungspolitik“ sind.

Die nächsten Jahre werden davon geprägt sein, mit den in der Vergangenheit angehäuften Schuldenbergen umzugehen, d.h. sie zu bereinigen. Privathaushalte werden ihre Schulden abbauen und Staaten ihre Haushalte konsolidieren müssen. Wenn die privaten Konsum- und Investitionsausgaben jedoch sinken, wird die aggregierte Nachfrage niedergedrückt. Entschuldung ist ein langwieriger Prozess, er nimmt nach aller historischen Erfahrung Jahre in Anspruch. Er begann mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 und wir haben noch mehrere Jahre vor uns.

[1] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 4 (Berlin/DDR 1956ff.), S. 465. In den Manuskripten zum Kapital heißt es: „Jeder Betrieb der Warenproduktion wird zugleich Exploitation der Arbeitskraft, aber eine epochemachende Exploitationsweise, welcher in ihrem Fortschritt mit der Organisation und Technik des Arbeitsprozesses die gesamte ökonomische Gesellschaftsstruktur von Grund aus umwälzt und alle frühere Epochen durch die Entwicklung der Produktivität und Erweiterung des Wirkungsfeldes gesellschaftlicher Arbeit unvergleichbar übergipfelt.“ (Marx-Engels-Gesamtausgabe [MEGA] Abt. II; Bd. 11, S. 672)

[2] Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: MEW 23, S. 16.

[3] Die hier entwickelten Thesen sind ausführlicher dargelegt in: Joachim Bischoff, Finanzgetriebener Kapitalismus. Entstehung – Krise – Entwicklungstendenzen. Eine Flugschrift zur Einführung, Hamburg 2014.

[4] Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Reprint Frankfurt a.M. 1969, S. 88f.

[5] Vgl. dazu Wolfgang Streeck, Die Krisen des demokratischen Kapitalismus, in: Lettre International, No 95, 2011; ders., „Die Gesellschaft wird sich das nicht gefallen lassen“, in: NG/FH 4/2012; ders., Auf den Ruinen der Alten Welt. Von der Demokratie zur Marktgesellschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/2012; ders. Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.

[6] Wolfgang Streeck, Die goldenen Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14. September 2014.

[7] Vgl. dazu Pietro Ingrao, Massenbewegung und politische Macht, Hamburg 1979.

[8] Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW 25, S. 268.

[9] John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung des Zinses und des Geldes, Berlin 1936, S. 317.

[10] Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage, Hamburg 2002, S. 106.

[11] Wolfgang Streeck, Die goldenen Jahre (siehe Fußnote 6); vgl. auch Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014; kritisch zu Piketty: Joachim Bischoff/Bernhard Müller, Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9-2014.

[12] Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013, S. 92.

[13] MEGA, Abt. II, Bd. 4.2, S. 504.

[14] Vgl. dazu ausführlicher (auch mit weiteren Literaturverweisen): Joachim Bischoff, Finanzgetriebener Kapitalismus (Fußnote 3); außerdem: Hyman P. Minsky, Instabilität und Kapitalismus, Zürich 2011.

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