Kapitalismus in Osteuropa

Ostdeutschland seit 1990

Vom sozialistischen Industriestaat zur verlängerten Werkbank im Hauptland des europäischen Kapitalismus

von Jörg Roesler
September 2014

Das Wirtschaftssystem in der DDR geriet später in Bewegung als in der Mehrzahl der osteuropäischen Länder. Noch Anfang Oktober 1989 zeigte sich die SED-Führung von dem Bestreben ihrer osteuropäischen Nachbarn Polen, Ungarn und der Sowjetunion, sich von der Zentralplanwirtschaft zu verabschieden, ungeachtet zunehmender Krisenzeichen in der eigenen Ökonomie unbeeindruckt: „Wir machten niemals unsere Ökonomie zu einem einzigen Experimentierfeld“, erklärte Parteichef Erich Honecker und versprach, dabei werde es auch zukünftig bleiben.[1] Mitte Oktober setzte das ZK der SED unter dem Druck anschwellender Protestdemonstrationen gegen Partei und Regierung Honecker ab. Anfang November 1989 musste das gesamte Politbüro der SED zurücktreten. Mitte November versprach Ministerpräsident Hans Modrow (SED) in seiner Regierungserklärung „die Wirtschaft der DDR aus der Krise zu führen“ und kündigte einschneidende Reformen an. Diese müssten „zu einer grundlegenden Erneuerung der sozialistischen Planwirtschaft“ führen. Um höhere wirtschaftliche Effizienz zu erreichen, sollten die Betriebe von jetzt ab „die ökonomischen Wirkungen von Angebot und Nachfrage berücksichtigen können – bei entsprechend flexibler Preisbildung“.[2] Planung ohne Markt solle es also nicht mehr geben: Ungeachtet des verbalen Beharrens auf „einem sozialistischen Wirtschaftssystem“ liefen Modrows Programmvorstellungen auf eine „Mixed Economy“ hinaus, die sich bezüglich der Wirtschaftslenkung nicht nur Lenkung über den Plan und mittels des Marktes berief, sondern auch auf Unternehmen gesellschaftlichen und privaten Eigentums stützen sollte. „Die Übernahme von Kleinbetrieben durch private Unternehmer in der Konsumgüterproduktion, aber nicht nur dort, halten wir für möglich.“ Auch ausländisches Eigentum in Form von Joint Ventures würde es in der DDR geben, versprach Modrows Wirtschaftsministerin Christa Luft. Bundesdeutsche Firmen sollten in die DDR-Wirtschaft einsteigen können, „aber ohne Ausverkauf der DDR-Wirtschaft“.[3]

Schritte von der Zentralplanwirtschaft in Richtung Mixed Economy (November 1989 bis März 1990)

Während die Modrow-Regierung noch vorgab, die DDR politisch fest in der Hand zu haben, hatten sich in den Herbstmonaten 1989 Bürgerbewegungen etabliert, beginnend mit dem „Neuen Forum“. Mit der Bildung der „Runden Tische“ Anfang Dezember 1989 wurde diese „Doppelherrschaft“ für jedermann sichtbar. Die Bürgerbewegungen hatten ihre Tätigkeit zunächst auf die Ebene der Politik beschränkt, entwickelten jedoch auf einer Tagung Ende November auch ihre Vorstellungen für eine Wirtschaftsreform. In einem Diskussionspapier der Gruppe Ökonomie des Neuen Forums wurde verlangt, die staatliche Planung der Volkswirtschaft auf den Staatshaushalt, Banken und Großbetriebe zu beschränken. Ansonsten sollten „Eingriffe in Wirtschaftsprozesse nur vermittelnd über die üblichen finanzpolitischen Instrumentarien einer Staatsbank oder durch Steuer- und Subventionspolitik“ erfolgen. Kleine und mittlere Betriebe waren vollständig zu privatisieren. Bei Unternehmen mit mehr als 300 Beschäftigten sowie bei Banken und Versicherungen sollte der Staat aber die Verfügungsgewalt über 51 Prozent des Kapitals behalten.[4]

Prinzipiell widersprachen sich die Reformvorstellungen der Regierung Modrow und die des Neuen Forums und der meisten Bürgerbewegungen nicht. Auch ihnen ging es um eine Mixed Economy. Insofern war es nicht verwunderlich, dass der „Runde Tisch“ das vom Kabinett Modrow am 5. Februar 1990 vorgelegte Reformkonzept nach ausführlicher Diskussion „als Grundlage weiterer notwendiger Entscheidungen zur Durchführung der Wirtschaftsreform“ positiv einschätzte. Die Regierung Modrow versprach, „dass die vom Runden Tisch unterbreiteten Vorschläge in die weitere Arbeit (am Reformprogramm) einbezogen werden“[5] – woran sie sich dann auch bis zu ihrem Abtritt im März 1990 hielt.

Prinzipiell akzeptiert wurde das von Ministerpräsident Modrow am 17. November 1989 vorgelegte Regierungsprogramm zunächst auch von der Bundesregierung. Das war insofern wichtig, als am 9. November 1989 die Grenze zur BRD seitens der DDR-Behörden bedingungslos geöffnet worden war, wodurch die BRD auf die weitere Entwicklung der DDR starken Einfluss ausüben konnte. Modrow hatte der Bundesregierung in seiner Regierungserklärung angeboten, die in den 80er Jahren vereinbarte „Verantwortungsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen“. Der Bundeskanzler griff in einem Ende November im Bundestag vorgestellten „Zehnpunkteprogramm“ den Vorschlag einer „Vertragsgemeinschaft“ zwischen DDR und BRD auf. Darin mahnte Helmut Kohl „grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems in der DDR“ an. „Die bürokratische Planwirtschaft muss abgebaut werden“. Kohl vertrat die Meinung: „Wirtschaftlichen Aufschwung (in der DDR) kann es nur geben, wenn sich die DDR für westliche Investitionen öffnet, wenn sie marktwirtschaftliche Bedingungen schafft und privatwirtschaftliche Betätigung ermöglicht“. Damit hatte Kohl grundsätzlich die Mixed Economy-Pläne Modrows akzeptiert.[6]

Von dieser Strategie bezüglich der DDR ging die Bundesregierung zwei Monate später vollständig ab. Im Protokoll der Sitzung des Bundeskabinetts vom 6. Februar 1990 wurde erstmals festgehalten: „Die DDR muss den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft zügig und konsequent vollziehen.“ Mit „Sozialer Marktwirtschaft“ war konkret das seit Anfang der 80er Jahre in der Bundesrepublik unter der Kanzlerschaft Kohls installierte neoliberale Wirtschaftssystem gemeint. Das Instrument zur Verwirklichung ihrer Ziele sah die Bundesregierung in einer „Wirtschafts- und Währungsunion“. In Zusammenhang damit forderte sie von der DDR „Herstellung von Märkten, freie Preise, Dominanz von Privateigentum an den Produktionsmitteln, freier Außenhandel“.[7] Die Motive für den abrupten Kurswechsel der Bundesregierung können hier nicht diskutiert werden. Er bewirkte, dass bei den Wahlen vom 17. März 1990 Parteien, die die Transformation zum neoliberalen Kapitalismus der Bundesrepublik befürworteten, gegen jene antraten, die in einer Mixed Economy Bestandteile des DDR-Sozialismus bewahren wollten. Kanzler Kohl versprach der DDR-Bevölkerung „blühende Landschaften“, wenn sie CDU wählen sollten, die anderen Parteien ihren Wählern einen langwierigen und schwierigen Weg aus der Krise. Mit der Entscheidung der Mehrheit der DDR-Bevölkerung für eine die rasche Einheit befürwortenden in der „Allianz für Deutschland“ zusammen gefassten Parteien und gegen die politischen Parteien der Linken und der Bürgerbewegung, war der Weg für die schnellstmögliche Einführung des Kapitalismus in der DDR frei.

Einführung des Kapitalismus mittels Schocktherapie: Juli 1990 bis Dezember 1994

Schlagartig wurde mit dem 1. Juli 1990 in der DDR zusammen mit der Einführung der DM die vollständige Marktöffnung gegenüber der Bundesrepublik und den Ländern der Europäischen Gemeinschaft vollzogen. Innerhalb weniger Wochen verschwand die Mehrzahl der Erzeugnisse ostdeutscher Betriebe vom Binnenmarkt und aus dem (nicht mehr subventionierten) Export. Ein von der letzten DDR-Regierung gefordertes Anpassungskonzept für die Industrie war von der Seite der Bundesregierung verweigert worden. Die ostdeutschen Unternehmen gingen entweder Pleite oder hielten mittels zögerlich gewährter finanzieller Stützung (vorerst) ihre Produktion notdürftig aufrecht.

Die entscheidenden dauerhaften Veränderungen in der Wirtschaft in Richtung kapitalistischer Produktionsverhältnisse vollzogen sich in den (ab Oktober 1990) Bestandteil der Bundesrepublik werdenden „neuen Bundesländern“ (NBL) auf dem Gebiet der Eigentumsverhältnisse. Mit dem 1. Juli 1990 hatte die Treuhandanstalt (THA) als nunmehr reine Privatisierungsbehörde ihre Arbeit aufgenommen. Sie übernahm die Verantwortung für die Transformation von 8.500 Betrieben mit 45.000 Betriebsteilen und 4,1 Mill. Beschäftigten, d. h. für 40 Prozent aller Beschäftigten in der DDR.[8] Als sie Ende Dezember 1994 ihre Tätigkeit nach der Durchsetzung von mehr 15.000 Privatisierungen einstellte, war in den NBL in der Industrie – im beträchtlichen Maße auch in der Landwirtschaft – an Stelle des staatssozialistischen privatkapitalistisches Eigentum getreten. Nur in geringem Maße wurde Staatseigentum (re)kommunalisiert.

Die übergroße Mehrheit (ca. 85 Prozent) der Betriebsverkäufe ging – gemessen an der Zahl der Arbeitsplätze – an Unternehmen in den alten Bundesländern. Seitens der von der Bundesregierung über das Finanzministerium gesteuerten, vom Bundestag und den Landtagen der NBL kaum kontrollierten, THA waren nach Einschätzung des SPD-Politikers Sigmar Gabriel Übernahmekonditionen ausgelobt worden, „die für manche Unternehmer unbestreitbar einen hohen Reiz ausüb(t)en, in die neuen Bundesländer zu wechseln“.[9] Diese günstigen Bedingungen galten nicht für ausländische Unternehmen, die die Bundesregierung eher fernzuhalten trachtete. An sie wurden aus dem Fonds der Staatsbetriebe 1.860 Betriebe bzw. Betriebsteile mit knapp 10 Prozent der Beschäftigten verkauft, überwiegend an Firmen aus den USA, Frankreich und Großbritannien.[10]

Den Gedanken, auch ostdeutschen Managern die Möglichkeit zu geben, sich in „Unternehmer-Eigentümer“ zu verwandeln, hatte die Bundesregierung zunächst nicht ernsthaft erwogen. Erst Ende 1991/Anfang 1992, als die THA nicht mehr umhin konnte, zu akzeptieren, dass für ganze Gruppen von kleinen und mittleren Betrieben Ostdeutschlands von westdeutscher Seite kein Interesse bestand, korrigierte die Bundesregierung ihre Haltung und stimmte der Privatisierung auf dem Wege des Management-Buy-Out (MBO) bzw. Management-Buy-In (MBI) zu. Insgesamt handelte es sich um 2.100 Betriebe. Gemessen an den Beschäftigten betrug deren Anteil allerdings lediglich 6 Prozent.[11] Da die meisten früheren „Wirtschaftskapitäne“ aus Ostdeutschland nicht genügend Startkapital besaßen, waren sie bestrebt, sich mit westdeutschen Mittelstands-Unternehmern gleicher Branche zusammen zu tun, die über Investitionmittel und über ausgebaute Vertriebswege verfügten (MBI). Für die rein ostdeutschen MBO-Betriebe erwiesen sich die materiellen Anforderungen vielfach als zu groß, so dass sie nach wenigen Jahren liquidiert oder an westdeutsche Unternehmen verkauft werden mussten. Für die MBI steht als erfolgreichstes Unternehmen die Sektkellerei Rotkäppchen in Freyburg/Unstrut, für das Schicksal der MBO das aus dem VEB Florena Waldheim hervorgegangene zunächst sehr erfolgreiche Unternehmen Florena Cosmetic GmbH, das 2002 vom Hamburger Beiersdorf-Konzern übernommen wurde. Ähnlich dem Schicksal der MBO war das der erst 1972 verstaatlichten privaten und „halbstaatlichen“ Unternehmen, die die THA 1990/91 reprivatisiert hatte – insgesamt knapp 3.000 kleinere Unternehmen.[12]

Zur Herausbildung einer eigenen spezifischen Kapitalistenklasse ist es in der DDR demnach, wenn überhaupt, nur marginal gekommen. Es dominiert in Ostdeutschland eine kleinteilige Wirtschaftsstruktur. Damit waren auch keine nennenswerten Möglichkeiten zur Vermögensanhäufung durch ostdeutsche Unternehmer gegeben. Anders als in einigen Ländern Osteuropas sind „Oligarchen“ in der Ex-DDR nicht anzutreffen. Der gewerbliche Mittelstand rekrutiert sich aus dem – bis 1989 überwiegend privat gebliebenen bzw. genossenschaftlich arbeitenden – Handwerk sowie aus den nach 1990 weiterhin überwiegend genossenschaftlich arbeitenden Landwirten, auf deren Betriebe die THA in der Regel keinen Zugriff erhalten hatte. Dazu gehört auch ein Teil der ehemals leitenden Angestellten von Ladengeschäften, Gaststätten, Hotels, Apotheken, Buchhandlungen und Kinos, die per Kreditaufnahme in Zusammenhang mit der bereits 1990/91 von der THA durchgeführten „kleinen Privatisierung“ Eigentümer geworden waren.[13]

Diese Kleinteiligkeit gilt selbst für Sachsen, Ostdeutschlands wichtigste Industrieregion. „Große Unternehmen“, musste 2013 in Auswertung der Ergebnisse einer vom sächsischen Landesparlament eingesetzten Untersuchungskommission festgestellt werden, „sind in Sachsen Mangelware, und sie werden es wohl auch bleiben.“[14]

Neben ihrer Kleinteiligkeit charakteristisch wurde im Gefolge der spezifischen Art und Weise der Treuhand-Privatisierung für die NBL auch die rasche Herausbildung einer branchplant economy.

Entstehung einer ostdeutschen branch plant economy

Was ist unter branch plant zu verstehen? Branch plants sind nicht nur, wie die deutsche Bezeichnung „verlängerte Werkbank“ vermuten lässt, durch technologische Asymmetrien gekennzeichnet, wie etwa die Beschränkung der Erzeugung im Filialbetrieb auf Komponenten, die dann im Stammbetrieb zum Endprodukt verarbeitet werden, oder durch die Reduzierung der Unternehmensfunktionen auf die Montage von gelieferten Komponenten zu einem Endprodukt, dessen Vermarktung dann wieder Sache des Stammbetriebes ist. Während die westdeutsche Industrie überwiegend Investitionsgüter herstellt, konstatierte Udo Ludwig vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle, „dominiere in der ostdeutschen Wirtschaft … die Vorleistungsindustrie“. Die Bezeichnung branch plant verweist darüber hinaus auf ökonomische Asymmetrien: Der Filialbetrieb fällt nicht oder nur eingeschränkt Entscheidungen über die Tätigung von Investitionen im Unternehmen, er unterhält keine oder nur marginale Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Das Unternehmen organisiert nicht das Controlling seiner Geschäftstätigkeit, es ist nicht zuständig für das Marketing bzw. für den Vertrieb seines Produkts. Die ökonomischen Asymmetrien ziehen soziale nach sich. Bei „verlängerten Werkbänken“ fehlt mit den genannten Unternehmensfunktionen das höhere, in ausgeprägten Fällen selbst das mittlere Management. Kein Wunder, dass – wie eine 2014 veröffentliche Untersuchung der Personalberatung KornFerry ergab – von den 182 Vorstandsmitgliedern der 30 bundesdeutschen DAX-Unternehmen ganze 4 aus Ostdeutschland.kommen.[15]

Zu einer für die neuen Bundesländer typischen „verlängerte Werkbank“ wurde das Automobilwerk Eisenach, Hersteller des Wartburg. Der VEB wurde von der Treuhand an die Adam Opel AG mit Hauptsitz in Rüsselsheim/Hessen verkauft. Der Wartburg wurde noch kurze Zeit weitergebaut, dann wurde mangels Absatz die Produktion eingestellt. Die Adam Opel AG errichtete am Standort des alten Eisenacher Werks eine neue Produktionsstätte, die Opel Eisenach GmbH, an der ab September 1992 der Opel Corsa gebaut wurde. Der eigentliche Pferdefuß des branch plant in Eisenach offenbart sich erst, wenn man die Beschäftigtenstruktur des Eisenacher Werks mit der in Rüsselsheim vergleicht, wo sich der Stammbetrieb der Adam Opel AG befindet, zugleich European Headquarter von General Motors. In Rüsselsheim waren 1998 von insgesamt 24.600 Arbeitskräften 10.000, d. h. ca. 40 Prozent, in der unmittelbaren Fertigung beschäftigt, in Eisenach mit 2.000 Beschäftigten waren es 1.800, d. h. 90 Prozent. In Verwaltung und Vertrieb arbeiteten in Rüsselsheim 6.000, d. h. ein knappes Viertel, in Eisenach 200, d. h. ein Zehntel der Belegschaft. In der Forschung und Entwicklung waren in Rüsselsheim 8.600 Personen beschäftigt, d. h. mehr als ein Drittel der Beschäftigten (36 Prozent), in Eisenach kein einziger. Das war dort auch nicht sinnvoll, da der in Rüsselsheim entwickelte Corsa produktiv – die 2.000 Beschäftigten der Opel GmbH fertigten 1992 150.000 Autos jährlich – und billig (Osttarife) montiert werden konnte – und zwar von einer hochmotivierten Belegschaft, die man sich unter Einrichtern, Meistern und Ingenieuren des aufgegebenen Wartburgwerks durch ein Assessment-Center hatte auslesen lassen.[16] In der Opel Eisenach GmbH fehlen ganze Glieder der Wertschöpfungskette und zwar die wertvollsten.

Das alles wäre nun nicht mehr als ein lokales Problem, wenn es sich bei Opel Eisenach um einen Einzelfall handeln würde. Die Opel GmbH ist für ostdeutsche Großbetriebe aber geradezu typisch. Rudi Geil, in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Regierungsbeauftragter von Bundeskanzler Kohl für die Wirtschaft in den neuen Ländern, rügte auf einer Tagung der Industrie- und Handelskammer in Chemnitz im März 1998: „Es müsse als ‚Warnsignal’ betrachtet werden, dass nach acht Jahren deutscher Einheit noch immer keines der großen Westunternehmen und keine Bank ihren Hauptsitz in den neuen Ländern habe.“[17] Dabei ist es bis heute geblieben.

An der damals beklagten Situation hat sich bis heute praktisch nichts geändert. Eine Enquete-Kommission des Landtages im Bundesland Sachsen legte im März 2013, nach anderthalbjähriger Analysetätigkeit, ihre Ergebnisse zur Untersuchung der Voraussetzungen zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes aus eigener Kraft vor. Innovationen galten der Kommissionsmehrheit dabei „als zentrale Quellen der wirtschaftlichen Entwicklung und des sektoralen Strukturwandels“. Bei etwa gleich hohem Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am BIP wie im Bundesdurchschnitt waren in Sachsen nur 30 Prozent des Personals von Forschung und Entwicklung in Großbetrieben beschäftigt, im Durchschnitt der Bundesrepublik jedoch 76 Prozent. Nach wie vor, stellte die Kommission fest, „fungieren große Unternehmen hierzulande als verlängerte Werkbänke, die eher nachgelagerte Wertschöpfungsfunktionen innerhalb von Konzernverbünden erfüllen.“[18]

Soziale Konflikte und innere Widersprüche

Parallel zu den Privatisierungen schloss die THA in den Jahren 1990-1994 insgesamt 3.700 Betriebe. Die Zahl der abgewickelten Unternehmen wäre noch größer gewesen, hätte es nicht den Kampf der Belegschaften der gefährdeten Betriebe gegen deren Schließung gegeben. Während es im Frühjahr 1990 kaum Widerstand von Betriebsangehörigen, denen die aus den Bürgerbewegungen hervorgegangenen Parteien (mit Zustimmung der Regierung Modrow) Anteile am Betriebseigentum versprochen hatten, gegen die Übernahme ihrer Betriebe durch die Privatisierungsbehörde Treuhand gab, begannen im Herbst 1990 die Proteste der Belegschaften gegen die drohende Abwicklung der Unternehmen, in denen sie beschäftigt waren. Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste im Frühjahr und Sommer 1993, als die Kumpel des Kaliwerkes Bischofferode aus Protest gegen die von der Treuhand beschlossene Stilllegung das Werk besetzten und unter Tage monatelang einen Hungerstreik gegen die Schließung durchführten.[19] Der Ruf „Bischofferode ist überall!“ wurde von anderen ebenfalls von Schließung bedrohten Betrieben aufgenommen. Es kam zu Protestdemonstrationen und -märschen in den betroffenen Städten und vor dem Gebäude der Treuhandanstalt in Berlin. Sie erreichten eine Intensität, die nach Untersuchungen der Eötvös Loránd-Universität Budapest intensiver waren als in den Vergleichsländern Ungarn, Polen und der Slowakei. Die Proteste veranlassten die THA schließlich, bei der Abwicklung der ostdeutschen Industrie weniger rüde vorzugehen und verstärkt in Gestalt sogenannter Management GmbHs Zwischenlösungen bis zur endgültigen Privatisierung zu finden.[20]

Angesichts der Schließungen und nur weniger Neugründungen verringerte sich die Zahl der Erwerbstätigen in Ostdeutschland beträchtlich, vor allem in der Industrie. Gegenüber 1989 ging in den Jahren der Treuhandprivatisierung die Zahl der „Erwerbspersonen“ in den NBL von 9,6 Mill. auf 7,8 Mill. zurück. Die Anzahl der Arbeitslosen schnellte im gleichen Zeitraum von praktisch Null auf 1,3 Mill. in die Höhe. Die Arbeitslosenziffer wäre noch weit höher gewesen, wenn nicht Hunderttausende auf Arbeitssuche in die alten Länder übergesiedelt wären. 1991 war es fast eine Viertelmillion, 1994 noch 163.000. Netto belief sich der Wegzug 1991 auf 170.000, 1994 noch auf 27.000. Die Zahl der Arbeitslosen in den NBL stieg in den folgenden Jahren – wenn auch langsamer – weiter an und erreichte im Jahre 2004 1,6 Mill. Im Jahre 2012 belief sie sich noch auf 897.000. 1991 betrug die Arbeitslosenquote in den NBL 10,3 Prozent, in den alten Bundesländern 7,3 Prozent. 1993 befürchteten 30 Prozent der weiterhin beschäftigten Erwerbstätigen arbeitslos zu werden.[21] Ab 1998 etwa war die Arbeitslosenquote in den NBL doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. 2012 lag sie in den neuen Bundesländern noch bei 11 Prozent im Vergleich zu 6,9 Prozent in den alten.[22]

Benachteiligt gegenüber ihren westdeutschen Kollegen waren die ostdeutschen Arbeiter und Angestellten auch auf dem Gebiet der Entlohnung. 1991, im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung, lag der Stundenlohn im Osten bei 10,45 DM, im Westen war er mit 21,45 DM etwas mehr als doppelt so hoch. Es gelang im Verlaufe von zwei Jahrzehnten nicht, die Lücke zu schließen. 2012 betrug der Bruttolohn je Arbeitsstunde 30,80 € im Westen und 21,00 € im Osten. Wesentlich war das auf den Druck der hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland zurückzuführen. Eine Rolle spielte aber auch die geringere Tariflohnbindung, die wiederum auf die schwächere Kampfkraft der Gewerkschaften in den NBL zurückzuführen war. Die Tarifbindung lag 2011 im Osten bei 21 Prozent gegenüber 34 Prozent im Westen Deutschlands. Verglichen mit den ABL haben die neuen Länder ihren anfänglichen Charakter einer Billiglohnregion immer noch nicht völlig verloren. Die geringeren Verdienste und die höhere Arbeitslosigkeit wirken sich bis heute auch auf das Haushaltseinkommen in den NBL aus. 1991 betrug das Nettohaushaltseinkommen im Osten 37 Prozent des westdeutschen, 2011 knapp 77 Prozent. Von der 1990 von Kanzler Kohl versprochenen wirtschaftlichen und sozialen Konvergenz Ostdeutschlands kann bis heute kaum die Rede sein.[23]

Dass der am meisten ausgebeutete deutsche Bevölkerungsteil, die Ostdeutschen, dem neoliberalen Profitstreben geringeren Widerstand leisten, dass bei den Bundestagswahlen von 2013 in drei der fünf ostdeutschen Länder (Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen) die Wähler sich zu mehr als 40 Prozent für die CDU, jene Partei, die dem Osten vor zwei Jahrzehnten „blühende Landschaften“ versprach und die sich nicht in der Lage erwies, ihr Versprechen einzuhalten, entschieden und damit das Abstimmungsergebnis für die CDU etwa in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Hessen oder dem Saarland überboten, gehört zu den schwer erklärbaren Widersprüchlichkeiten der so deutlich hinter den Erwartungen der Bevölkerung zurückbleibenden und so sehr im Interesse des Kapitals vorgenommenen ostdeutschen Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus.

Die ostdeutsche Transformation im osteuropäischen Vergleich

In vielen Veröffentlichungen zur osteuropäischen Transformation wird die Ex-DDR ausgeklammert[24], wohl in der Annahme, dass die Entwicklung in Ostdeutschland im Ergebnis des Anschlusses an die Bundesrepublik so anders verlaufen sei, dass ihre Behandlung im Ländervergleich nur störe. Dem ist jedoch nicht so. Wie in ihren ostdeutschen Nachbarländern bestanden für die DDR bei der Abkehr von der Zentralplanwirtschaft die alternativen Wege Schocktherapie oder graduelle Umstellung. Polen galt für einige Jahre als Musterland des ersten, Ungarn des zweiten Weges. Ostdeutschland wurde die Schocktherapie verordnet und dort ungeachtet der durch die Marktöffnung bewirkten und schon im ersten Jahr der Transformation erkennbaren Deindustrialisierung unbeirrter als in allen anderen osteuropäischen Staaten weiter betrieben. Im Ergebnis sank die Industrieproduktion in der DDR 1990 gegenüber 1989 um 27,3 Prozent, in Polen vergleichsweise „nur“ um 24,2 Prozent und in Ungarn um 4,5 Prozent, 1991 sank sie gegenüber 1990 in den NBL um 29,1 Prozent, in Polen um 11,9 Prozent und in Ungarn um 19,1 Prozent.[25] Der in der Ex-DDR durch außerordentliches Tempo und Radikalität der Demontage der Planwirtschaft und des Staatseigentums eingetretene wirtschaftliche Schaden der ersten Jahre ließ sich auch längerfristig nicht ausgleichen – weder in der Industrie noch volkswirtschaftlich. Im Jahre 2000 lag das Niveau des Bruttoinlandsproduktes in der Ex-DDR erst wieder bei 74,2 Prozent der Leistung von 1989, während Ungarn es annähernd wieder erreicht hatte (99,5 Prozent) und Polen es bereits übertraf (121,5 Prozent). Geringer als in Ostdeutschland war die Wiederherstellung des BIP-Niveaus von 1989 zwei Jahrzehnte später nur in Bulgarien und Rumänien sowie in den osteuropäischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. In Russland lag es bei 59,9 Prozent. Die Wachstumsdifferenzen im BIP schlugen sich auch in der Höhe der Arbeitslosigkeit nieder. Diese lag in der Ex-DDR im Jahre 2000 noch bei 18,5 Prozent und damit höher als in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Slowenien (durchschnittlich 13,1 Prozent)[26].

Der langjährige Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hat vorgerechnet, dass, wenn man die Gewinne der alten Bundesländer, die ihnen die Vereinigung brachte – vor allem das gewonnne „Humankapital“ in Gestalt von 1,5 Millionen Zugewanderter aus Ostdeutschland – gegenrechnet, die Milliardenhilfen der Bundesregierung für die neuen Bundesländer im Zeitraum 1990 bis 2013 auf ein Nullsummenspiel hinausliefen. Das IWH hat bereits 2009 darauf hingewiesen, dass die Ex-DDR strukturell nicht in der Lage ist, ernsthaft aufzuholen.[27] Sein Urteil über den „Aufbau Ost“ ist unmissverständlich: „Der Osten (Deutschlands) ist strukturell eine 70-Prozent-Ökonomie des Westens, wächst auf einem Wachstumspfad, der dem der alten DDR von 1950 bis 1970 entspricht. Der Aufbau Ost hat gerade einmal die Stagnationsphase der Honecker-Zeit überwunden. Die Investitionen sind insgesamt zu gering.“[28]

Das im Vergleich zu der Mehrzahl der osteuropäischen Staaten besonders schlechte Abschneiden der Ex-DDR dürfte vor allem an zwei einander bedingenden Faktoren gelegen haben: Erstens: Die NBL verfügten über keinen eigene verantwortliche Regierung wie die osteuropäischen Staaten, die ungeachtet aller Bevormundung durch den IWF wenigstens anlässlich von Wahlen für ihre Entscheidungen verantwortlich gemacht werden konnten und deshalb die zerstörerischen Auswirkungen des Transformationsprozesses einzudämmen suchten. Zweitens: Es bildete sich in Ostdeutschland keine neue Bourgeoisie mit eigenen wirtschaftlichen Interessen heraus, die zwar auch beim Auf- und Ausbau eines Billiglohnlands ihre Profite zu machen trachtete, aber eher Widerstand gegen die Umwandlung ihrer Betriebe in „verlängerte Werkbänke“ leistete, wenn sich das für sie nicht rechnete. Auf die Dauer entgingen aber auch die osteuropäischen Staaten ihrem Schicksal als Peripherieländer des europäischen Kapitalismus nicht, so dass der Unterschied zur Ex-DDR in wirtschaftlicher Hinsicht zumindest in Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei im vergangenen Jahrzehnt deutlich geringer geworden ist.[29] Die Ausrichtung der Wirtschaftsentwicklung auf die Bedürfnisse der Transnationalen Konzerne hat in den Jahren nach dem Eintritt der osteuropäischen Länder in die Europäische Union 2004 bzw. 2007 so sehr zugenommen, dass heute auch für die Staaten Osteuropas bezweifelt werden kann, dass es sich noch um eigenständige Volkswirtschaften handelt. Ein Zeichen ist die Abwanderung vornehmlich jugendlicher und qualifizierter Arbeitskräfte nach Westeuropa. Die wichtigsten Wirtschaftssektoren wie der Bankenbereich oder die Großindustrie befinden sich heute – wie schon seit zweieinhalb Jahrzehnten in den NBL – in den Händen fremder westeuropäischer, oft (west)deutscher Eigentümer.[30]

[1] Erich Honecker: 40 Jahre Deutsche Demokratische Republik, in: Einheit 9/10, 1989, S. 792.

[2] Erklärung von Ministerpräsident Hans Modrow, in: neues deutschland (nd) v. 18.-19.11.1989, S. 3-4.

[3] Interview mit DDR-Wirtschaftsministerin Luft zur Reform, in: Wirtschaftswoche v. 8.12.1989, S. 32.

[4] Neues Forum legt Programm für Wirtschaftsreformen vor, in: Die Welt vom 27.11.1989.

[5] Regierungskonzept zur Wirtschaftsreform in der DDR, Berlin 1990, S. III.

[6] Zehnpunkteprogramm zur schrittweisen Überwindung der Teilung Deutschland und Europas, in: Verhandlungen des Deutsches Bundestages, 11. Wahlperiode, 177. Sitzung vom 28.11.1989, S. 13508-13514.

[7] Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 761-762.

[8] Jörg Roesler, Ostdeutsche Wirtschaft im Umbruch 1970 – 2000, Bonn 2003, S. 65.

[9] Zitiert in: Ebenda, S. 101.

[10] Abschlussstatistik der Treuhandanstalt per 31.12.1994, Berlin 1995, S. 8.

[11] Ebenda, S. 9.

[12] Ebenda, S. 2; nd v. 20.3.2002.

[13] Ebenda, S. 5.

[14] Jochen Mattern, Produktivkraft Wissenschaft, in: nd v. 9. 8. 2013.

[15] Benjamin Damm/Jutta Günther, Konferenzbericht „Analysen und Politik für Ostdeutschland – aus der Forschung des IWH“, in: Wirtschaft im Wandel 2/2011, S. 80, nd v. 10.6. 2014.

[16] Hans Badekow, Opel AG: Eisenach bleibt Automobilstadt in: Horizont 41/1992, S. 114.

[17] Zit. in: Ulrich Blum, Der Einfluss von Führungsfunktionen auf das Regionaleinkommen: eine ökonomische Analyse deutscher Regionen, in: Institut für Wirtschaft Halle: Wirtschaft im Wandel 6/2007, S. 189.

[18] Mattern, a.a.O..

[19] Gerhard Jüttmann, Allgemeines und Privates im Kampf in Bischofferode, in: Ulla Plener (Hrsg.): Die Treuhand – der Widerstand in Betrieben der DDR – die Gewerkschaften (1990-1994), Berlin 2011, S. 85-95.

[20] Vgl. Máté Szabó, Some Lessons of Collective Protests in Central European Post-Communist Countries: Poland, Hungary, Slovakia, and East Germany Between 1989-1993, in: FIT Viadrina (Frankfurter Institut für Transformationsstudien) 8/ 2000, S. 1-17; Stichwort: Management KGs, in: Treuhandanstalt Informationen 18/1993, S. 6-8.

[21] Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2001, S. 483.

[22] Institut für deutsche Wirtschaft Köln, Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland 2013. (Quelle auch aller folgenden Daten, soweit nicht anders angegeben).

[23] Vgl. Rudolf Scheufele/Udo Ludwig, Der lange Weg der Konvergenz, in: Wirtschaft im Wandel 10/2009, S. 397-407.

[24] Vgl. z. B. Werner Weidenfeld (Hrsg.), Demokratie und Marktwirtschaft in Osteuropa. Strategien für Europa, Gütersloh 1995; Wiener Institut für Wirtschaftsvergleiche, The Transition Countries in Early 2000: Improved Outlook for Growth. But Unemployment Is Still Rising, Wien, Juni 2000.

[25] Economic Commission for Europe: Economic Survey of Europe in 1993/1994, New York/Genf 1994, S. 52.

[26] Wiener Institut für Wirtschaftsvergleiche, The Transition Countries, a.a.O., S. 10.

[27] Vgl. 20 Jahre Deutsche Einheit, Teil 1 u. 2, in: Wirtschaft im Wandel. H. 10 u. 11/2009.

[28] Ulrich Blum (Interviewter), Nullsummenspiel Deutsche Einheit, in: nd v. 9.5.2014.

[29] Aron Buzuány, 25 Jahre 1989: Osteuropa zwischen Euphorie und Ernüchterung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24-26/2014, S. 12.

[30] Hannes Hofbauer, Das Geschäft Osterweiterung läuft, in: nd v. 30. 4. 2014.

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