EU-Krise – nach den Europawahlen

Der FN in Frankreich – auf dem Weg zur „Neuen Arbeiterpartei"?

von Sebastian Chwala
September 2014

Der 25. Mai in Frankreich – ein „Aufstand der Armen“?

Als am Abend des 25. Mai feststand, dass der Front national (FN) mit deutlichem Vorsprung die Europawahl gewinnen würde, ließen die Reaktionen der nationalen (und internationalen) Presse nicht lange auf sich warten. So sprach man von einem „Triumph der Marine Le Pen“ und einer „Schockwahl“, die den FN zur „ersten Partei Frankreichs“ gemacht hätte. Auch die Diskussion über die Ursachen folgte bald. So lieferte der Wirtschaftswissenschaftler Nicolas Bouzou mit einem Leitartikel in „Le Monde“-online vom 27. Mai unter dem Titel „Die Revanche der Deklassierten“ einen Versuch, die Beweggründe der Wähler_innen des FN zu erklären. So seien es die Verlierer der „wirtschaftlichen Transformationsprozesse“ der letzten dreißig Jahre, die in den Sog der nationalistischen „Populisten“ geraten wären (Bouzou 2014). Bouzou gab mit dieser Analyse tatsächlich eine Zusammenfassung der im Moment vom wissenschaftlichen Mainstream verfolgten Deutungs-Linie, nach der der politische Aufstieg des FN unmittelbar mit dem Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armut und Ausweglosigkeit einhergehen würde. Manche Beobachter glauben im Front national sogar eine neue sozialdemokratische Partei erblicken zu können, die mit ihrem Diskurs die soziale Frage anspreche, während sich die Rechte und die Linke um die beste marktliberale Ausrichtung der französischen Ökonomie streiten würden (z.B. Crépon 2010: 6).

Tatsächlich lassen die Zahlen, die die Demoskopie im Nachgang der französischen Europawahlen präsentierte, auf den ersten Blick einen besonders hohen Zulauf für den FN aus der „classe populaire“ („Volksklasse“) und vonseiten der Jungen und Prekären erkennen: So lässt sich feststellen, dass 43 Prozent der Stimmen für den FN von „Arbeitern“ kamen, 38 Prozent von Angestellten, 37 Prozent von Arbeitslosen und 30 Prozent von den Geringverdienern. Darüber hinaus scheint die FN-Wählerschaft relativ jung zu sein. So erreichte der FN bei den 30 bis 35jährigen ca. 30 Prozent der Stimmen. Zentrale Gründe für die Wahlentscheidung waren die „Zuwanderungspolitik“ gefolgt von „Kaufkraft“, und „Arbeitslosigkeit“. Ein Großteil der FN-Wähler_innen macht für diese Entwicklung die EU verantwortlich. So sehen 58 Prozent die EU-Mitgliedschaft als problematisch an und fast alle Wähler_innen (93 Prozent) wollen eine „Stärkung der Handlungsfähigkeit Frankreichs“ innerhalb der EU (Ipsos 2014: 4ff).

Allerdings zeigt sich auf den zweiten Blick, dass nicht die Rede davon sein kann, dass der FN massiv an Stimmen dazu gewonnen hätte. Der Erfolg hängt vor allen Dingen mit der hohen Mobilisierungsfähigkeit der „Stammwähler“ des FN zusammen, denn über 90 Prozent der Wähler_innen, die 2012 Marine Le Pen ihre Stimme gegeben hatten, wählten den FN auch bei der Europawahl 2014 wieder. Da die Wahlbeteiligung insgesamt bei nur 42,3 Prozent lag, entsprechen die 24,9 Prozent des FN allerdings „nur“ 10,3 Prozent aller Wahlberechtigten, was einem relativ konstanten Wert seit den 1980er Jahren entspricht.

Ohnehin zeigt sich, dass gerade die Milieus überdurchschnittlich stark zur Wahl gingen, die ohnehin der Rechten zuneigen: Gutverdienende und Rentner_innen (Ipsos 2014: 8f.). Die Angehörigen der „Volksklasse“ dagegen, die „lohnabhängigen Beschäftigten“, beteiligten sich trotz der ihnen unterstellten besonderen Affinität zum FN nur unterdurchschnittlich (36 Prozent). Das gleiche gilt für die Jungwähler_innen, die sich nur zu 27 Prozent der Wahlberechtigten dieser Altersklasse an der Wahl beteiligten (Ipsos 2014: 8). Der hohe prozentuale Anteil des FN hängt also mit der insgesamt niedrigen Wahlbeteiligung bei beiden Gruppen und der unterschiedlichen Mobilisierungsfähigkeit der Rechten und der Linken in diesem Segment zusammen.

Der FN und die Arbeiter – „Ausgrenzungserfahrungen“ als Grund für den „Rechtsruck“?

Dass innerhalb der wissenschaftlichen Debatte der Fokus dennoch auf dem Verhältnis „Volksklasse“ und FN liegt, ist darauf zurückzuführen, dass innerhalb der französischen Sozialwissenschaft eine „Radikalisierung aus der Mitte der Gesellschaft“ nicht ernsthaft diskutiert wird. Verantwortlich dafür sind die Diskussionen sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch der Sozialwissenschaft. Während erstere Frankreich als ein Land mit einer „breiten (liberalen) politischen Mitte“ darstellt, das nur in ökonomischen Krisenzeiten von den sich radikalisierenden „sozialen Absteigern“ „von außen“ bedroht worden wäre (was eine Deckungsgleichheit zwischen „linksaußen“ und „rechtsaußen“ impliziert), betonte die Sozialwissenschaft in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr, dass der klassische Klassenantagonismus verschwunden sei und an seine Stelle eine „Mittelschichtsgesellschaft“ getreten sei, die kein „oben“ und „unten“, sondern nur noch „innen“ und „außen“ kenne (vgl. Bidou-Zachariasen 2003: 35ff). Mit der „neoliberalen Transformation“ seien insbesondere die Angehörigen der „Arbeiterklasse“ ausgeschlossen worden und suchten in ihrer Hilflosigkeit ein Ventil, um dieser Ausgrenzungserfahrung entgegenzuwirken (Castel 2003: 13). Denn „als Angehörige der ‚Volksklassen’ fühlen sie sich (die Arbeiter) nicht der Rechten zugehörig. Sie teilen viel mehr zahlreiche Werte und Einstellungen mit den Wählern der Linken, aber sie scheinen sich auf eine Stimme für den FN festgelegt zu haben aufgrund ihrer Ablehnung der Politischen Klasse, der Fremdenfeindlichkeit, der sozialen Enttäuschung und der Feindseligkeit gegenüber dem Aufbau Europas“ (Perrineau 1997: 218). Die Folge ist laut Perrineau der „Gaucho-Lepenisme“ (Linkslepenismus). Ehemalige Linkswähler_innen hätten sich nach rechts „radikalisiert“. Dieser „Rechtsruck“ habe dafür gesorgt, dass Themen wie Fremdenfeindlichkeit und Angst vor dem Verlust der eigenen Identität auf einmal im Zentrum der politischen Debatte gestanden hätte (Holeindre 2014).

Fairerweise muss man Sozialwissenschaftlern wie Perrineau zugestehen, dass seit den 1990er Jahren tatsächlich ein deutlicher Anstieg der Stimmenanteile des FN vor allen Dingen in den alten Hochburgen der Sozialistischen Partei zu beobachten war. Eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt mit dem Wahlsieg des FN bei den Kommunalwahlen in diesem Frühjahr in der alten Bergbaugemeinde Hénin-Beaumont im Pas-de-Calais, die jüngst vor allem durch ihre hohe Zahl an Erwerbslosen und ihre korrupte Stadtverwaltung für Schlagzahlen sorgte, ihren Höhepunkt erreichte (Crépon 2014).

Die wenigen neuen Arbeitsplätze, die entstanden sind, finden sich vor allem Dingen in der Logistikbranche und einigen neuen Einkaufszentren. Dort aber wo in den Kohleminen noch starke Gewerkschaften „kollektive Solidarität“ unter den Arbeitern herstellten, ist die Arbeitswelt dieser „neuen Arbeiterklasse“ von Vereinzelung und Prekarität geprägt (Crépon 2014). Darf man den Zahlen, die von Statistikern und Soziologen regelmäßig wiederholt werden, glauben, arbeiten aktuell ca. 40 Prozent der französischen Arbeiterklasse unter ähnlichen Bedingungen (Mayer 2012: 155). Die „Fragilität“ der eigenen Lebenskonzepte geht somit einher mit der Angst vor „Globalisierung“ und „Migration“. Das niedrige Lebensalter der Betroffenen, das kein persönliches Erleben des Vichy-Regimes oder der faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit beinhaltet, lässt die „geistige Schutzbarriere“ gegenüber der extremen Rechten sinken und eine Stimme für den FN möglich erscheinen (Holeindre 2014).

Die Fokussierung auf die Wählergruppen aus der „Volksklasse“ hat allerdings zur Generalisierung der These geführt, dass die „soziale Deklassierung“ der zentrale Grund für die Wahlentscheidung zugunsten des Front national sei. Wirklich empirische Studien über die „FN-Wahl“ sind allerdings rar geblieben (vgl. Cartier et al. 2008: 253). Gleichzeitig wird in den vorherrschenden Analysen gerne vergessen , dass rechts wählende Arbeiter kein neues Phänomen in der jüngeren französischen Geschichte sind. So gingen am Beginn der V. Republik 42 Prozent der Arbeiterstimmen an De Gaulle (Mayer 2012: 155). Auch die Entwicklung in den Folgejahren zeigte, dass ein gutes Drittel der Arbeiterklasse bei Wahlen rechten Kandidaten und Parteien zuneigte (Huelin 2013: 17f.). Vieles deutete darauf hin, dass auch der FN sein Wähler_innen aus diesem „rechten Arbeitermilieu“ und nicht aus der Linken rekrutiert hat. So schätzten sich bei Befragungen im Jahr 2011 61 Prozent der FN wählenden Arbeiter als in der „Mitte stehend“ oder „eher Rechts“ ein, während die Arbeiter, die nicht für Marine Le Pen stimmen wollten, sich zu 58 Prozent als „eher links“ einordneten (Mayer 2012: 155). De Gaulejac rechnet diese Arbeiter zu den „Aufstiegsorientierten“, die Techniker, Meister oder leitende Angestellte werden und somit in die „Mittelschicht“ aufsteigen möchten (De Gaulejac 2013: 9).

Tatsächlich lässt sich nach Meinung der beiden Soziologen Michelat und Simon ein „Arbeiterautoritarismus“ nachweisen, der sich durch Intoleranz gegenüber Minderheiten und verkrampfte Nähe zur nationalen Identität auszeichnet. Dieser korreliert, so die Autoren, aber mit einem positiven (und nicht ablehnenden) Bezug zum (ökonomischen) Liberalismusbegriff, was die Entscheidung für die Wahl des FN wesentlich erleichtere (Michelat/Simon 2012: 2). Studien aus einer Zeit, als die politische Linke noch die Arbeiterbewegung zu dominieren schien, bestätigen die Existenz dieses Milieus. So gaben im Jahre 1978 ca. 32 Prozent der befragten Arbeiter an, den Traum zu hegen, ein eigenes kleines Unternehmen zu eröffnen und die „Arbeiterexistenz“ hinter sich zu lassen (Goodliffe 2012: 87).

Gaxies’ FN-Wähler – „Mittelschicht“ statt „Deklassierung“

Die besondere Affinität dieses Milieus für den FN konnte der Politikwissenschaftler Daniel Gaxie in der Mitte der 2000er Jahre in einer Studie, in deren Rahmen über ein Jahrzehnt Interviews mit Sympathisanten des FN geführt wurden, empirisch nachweisen.

So einte die meisten Befragten ihre Zustimmung zu einer „neoliberalen“ Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die meisten äußerten sich negativ über Reglementierungen zuungunsten der Unternehmen, über hohe Steuern und über die „sozialstaatliche“ Umverteilung. Positiv besetzt war das Leitbild des individuellen Erfolges (Gaxie 2006: 236).

Grund dafür war, dass ein Großteil der Befragten direkt oder indirekt in Beziehung zum Kleinunternehmertum stand. Selbst die befragten „Arbeiter“, waren entweder selber zu kleinen Eigentümern aufgestiegen, waren Angestellte des familieneigenen Unternehmens oder hatten verwandtschaftliche Beziehungen zu Kleineigentümern. Zusätzlich waren fast alle Befragten, die sich positiv zum FN äußerten, Immobilienbesitzer (Gaxie 2006: 237). „Die mehr oder weniger ausgeprägte Integration in die Welt der Eigentümer, der unabhängigen Berufe und der Geschäftswelt so wie die objektive und oft subjektive Distanz zu den entgegengesetzten Welten der Arbeitnehmerschaft, der Subalternität, der Armut, der Immigration, der Sozialpolitik, der Lohnkämpfe der Gewerkschaften und der Linken werden nicht zuletzt deshalb aufgewertet, weil sie als Ergebnis persönlicher ‚Leistung’ oder ‚Verdienste’ wahrgenommen werden.“ (Gaxie 2006: 237) Zugleich zeigte sich, dass kaum jemand der Befragten von andauerndem sozialem Abstieg bedroht war, eher im Gegenteil. Viele befanden sich in einer Phase des sozialen Aufstieges, und das oftmals nachdem sie im bisherigen Leben von ökonomischen Schwierigkeiten nicht verschont geblieben waren (Gaxie 2006: 237f.).

Gemeinsam war aber auch vielen FN-Wählern eine familiäre Sozialisation, die sich auszeichnete durch regelmäßigen Kirchenbesuch, den Besuch von Konfessionsschulen oder Kontakt zu Angehörigen bei Polizei oder Militär (Gaxie 2006: 239).

Die „suburbanen“ Räume – regionale Hochburgen des FN

Wie oben erwähnt ist der Anteil der Immobilienbesitzer unter den FN-Wählern stark ausgeprägt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Einfamilienhaussiedlungen an den Rändern der städtischen Agglomerationen – den in Frankreich in Abgrenzung zum „banlieue“ so genannten „suburbanen“ oder periurbanen“ Räumen – die höchsten Stimmenanteile für den FN aufweisen. Diese Einfamilienhaussiedlungen gelten als die „Welt der Mittelschichten“ und der „sozialen Aufsteiger“. Sie sind die Welt derer, die weggezogen sind aus den vom sozialen Wohnungsbau geprägten Stadtvierteln und die auf scharfe Abgrenzung zu den „Sozialen Brennpunkten“ aus sind (Bosc 2008: 103).

Die aufstiegsorientierten Arbeiter_innen aus der „unteren Mittelschicht“ richten ihren Blick gesellschaftlich „nach oben“. Sie orientieren sich hin zu den Angehörigen der freien Berufe, den „Leitungskadern“ der Privatindustrie und den Selbstständigen, die in der eigenen Nachbarschaft wohnen, denen man sich sozial zugehörig fühlt, deren Lebensstandard man sich aber eigentlich nicht leisten kann. Eine Sicht, die mit der Forderung nach einer weiteren „Deregulierung“ des Arbeitsmarktes einhergeht, in der Hoffnung, höhere Haushaltseinkommen erzielen zu können. Demzufolge finden sich diese „kleinen Eigentümer“ auch in den „wirtschaftsliberalen“ Diskursen der Rechten wieder, die die „Leistungswilligen“ gegen die „Empfänger von Sozialleistungen“ auszuspielen suchen. Damit einher geht die Ablehnung von Solidarität für „sozial schwächere“ Gruppen (Cartier et al. 2008: 273).

Die hohen Eintrittskosten in die „Mittelklasse“ führen bei vielen jungen „kleinen Mittleren“ zwischen 30 und 40 somit zu Frustration und dem Gefühl, in einem „Schraubstock“ zu stecken. Die wahrgenommen Distanz „nach oben“ geht einher mit einer weiteren Abgrenzung „nach unten“. Ergebnis ist eine Krise des „positiven Individualismus“ der Mittelschichten, deren ganze Selbstwahrnehmung darauf beruht, durch persönlichen Erfolg zur „Selbstverwirklichung“ und damit „zu sich selbst“ zu gelangen (Pinçon/Pinçon-Charlot 2007: 103). Die Ablehnung, mit „Fremden“ (besonders migrantischen Neuankömmlingen) zusammenzuleben, und die damit verbundene Angst, dass das eigene Quartier zum „Ghetto“ und dem Ort der eigenen Deklassierung wird, sind die gängigsten Ausdrucksformen dieses widersprüchlichen Denkens, dass sowohl Überlegenheitsgefühle als auch Abstiegsängste miteinander vereint. Damit geht einher, dass vorhandene rechte Einstellungen noch weiter nach rechts verschoben werden (Cartier 2008 et al.: 274).

Dass in erster Linie diese (mobilisierbaren) „Milieus“ für die Rechtsentwicklung der letzten Jahre verantwortlich sind, zeigt sich auch, wenn man die alljährlichen Umfragen des „Nationalen Zentrums für Menschenrechte“ betrachtet. Die Werte für Rassismus, Antisemitismus und Homophobie steigen allgemein an, der Anstieg geht aber vor allen Dingen auf „Antwortende“ zurück, die sich auf der Rechts-Links-Skala als in der „Mitte“ oder aber „Rechts“ stehend verorten (Mayer 2013). Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass eine konstante Mehrheit der Sympathisanten der („bürgerlich-republikanischen“) UMP eine „engere Zusammenarbeit“ mit dem Front national wünscht (vgl. France Info 2014).

Das Programm des FN – „nationalliberal“ statt „sozial“

Genau diese Einstellungsmuster bedient der FN in seiner Programmatik. So zeichnet sich die Partei durch einen „Hass auf alles Soziale“ aus, denn die einzige sozialpolitische Maßnahme, die der FN kennt, besteht in der „préférence nationale“, derzufolge soziale Leistungen nur noch Franzosen zukommen sollen. Ansonsten durchzieht eine wirtschaftsliberale gewerkschaftsfeindliche Rhetorik die Programmatik des FN (Hayot 2014: 50).

So wendet sich der FN offen gegen Streiks denn sie „bedrohen die Unternehmen und die Beschäftigung“ und würden „Frankreich ins Chaos stürzen“ (Chapelle 2012: 2). Deshalb soll das Streikrecht eingeschränkt werden, indem die Legitimität jeder einzelnen Arbeitsniederlegung erst durch ein Richterkollegium bestätigt werden muss (VISA 2011: 19).

Weiterhin will der FN „die Unternehmen vom staatlichen Dirigismus“ befreien, indem das Arbeitsrecht „vereinfacht“ wird. Die „Ausgestaltung“ der sozialen Mindestrechte der Beschäftigten soll auf der Branchenebene „verhandelt“ werden. Dort sollen „friedliche, unternehmerfreundliche, berufsständische Organisationen die Interessenvertretungen der Beschäftigten übernehmen. Denn die Gewerkschaften sind „veraltet und nicht repräsentativ“ (VISA 2011: 15f.). Natürlich plädiert der FN auch für eine „kapitalgedeckte Rente“, die Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus (an dessen Stelle sollen individuelle Hilfen zum Erwerb von Eigentum treten) und einer Verschärfung der Repression gegen Erwerbslose (Front National 2011).

Auch dem Öffentlichen Dienst soll es an den Kragen gehen. Ziel ist die „Qualitätssteigerung des öffentlichen Dienstes“ durch „Flexibilisierung und Nicht- Wiederbesetzung von Stellen“ zwecks „Verbesserung der öffentlichen Haushalte“, damit dem „Kleinunternehmertum“, das vor dem Wirken der Globalisierung beschützt werden müsse, die Steuern gesenkt werden können (VISA 2011: 14-15).

Die „Rechte“ vor der Rückkehr an die Macht – Die Sozialisten vor dem „Scherbenhaufen“ ihrer Politik

Nachdem die Sozialisten bei der Europawahl und bei der Kommunalwahl schon zwei katastrophale Wahlniederlagen in Folge einstecken mussten, deutet alles darauf hin, dass 2017 die Rechte wieder in den Élysée-Palast einziehen wird. Angesichts der Korruptionsskandale, von denen die UMP aktuell wieder durchgeschüttelt wird, scheint es sogar möglich, dass der FN die UMP als führende Rechtspartei ablöst und sich Marine Le Pen Chancen auf die Präsidentschaft ausrechnen kann. Tatsächlich steht aber weder hinter der UMP noch dem FN eine gesellschaftliche Mehrheit. Vielmehr ist es so, dass die Sozialisten mit ihrer französischen Variante der deutschen Agendapolitik ihre eigenen Wähler_innen, die 2012 noch im Glauben auf Hollandes Worte, dass das „Finanzkapital sein wirklicher Gegner“ sei, der PS ihre Stimme gegeben hatten (vgl. Biver 2012 a und b), in die „Wahlenthaltung“ getrieben haben.

Die Anhänger des FN und große Teile der UMP-Wählerschaft bleiben dagegen mobilisiert. Zwar bringen die Unterstützer des FN ihr Unbehagen über das Ende der Periode des „regulierten Kapitalismus“ zum Ausdruck. Doch die sozialen Aufsteiger verlangen nicht nach mehr gesellschaftlicher Solidarität. Sie setzten dem modernen Finanzmarktkapitalismus die klassischen frühkapitalistischen Werte des Kleinbürgertums entgegen. Hier dominieren der Glaube an traditionelle Werte (Familie, Kirche) und an harte Arbeit (vgl. Goodliffe 2012: 93ff). Deshalb gelang es auch der gesamten Rechten derart erfolgreich um die Jahreswende 2012/2013 gegen die Legalisierung der Ehe von gleichgeschlechtlichen Partnern zu mobilisieren. Ergebnis ist die irrationale Glorifizierung der Rückkehr des vergangenen Besseren und damit eines rechten (identitären) Nationalismus.

Von all diesen Entwicklungen kann die „Radikale Linke“ verständlicherweise kaum profitieren. Ihr fehlt nicht nur ein kohärentes Gegenprojekt zum Neoliberalismus. Gravierender dürfte sein, dass sie nicht mehr über die wichtigen Säulen für die Stabilisierung und Tradierung des linken Bewusstseins verfügt, wie sie in früheren Jahren mit der Existenz relativ einheitlicher und solidarischer Kollektive „auf unterer Ebene“ (Betrieb, Wohnviertel) und der Existenz starker Organisationen (Gewerkschaften, Parteien) gegeben waren, die im politischen und sozialen Raum die „Arbeiterideen“ geltend machen konnten und von denen sich die Arbeiter vertreten fühlten (Michelat/Simon 2004: 154). Verantwortlich dafür war die „Deindustrialisierung“ der französischen Volkswirtschaft, die mit der Schließung aller Kohleminen, aber auch so gut wie aller Stahlwerke sowie etlicher großer Automobilfabriken einherging. Dies war verbunden mit dem Verlust der „kollektiven Identität“ und damit auch des Klassenbewusstseins, als Folge der Schwächung der Gewerkschaften und Linken Parteien (Beaux/Pialoux 2012: 404).

Folge ist ein „Negativer Individualismus“, der sich unter den Angehörigen der „Klasse“ausbreitet hat. Anstatt von den Arbeiterorganisationen mobilisiert zu werden, vereinzeln und vereinsamen insbesondere die jungen nachrückenden Generationen, unter denen sich ein Gefühl der Perspektivlosigkeit breitgemacht hat (vgl. Pinçon/Pinçon-Charlot 2007: 104 ff).

Ergebnis ist neben der geringen Bereitschaft, sich in linken Organisationen vor Ort zu engagieren, auch eine Wahlenthaltung, die mindestens 10 Prozent über dem nationalen Durschnitt liegt (Gougou 2007: 9).

Literatur

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