Buchbesprechungen

Ernest Mandel

von Andreas Diers zu Jan Willem Stutje
Dezember 2010

Jan Willem Stutje, Rebell zwischen Traum und Tat. Ernest Mandel (1923-1995), VSA: Verlag, Hamburg 2009, 480 S., 39,80 Euro. Manuel Kellner, Gegen Kapitalismus und Bürokratie – zur sozialistischen Strategie bei Ernest Mandel, Neuer ISP-Verlag, Karlsruhe 2009, 464 S., 36,00 Euro.

Ernest Mandel gehörte unstrittig zu den bedeutendsten der marxistischen ÖkonomInnen und SozialwissenschaftlerInnen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonders seine ökonomischen Werke „Marxistische Wirtschaftstheorie“ und „Der Spätkapitalismus“ haben zu Recht eine weltweite Verbreitung in fast allen wichtigen Sprachen gefunden. Dabei ist es sicherlich falsch, Mandel auf einen Ökonomen zu reduzieren, denn sein Oeuvre ist sehr viel breiter gewesen. Gemessen an der Verbreitung seiner Bücher ist er nach dem belgischen Schriftsteller Georges Simenon der erfolgreichste belgische Buchautor des 20. Jahrhunderts.

Man muss sicherlich kein Anhänger des historischen und des heutigen Trotzkismus sein, um sich für das wissenschaftliche und politische Werk von Ernest Mandel, der einer seiner hervorragendsten Protagonisten gewesen ist, zu interessieren. Die wichtigsten größeren Studien der zahlreichen Werke und Schriften Mandels sind seit Mitte der 1960er Jahre dankenswerter Weise auch ins Deutsche übersetzt und in der BRD veröffentlicht worden. Und es hat auch im deutschsprachigen Raum einige Untersuchungen zu Leben und Werk von Ernest Mandel gegeben. Was bislang jedoch gefehlt hat, das ist zum einen eine detaillierte Biografie, die den Raum von Mandels Leben und Denken rekonstruiert und einen Zugang zu seinem Werk eröffnet, sowie zum anderen eine umfassende Analyse der Konzeptionen von Mandel. Beide Lücken werden durch Studien von Jan Willem Stutje und Manuel Kellner zu einem wesentlichen Teil geschlossen.

Jan Willem Stutje ist Historiker am Institut für Biographieforschung an der Universität Groningen. Seine Studie über Mandel ist die erste politische Biografie des bekannten Theoretikers des Trotzkismus und langjährigen Funktionärs der IV. Internationale. Die Originalausgabe ist bereits im Jahr 2007 in Belgien und 2009 in Großbritannien erschienen. Stutje hat als Erster den vollständigen Zugang zum Nachlass von Ernest Mandel gehabt. Außerdem hat er Interviews mit zahlreichen Freunden, Weggefährten und Bekannten Mandels geführt bzw. von ihnen ihre Erinnerungen in schriftlicher Form bekommen. Er beschreibt sein Projekt als eine Übung in kritischer Bewunderung. Angesichts eines zurückgegangenen Interesses am Marxismus will Stutje überprüfen, was seiner Ansicht nach an dem Werk von Mandel noch erhaltenswert und was möglicherweise heute überholt ist. Im Anschluss an die Schilderung des familiären Hintergrunds Mandels gibt Stutje die strenge chronologische Abfolge auf und geht in eher thematischen Abschnitten einerseits auf Mandels Rolle in den politischen Kontroversen und Auseinandersetzungen innerhalb der IV. Internationale, seine Positionierung im Zusammenhang mit trotzkistischen Fraktionierungen sowie auf sein Wirken in der belgischen Arbeiterbewegung ein. Weitere Kapitel analysieren anhand von zentralen Werken Ernest Mandels – wie dessen Studien „Marxistische Wirtschaftstheorie“ und „Der Spätkapitalismus“ – seine theoretischen sowie wissenschaftlichen Tätigkeiten.

Stutje beschreibt Ernest Mandel als eine Persönlichkeit, die sich in die politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit hineinbegibt. In diesen entwickelt Mandel den Marxismus kreativ weiter. Der Autor bemüht sich in seiner Biografie erfolgreich, Mandels Denken weder zu idealisieren noch zu verdammen, er ordnet dieses Denken in die historischen Zusammenhänge ein. Dabei macht Stutje deutlich, wie Mandels Denken einerseits wesentlich durch den bedeutenden Aufschwung der sozialen und politischen Kämpfe während der 1960er und 1970er Jahre geprägt ist, und wie schwer es für Ernest Mandel andererseits ist, das Erlahmen dieser Kämpfe seit den 1980er Jahren persönlich zu akzeptieren und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Das Aufzeigen der komplexen Zusammenhänge dieser Problematik ist die große Stärke dieser Biografie über Mandel: Die Analysen sowie die auf ihnen beruhenden theoretischen Aussagen Ernest Mandels werden als ein Teil der jeweiligen realen historischen Konstellationen begriffen. Dabei lässt Stutje jedoch nie einen Zweifel daran, dass er Mandels grundsätzliche Ablehnung des Stalinismus und der Politik der orthodoxen marxistisch-leninistischen Parteien teilt.

Es gelingt Stutje, durch die Analysen und Darstellungen ihrer jeweiligen Entstehungskontexte den historisch entstandenen Strömungen innerhalb der Linken weitgehend gerecht zu werden – und dabei natürlich vor allem den zahlreichen trotzkistischen Gruppierungen, die zum Teil heute noch immer existieren. Eine unwissenschaftliche „Verdinglichung“ des Werkes Mandels durch dessen Ausnutzen als „Steinbruch“ und im Sinne einer vulgären ‚Zitatologie’ wird auf diese Weise weitgehend unmöglich gemacht.

Nach zutreffender Ansicht von Stutje ist am marxistischen Denken von Ernest Mandel besonders dessen geistige Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit bemerkenswert und aktuell, bei aller Kritik an einzelnen seiner inhaltlichen Ansichten. Mandel sei zwar oft des Dogmatismus beschuldigt worden, dieses jedoch zu Unrecht, soweit Mandel seinen Theorien den Status von Hypothesen zugemessen habe, gibt Stutje zu bedenken. Als eine wesentliche Schwäche Mandels sieht Stutje dessen oft realitätsfernen Optimismus. Dieser unrealistische Optimismus sei beispielsweise deutlich geworden, als Mandel im Jahr 1989 davon ausging, die Proteste in der damaligen DDR würden einem wirklichen Sozialismus den Weg bereiten. Diese Fehleinschätzung führt Stutje besonders darauf zurück, dass sich Ernest Mandel nicht ausreichend mit den gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen auseinandergesetzt habe, die seit den 1980er Jahren zur immer größeren Schwäche der Arbeiterbewegung geführt haben. Stutje kritisiert zudem den Hang Mandels zu einem ökonomistischen Ableitungsdenken. An einigen wenigen Stellen formuliert Stutje seine Beurteilung Ernest Mandels zwar zu parteiisch und zu wenig kritisch, was den Wert der Studie jedoch nur unwesentlich schmälert. Insgesamt liefert die Biografie von Stutje durch die immense Fülle von erstmalig ausgewerteten Dokumenten einen hohen Erkenntnisgewinn für alle, die an dem Leben, an dem wissenschaftlichen und dem politischen Werk von Ernest Mandel interessiert sind. Zutreffend schreibt Elmar Altvater in dem Vorwort: „Das hier vorliegende Buch von Jan Willem Stutje macht diese außergewöhnliche Figur der marxistischen Theorieentwicklung und der Strategiedebatten in der internationalen Arbeiterbewegung lebendig. Man kann von Ernest Mandel lernen, auch eineinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod.“ Auch das interessante Vorwort von Tariq Ali sowie das Nachwort des Autors verdienen Beachtung. Denn sie sind ergiebige Ergänzungen zu der eigentlichen Studie, sie weisen u.a. auch auf die Aktualität des Werkes von Mandel für die Analysen der gegenwärtigen historischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen hin.

Im Jahr 2009 ist auch die Studie von Manuel Kellner als erste Werkbiografie Ernest Mandels erschienen. Diese Untersuchung hat Kellner schon 2006 erfolgreich als Dissertation am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Universität Marburg vorgelegt und verteidigt. Das Werk von Kellner ist dabei eine sinnvolle, ja eigentlich wegen der andersartigen Akzentuierung und der teilweise etwas anderen Ergebnisse notwendige Ergänzung zu der Studie von Stutje.

Kellner ist seinen eigenen Angaben nach ein Schüler von Ernest Mandel – und als solcher habe er erst nach und nach die erforderliche Distanz zu seinem Thema gewinnen können. Die Problematik der notwendigen Distanz wird in der Struktur der Untersuchung deutlich. Denn Kellner stellt zunächst die jeweiligen Positionen von Mandel vor, fasst sie zusammen und erklärt sie. Erst im letzten Kapitel werden diese Positionen grundsätzlich kritisch problematisiert.

Im ersten Kapitel stellt Kellner kurz die wichtigsten Stationen der Biografie von Ernest Mandel unter dem Aspekt des Verhältnisses von „Theorie und Praxis“ dar. Anschließend thematisiert der Autor die wichtigsten Beiträge von Mandel zur Kritik des zeitgenössischen Kapitalismus, nämlich seine historisch-genetische Methode der Analyse, die Krisentheorien, die Theorie des Spätkapitalismus sowie die der langen Wellen in der Ökonomie. Dabei arbeitet Kellner die wesentlichen Aspekte heraus. Gleichzeitig zeigt er, dass diese Analysen Mandels keine bloß abstrakten und akademischen Übungen gewesen sind, sondern unmittelbar mit seinem Kampf als ein antikapitalistischer Denker und Aktivist verbunden gewesen sind.

Im Abschnitt „Emanzipation und gesellschaftliche Katastrophe“ problematisiert Kellner die Untersuchungen von Ernest Mandel zu Trotzkis Faschismustheorie und seine Schriften über den Holocaust. Kellner macht hier deutlich, dass Mandels Analysen zu Trotzkis Faschismustheorie sicherlich zu seinen reichhaltigsten und interessantesten Beiträgen gehören, während seine Schriften über den Holocaust durchaus Probleme aufwerfen. Kellner kritisiert, dass sich Mandel schwer damit getan habe, der Singularität des Holocaust gerecht zu werden. Gelegentlich habe Mandel eine Tendenz zu einer gewissen Relativierung des Holocausts gehabt, den er als eines der zahllosen Verbrechen von Imperialismus und Kolonialismus angesehen habe.

Das letzte Kapitel der Untersuchung Wertung und Ausblick“ ist vor allem deshalb interessant, weil Kellner sich in ihm sehr kritisch mit dem Werk Mandels auseinandersetzt. Seine Kritikpunkte betreffen dabei u.a. den nicht unproblematischen Begriff des „bürokratisierten Arbeiterstaats“, welchen Mandel nicht nur auf die UdSSR sowie die anderen ‚realsozialistischen’ Länder angewendet habe, sondern vielmehr auch auf das Kambodscha unter der Diktatur der Roten Khmer. Inwieweit der grundlegende Begriff des „bürokratisierten“ bzw. des „bürokratischen Arbeiterstaats“ eine wissenschaftlich brauchbare Begrifflichkeit oder nur eine politische Kennzeichnung ist, wird von Kellner nicht abschließend geklärt und bedarf deshalb weiterer Analysen. Weitere Kritikpunkte Kellners beziehen sich auf den bereits erwähnten oftmals unbegründeten Optimismus Mandels.

Sowohl die Studie von Stutje als auch die Analyse von Kellner regen zum Nachdenken über eine sozialistische Linke an, die sich sowohl politisch als auch wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit befindet. Die zwei Werke machen dabei mehr als deutlich, dass es in diesem Zusammenhang weder in wissenschaftlicher noch in politischer Hinsicht mit einem bloßen „Zurück zu Marx“ getan ist. Beide Untersuchungen können dazu dienen, sich den großen Herausforderungen einer aktuellen kritischen Theorie auf eine undogmatische und kreative Art zu nähern, so wie Ernest Mandel sie vorgelebt hat

In seinem letzten veröffentlichten Text, einer Auseinandersetzung mit der nordamerikanischen Gruppe Spartacists, räumt Mandel ein, dass es im Marxismus zwei bedeutende Lücken gibt: die ökologische Frage und die Unterdrückung der Frauen. Es ist zum einen zu hoffen, dass die beiden rezensierten Werke dazu beitragen werden, sich mit diesen auch gegenwärtig noch bestehenden Lücken – aber auch mit den vielen anderen vorhandenen Lücken und den zahlreichen bis heute nur mehr oder weniger befriedigend beantworteten, oder sogar gänzlich unbeantworteten Fragestellungen – im Sinne eines lebendigen, kreativen und undogmatischen Marxismus zu beschäftigen. Und zum anderen ist zu hoffen, dass sie auch zu weiteren politisch-biografischen Studien anregen, wie z.B. über Roman Rosdolsky und dessen Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des „Kapitals“ sowie dessen Analyse hinsichtlich der Problematik der „nationalen Frage“ bei Karl Marx und Friedrich Engels.

Andreas Diers